Utopolis - Schauspiel Köln
Glaube, Geld, Verkehr, Gewerke
von Martin Krumbholz
Köln, 15. September 2021. Die wundersame Menschenvermehrung haben die Rimini-Leute natürlich exzellent eingefädelt. Anfangs in der Artothek im Schatten des Kölner Doms waren wir nur zu viert. Eine Artothek ist übrigens ein Institut, in dem man Kunstwerke ausleihen kann, wie Bücher in einer Bibliothek, es soll sie in Köln schon seit Jahrzehnten geben. Andere sind in anderen Instituten gestartet, insgesamt 48 an der Zahl. Man bekam keine Kopfhörer (gottseidank). Vielmehr wurde einem von uns eine kleine orangefarbene Box ausgehändigt, die man sich umhängen konnte und die während des Parcours mit uns sprach (anfangs wurden wir sehr höflich gefragt, ob es okay sei, wenn man uns von jetzt an duzte). Und dann ging's los. ("Los geht's" ist eine Lieblingsfloskel von Rimini-Protokoll.)
Utopie: Mittagsschlaf
Es geht zum Heumarkt. Die ganze Kölner Innenstadt besteht aus Märkten, es muss im Mittelalter hier marktmäßig ausgesprochen lebhaft zugegangen sein. Wir begeben uns auf die Suche nach der Stadt der Zukunft und da werden wir bereits in der Nähe des Heumarkts fündig. Es gibt dort eine Geister-U-Bahnstation in der Größe des Kölner Doms. In Köln ist ja vor langer, langer Zeit ein Archiv eingestürzt, manche Kölner reden heute noch davon. Damit hängt es irgendwie zusammen (wir sind ein bisschen zu spät gekommen), dass diese Station, die viel vom Verkehr von der Straße genommen hätte, noch nicht in Betrieb genommen werden konnte und jetzt praktisch eine Ruine ist. Man sieht riesige Rolltreppen, tote Gleise, einen gigantischen Pavillon. Wie könnte eine Stadt ohne Autos aussehen? Wäre es denkbar, dass Röhren durch die Luft gebaut werden, in denen man sich fortbewegt?
"Wenn etwas 40 Jahre dauert, wird es vom Ende her gedacht", sagt jemand. Wir werden gebeten, unsere eigenen Utopien an eine Telefonnummer zu schicken. "In dieser Stadt entsteht ein Platz mit ein- und ausfahrbaren Betten zum Dösen und Tagträumen", schlägt jemand vor.
Wundersame Menschenvermehrung
Dann geht es im Tross weiter zur Kreissparkasse. Wir sind zwei Dresdener Schüler, ein Bonner Schauspieler und ich. "Lasst uns im Takt der Musik gehen", sagt die Box. Ironischerweise passieren wir eben die Schauspielhaus-Ruine, als uns die Box auffordert, einen Blick in die Auslagen der Schaufenster zu werfen. "Was sehr ihr dort? Ist es denkbar, dass alle das Gleiche tragen? Diskutiert darüber!" Dann hätte man ja gar nichts Individuelles mehr, um sich auszudrücken, meint jemand in unserer Nähe. Inzwischen sind einige andere Trosse zu unserem kleinen Tross gestoßen. In der Kreissparkasse müssen anscheinend ein paar Angestellte wegen der komischen Theaterleute Überstunden machen, aber sie sagen, das mache ihnen nichts aus. Wir sind in einer großen Halle. In den Gängen fällt eine Menge an Kunst an den Wänden auf. Wir hören die Stimme von Margot Gödrös. Die Wände sind holzvertäfelt. In den Separees ringsum entstehen Finanzpläne. Brauchen wir das Geld? Wieso? Stellt euch vor, die Menschen würden alle zehn Jahre ihre Häuser tauschen, das Los entscheidet. Fändet ihr das gut?
Wieder draußen, sehen wir in den Restaurants dicht an dicht Menschen sitzen und essen, höchstwahrscheinlich für Geld. Es geht zur Kunststation St. Peter. Sowas gibt es nur in Köln. St. Peter war mal eine Jesuitenkirche, ist jetzt aber ein Museum. Eine Stimme sagt, die zentrale Idee dieses Orts sei die Leere. Wir sollen uns auf Liegen legen und ein Gesangsbuch aufschlagen. Wir hören unterschiedliche Thesen über den Glauben, wenn wir zustimmen, sollen wir jeweils das Buch zuklappen. Merkwürdig, dass selbst zu den sonderbarsten Behauptungen so viel geklappt wird. Sanfte Stimmen dringen auf uns ein, wir werden schläfrig. Manchen liegt das Spirituelle, anderen nicht. Dann geht es weiter zur Handwerkskammer.
Ein Tisch ist ein Tisch ist ein Tisch ist ein –
Inzwischen sind wir eine größere Menschenmenge, die alle in die gleiche Richtung gehen. Warum rennen alle so? Das ist doch kein Wettrennen! Auch meine drei Gefährten scheinen es eilig zu haben, die Handwerkskammer zu finden. Ist Ehrgeiz (oder Geiz) eine Sache, die in einer Utopie noch Platz hätte? Was hätte Thomas Morus dazu gesagt? Auch in der Handwerkskammer gibt es einen großen Saal. Fast könnte man meinen, Rimini Protokoll hätte die Lokalitäten von der Größe der Säle abhängig gemacht. Die Leute von der Handwerkskammer sind stolz auf das Handwerk, das spürt man. Aber wie sieht es in Zukunft damit aus?
"Ein Tisch ist ein Tisch ist ein Tisch", sagt jemand, "und das wird immer so bleiben." Aber einige Berufe sind nicht so zukunftsfähig, Maßschneider zum Beispiel. Oder Kfz-Mechaniker, wenn alle elektrisch fahren. Ein Dachdecker wird nicht auf Drohnen verzichten, aber die Wand wird noch ganz normal gestrichen. Auf jeden Fall sei ein Zugewinn an Lebensqualität zu erwarten. Die Handwerker sind ziemlich sympathisch, finden wir.
Verkehr, Geld, Glaube, Gewerke, das war Rimini Protokolls utopischer Parcours. Am Ende versammeln sich sämtliche Trosse auf dem Dach eines Parkhauses. Nach drei Stunden hat sich ein fast utopisches Gefühl von Gemeinschaft und Solidarität eingestellt. Im Hintergrund leuchtet der Dom.
Utopolis
von Rimini Protokoll
Konzept/Text/Regie: Helgard Haug, Stefan Kaegi, Daniel Wetzel, Dramaturgie: Katja Hagedorn, Komposition: Hary Ovington, Design: The Office of Craig Oldham.
Premiere am 15. September 2021
Dauer: 3 Stunden, keine Pause
www.schauspielkoeln.de
Kritikenrundschau
Christian Bos vom Kölner Stadt-Anzeiger (17.9.2021) bemerkt am Ende seiner Tour: "Vielleicht sind die Utopien gar nicht so interessant wie die Prozesse, die zu ihnen führen. Vielleicht war der Weg, den wir gemeinsam - irrend, lachend, neugierig aufeinander - gegangen sind, die Utopie. Auf dem Papier klingt das fast wie eine Binse, man muss es erlebt haben. Es lohnt sich."
"Auf die mächtige Bugwelle, die dieser zuvor in Manchester und St. Petersburg gezeigte Stadtspaziergang vorab produzierte, folgte am Ende des Tages nur ein laues Plätschern. Gewiss, man hört viel Interessantes (wenn es nicht in Klangcollagen ersäuft wird), aber nichts Verblüffendes. Und auch die Ankündigung, aus den SMS, die die Teilnehmenden an eine Nummer schicken sollten, entstehe ein großer gemeinsamer Text, entpuppte sich als Bluff", schreibt Axel Hill von der Kölnischen Rundschau (17.9.2021). Er findet die Arbeit "letztlich banal" und außerdem viel zu lang.
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