Das Leben und seine Schönheit

von Georg Kasch

München, 18. September 2021. Die spanische Grippe also. Da sitzt Julia Gräfner auf einem Stuhl an der Rampe und erzählt als Klara Effinger, wie Fritz krank wird. Fritz, ihr Sohn, heil der Weltkriegshölle entronnen. Stark, voller Leben. Plötzlich Fieber, Lungenentzündung, Tod. Gräfner presst sich die Sätze ab, stemmt sie stakkatohaft hin, als ließen sie sich so besser ertragen. Die Zeit, die an diesem Abend sonst meist so dynamisch voranschreitet, steht still. Dann nimmt Gräfner ihren Stuhl, geht schräg über die Bühne und knallt ihn gegen die Wand.

Bis die Nazis kommen

Es sind schlichte Mittel, mit denen Jan Bosse an den Münchner Kammerspielen Gabriele Tergits Roman "Effingers" inszeniert. Dennoch wird ein großer Abend daraus. Das liegt zum einen am Stoff: Tergits 1951 gekürzt veröffentlichter Roman, jetzt endlich (und in voller Länge) wiederentdeckt, erzählt die Geschichte einer großbürgerlichen jüdischen Familie in Berlin zwischen 1878 und 1948.

effingers 1 560 Katharina Marie Schubert C Armin SmailovicKatharina Marie Schubert vor dem Glaskasten, auf dem Effingers die eigene Familien-Chronik datieren © Armin Smailovic

Da sind die grundverschiedenen Effinger-Brüder Karl und Paul, die in die Bankiersfamilie Oppner-Goldschmidt einheiraten und eine Motorenfirma gründen. Da sind deren Kinder, die den eigenen Wohlstand verachten und mit sozialen Ideen liebäugeln. Da ist der alte Onkel Waldemar, ein Liberaler und Humanist, der zwar weder eine Professur bekommt noch die Liebe seines Lebens, aber immer Rat weiß. Bis die Nazis kommen.

Mit wenigen Pinselstrichen

Das Wunderbare an Tergits Roman ist, dass sie auf 900 Seiten mit nur wenigen Strichen und einer neusachlich federnden Sprache Welten erschafft und Charaktere, die man lieben muss. Alle Entwicklungen der Zeit, die technischen, moralischen, geistigen, verhandelt sie durch ihre Figuren, oft in Dialogen, die wie gemacht wirken für die Bühne.

Bosse folgt in seiner – mit Viola Hasselberg erstellten – Fassung der Handlung, streicht Charaktere und Episoden, erhält aber den Geist der Vorlage. So sind die luxuriösen Speisefolgen bei den großen familiären Zusammenkünften auch hier ein Running Gag, der bitter endet, wenn während des Ersten Weltkriegs kaum mehr einfachste Lebensmittel aufzutreiben sind.

effingers 3 560 Katharina Bach C Armin SmailovicKatharina Bach als "halb ätherische, halb esoterische" Sofie © Armin Smailovic
Szenisch konzentriert sich Bosse auf das Nötigste. Stéphane Laimé hat hinten eine Art Glaskasten gebaut, halb Fotorahmen, halb Projektionsfläche für historische Bilder, auf die die Protagonisten auch Jahreszahlen und Stammbäume schreiben, damit niemand die Übersicht verliert. Dazu gibt's Stühle aus drei Epochen, eine Badewanne, das hübsche Blue-Screen-Livevideo einer Autofahrt.

Am Dominantesten wirken Kathrin Plaths prachtvolle Kostüme, die ihre Träger:innen charakterisieren, schnelle Rollenwechsel erleichtern, vor allem aber vom Vergehen der Zeit erzählen: Cul de Paris und Frack werden von Rock und Jackett, noch später von Bubikopf und hochgeschnittenem Kleid abgelöst. Material, das das zwölfköpfige Ensemble hinreißend in pralles Spiel verwandelt. Bei aller nötigen Zuspitzung und Verkürzung scheinen hier echte Menschen auf, angetrieben von Arno Kraehahns pulsierender Musik. Johanna Eiworth wahrt als Selma Oppner spitzzüngig Haltung. Edmund Telgenkämper tigert als Bankier Emanuel Oppner wie ein alter Löwe herum. effingers 2 560 Lucy wilke André Jung C Armin SmailovicLucy Wilke (Susanna) und André Jung (Waldemar) © Armin Smailovic

Hinreißend Katharina Bachs großäugige, halb ätherische, halb esoterische Sofie, die das mit der Liebe missversteht. Aber auch André Benndorffs Revoluzzer, André Jungs nobler Waldemar, Anna Gesa-Raija Lappes amüsierwillige Annette, Bekim Latifi und Christian Löber also so grundverschiedene Unternehmer-Brüder, die zweifelnde Lotte der Katharina Marie Schubert, Lucy Wilkes kokette Susanna – man kann sich kaum sattsehen an dieser Spielfreude, den Nuancen, der feinen Ironie.

Und man weiß ja, wie's ausgeht

Gelegentlich grenzt es an Boulevard und Klamauk, etwa wenn die Familie ihre Angelegenheiten beim Ausritt im Tiergarten klärt und dafür alle auf der Stelle traben. Oder wenn sich Bekim Latifi zirzensisch mit den Stühlen anlegt. Aber im Ganzen stimmt der Rhythmus, der sich ebenso beschleunigt wie bei Tergit, um gelegentliche Vollbremsungen einzulegen. Dann tritt jemand an die Rampe, das Licht im Saal geht an, und die Figuren entwickeln zentrale Gedanken. Zu Klasse und Privilegien zum Beispiel.

Gegen Ende trifft Marianne, Tochter von Karl und Annette, auf ihre Jugendliebe Martin Schröder, der jetzt antisemitischen Verschwörungstheorien anhängt. Wenn Zeynep Bozbays Marianne sich zunehmend unwohl fühlt im Gespräch mit Telgenkämpers Schröder, ihr Körper verkrampft, ihr Gesicht trotz aller Versuche, die Form zu wahren, zum Ein- und Widerspruch wird, dann überträgt sich dieses Unbehagen unmittelbar ins Parkett.

Zumal man ja weiß, wie es ausgeht. Bosse blendet vor der Shoa ab, gibt stattdessen Waldemar, der alles den Bach runtergehen sieht und die Vernichtung nicht überleben wird, die letzten Worte: "Auf das Leben – und seine Schönheit."

 

Effingers
Nach dem Roman von Gabriele Tergit in einer Fassung von Viola Hasselberg und Jan Bosse
Uraufführung
Regie: Jan Bosse, Bühne: Stéphane Laimé, Kostüme: Kathrin Plath, Musik: Arno Kraehahn, Licht: Stephan Mariani, Videodesign: Ruth Stofer, Dramaturgie: Viola Hasselberg, Mitarbeit Dramaturgie: Joel Franz, Regieassistenz: Joël-Conrad Hieronymus, Bühnenbildassistenz: Hannah Wolf, Kostümassistenz: Mirjam Pleines, Melina Poppe, Inspizienz: Hanno Nehring, Soufflage: Sandra Petermann, Technische Produktionsleitung: Rainer Bernt, Künstlerische Produktionsleitung: Christina Schabert, Gina Penzkofer, Dramaturgiehospitanz: Sonja Bertold, Mira Sökefeld.
Mit: Katharina Bach, André Benndorff, Zeynep Bozbay, Johanna Eiworth, Julia Gräfner, André Jung, Anna Gesa-Raija Lappe, Bekim Latifi, Christian Löber, Katharina Marie Schubert, Edmund Telgenkämper, Lucy Wilke.
Premiere am 18. September 2021
Dauer: 3 Stunden 45 Minuten, eine Pause

www.muenchner-kammerspiele.de

Kritikenrundschau

Jan Bosse habe als Regisseur eines verspielten, textbasierten, menschennahen Erzähltheaters Karriere gemacht. Dies seien "alles Qualitäten, die er auch bei den 'Effingers' einbringt, wenn auch nicht in üppiger szenischer Fülle, sondern auf weitgehend karger Bühne, schlicht, reduziert, ganz auf die Figuren fokussiert", schreibt Christine Dössel von der Süddeutschen Zeitung (20.09.2021). "Man merkt dem linear erzählten Abend zunehmend seine Epik und chronistenpflichtschuldige Abhandlung von Kapiteln an – man muss ja durchkommen, und die Frauenbewegung darf nicht zu kurz kommen –, es gibt keine dramaturgische Zuspitzung, außer der des Weltgeschehens, keinen dramatischen Konflikt." Jedoch: Man werde gut unterhalten. "Es gibt lustige Szenen und hinreißende Kabinettstückchen." Die Spieler machten ihre Sache "wirklich hervorragend und künden von einem guten Ensemblegeist".

Jan Bosse und Chefdramaturgin Viola Hasselberg sei es gelungen, eine schlüssige, auch unterhaltsame Essenz des Romans zu destillieren, schreibt Michael Schleicher vom Merkur (20.9.2021). Manches wirke absurd, verzopft und kurios, daher sei vor allem die erste Hälfte von reichlich Komik geprägt. "Dass Fragen von gesellschaftlicher Stellung, öffentlichem Ansehen und standesgemäßer Verheiratungspolitik zu Zeiten des Kaiserreichs sehr oft sehr bitter ernst waren, vergisst die Inszenierung im dynamischen Klamauk mitunter." Trotzdem gelinge es Bosse, die Charaktere der Mischpoke, ihre Sorgen, Nöte, Wünsche und Träume vorzustellen. In der zweiten Hälfte gebe die Regie dann auch den leisen, nachdenklichen Momenten mehr Raum. "'Effingers' lebt von der starken Leistung des Ensembles."

Der in historischem Kostüm- und Fotomaterial schwelgende Abend sei nie vordergründig um Aktualisierung bemüht ist, spreche aber dennoch auf vielen verschiedenen Ebenen mit uns, schreibt Sabine Leucht in der taz (19.9.2021). "Bis zur Pause ist das ein süffiger Blockbuster, der sich hübsche Albernheiten erlaubt." Vor allem die Frauen begeisterten. "(W)as für tolle Individualistinnen hier zugange sind!" Nach der Pause zersplittere der Abend in Kabinettstückchen und Monologe und die aufgeräumte Bühne fülle sich mit Technik, Stühlen und mehr und mehr Porträtaufnahmen statt Stadt- und Gruppenbildern. "Die szenische Lösung entspricht den Wirren der Zeit. Die preußische Ordnung, der Glaube an Fleiß, Wachstum und standesgemäße Heiraten weicht einer Vielzahl an Möglichkeiten – gerade für die Frauen, an die Bosse hier immer wieder heranzoomt. Wie viel Freiheit sie sich in relativ kurzer Zeit erobern konnten, bis die Nazis auch diese plattmachten: Das ist ein Eindruck, der bleibt!"

"Hier geht ein Ensemble voll ins Spiel, agiert Dialoge und verteilte Erzählpassagen aus – und lässt keinen Moment der Komik aus der Romanvorlage aus“, bemerkt Stephanie Metzger vom Bayerischen Rundfunk (19.9.2021). "So spielt sich im ersten Teil des Abends das Ensemble hinein in eine Mischung aus familiärer Skurrilität und großbürgerlicher Wärme – eine Wärme, wie sie sich Emanuel Oppner einmal als Atmosphäre für die neu erworbene Villa wünscht. Und eine beängstigend harmlose Behaglichkeit, die sich auch im Zuschauerraum breitmacht. Gerne goutiert, weil äußerst unterhaltsam, aber gestört – wenn überhaupt – nur, wenn das Publikum bei erleuchtetem Saallicht angesprochen wird und die politisch brisanten Dimensionen des Romans von Gabriele Tergit hervorstechen." Und zum zweiten Teil: "Wo die Frauenfiguren an Profil gewinnen, weichen in der Aufführung Komik und Sarkasmus einer schleppenden Ernsthaftigkeit, in der manche Szenen in Thesen-Dramatik abrutschen. Statt Entschlackung oder spielerische Brechung: Zerfasern der Stilmittel, klassisches Rollenspiel, zahme Auf- und Abtritte zur Abhandlung dessen, was der Roman noch zu verhandeln aufgibt."

Kommentare  
Effingers, München: Pandemie-Bericht ist Highlight
Mehr als drei Stunden dauert dieser Abend bereits, als es im Publikum ganz still wird. Julia Gräfners sachliche und doch einfühlsame Schilderung der Spanischen Grippe ist einer dieser Theatermomente, in denen man eine Stecknadel fallen hören kann. Dieser kurze Monolog von Klara Effinger über den Tod ihres Sohnes Fritz hallt durch den pandemiebedingt spärlich besetzten Raum. Während in Hamburg und Berlin häufig noch vor vollem, zum Teil sogar maskenlosem Haus gespielt werden darf, profilierte sich Bayerns Ministerpräsident Markus Söder mal wieder als Chef des „Team Vorsicht“ und lässt nur noch 25 % Auslastung des Saals zu.

In diesem Moment, in dem der Bericht über eine Pandemie auf ein verunsichertes, seit zwei Jahren stressgeplagtes Publikum trifft, kommt Jan Bosses Inszenierung für ein paar Momente zur Ruhe. Regelrecht aufgekratzt springt der Abend ansonsten von Albernheit zu Slapsticknummer und rattert in enormem Tempo die wichtigsten Stationen des 900 Seiten dicken Wälzers der Gerichtsreporterin Gabriele Tergit, der 2019 wiederentdeckt wurde, streng chronologisch herunter.

Viel Ratlosigkeit spricht aus den häufigen Szenen, in denen wieder mal ein Stuhl kaputtgetreten werden muss. Der gefragte Regisseur, der zuletzt auf dem Vorplatz des Deutschen Theaters Berlin aus Peter Lichts seichter Molière-Überschreibung einen erstaunlich unterhaltsamen Sommer-Theater-Abend zauberte, scheitert daran, die jüdische Familiensaga „Effingers“ überzeugend auf die Bühne zu bringen. Kathrin Plath durfte in opulenten Kaiserreich-Kostümen schwelgen, auch ein hochkarätiges Ensemble war zur Spielzeiteröffnung der Münchner Kammerspiele versammelt, doch der Abend verzettelt sich darin, eine Strichfassung des Romans auf karger Bühne von Stéphane Laimé nachzuerzählen.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2021/12/28/effingers-munchner-kammerspiele-theater-kritik/
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