Fortune - Theater Osnabrück
Teufelspakt für die Gegenwart
von Kai Bremer
Osnabrück, 18. September 2021. Maggie wird nicht laut, als sie Fortune den Laufpass gibt. Lena Vix, die Maggies Zerrissenheit zwischen Glauben an Gott und der Faszination für ihren Mentor und Liebhaber bis zu dieser Szene immer wieder mit vorsichtiger Mimik und zurückhaltender Körpersprache Ausdruck verliehen hat, wird vielmehr immer leiser. So leise, dass sie wiederholt aus dem Publikum aufgefordert wird, lauter zu sprechen. Vix lässt sich davon nicht beirren. Sie behält die Körperspannung, ihre Stimme drückt gleichzeitig Verachtung und einen letzten Funken Sorge für den Mann aus, den sie so geliebt hat und mit dem sie den erhofften Erfolg als Filmproduzentin feiern konnte: "Nichts, was du sagst, wird je etwas bedeuten." Fortune (Stefan Haschke) steht vor ihr in zerknittertem Hemd und mit zerknittertem Gesicht. Er windet sich und schreit schließlich: "Verpiss dich doch zu Jesus. Ich geh jetzt feiern." Das macht er und lässt mit der sich anschließenden Orgie zugleich die Forderung, lauter zu sprechen, verstummen.
Im Bunde mit der Antichristin
Dass Maggie im letzten Drittel von Simon Stephens "Fortune", das gestern im großen Haus des Theaters Osnabrück deutsche Erstaufführung hatte, schlicht abtritt, mag vielleicht einige im Publikum überrascht haben. Immerhin aktualisiert der englische Erfolgsdramatiker mit seinem Drama den Faust-Stoff. Maggie ist ähnlich fromm wie Goethes Margarete/Gretchen, wenn auch deutlich auf- und abgeklärter. Gleichzeitig ist sie fasziniert vom Filmgeschäft, in dem Fortune kein ganz kleiner Fisch ist. Als sie aber spürt, dass dieser mit der Teuflin Lucy (nacheinander gespielt von Katharina Kessler, Sascha Icks und Thomas Kienast) im Bunde ist, geht sie zu ihm auf Distanz.
Bündnisse auf Distanz © Joseph Ruben
Christian Schlüter, der ab dieser Spielzeit zusammen mit Claudia Lowin die Schauspiel-Sparte in Osnabrück leitet, nimmt sich für Stephens' umfangreiches Drama zwar die Zeit, die es braucht, und streicht nur sehr vorsichtig. Gleichzeitig aber lässt er die knappen Dialoge und die zahlreichen Szenenwechsel präzise ineinandergreifen, sodass die Handlung unnachgiebig auf ihr erwartbares Ende zusteuert: Früh ist klar, dass die drei Lucys Fortune holen werden.
Moritathafte Melodie
Unterstützt wird die Handlung von der Drehbühne, auf der Anna Bergemann verschiedene weiße Treppen und Podeste aufgebaut hat, die je nach Stellung unterschiedliche Perspektiven auf die Handlung erlauben und die verschiedenen Räume andeuten. Auf nachgerade barocke Weise lässt Stephens seine Handlung von einem Chor und dem Sänger Sean (Oliver Meskendahl) kommentieren. Schlüter hat sich entschieden, hier nicht mit der sehr überzeugenden Übersetzung von Barbara Christ zu arbeiten, sondern lässt ihn und den Chor den englischen Originaltext zu einer moritathaften Melodie singen.
Der Abend ist also in jeder Hinsicht abwechslungsreich. Das gilt auch für die Videoeinspielungen, die in erster Linie im Bühnenhintergrund oberhalb der Drehbühne projektiert werden. Einige von ihnen werden genutzt, um auf das Außerhalb der Bühnenhandlung zu verweisen. Über dem berühmten Hollywood-Schriftzug über L.A. etwa ziehen einzelne Rauchschwaden, die an die jüngsten Waldbrände in Kalifornien erinnern.
Der große Kommentar zur Handlung: © Joseph Ruben
Doch ähnlich wie Maggie irgendwann still und unspektakulär abtritt, verflüchtigen sich auch die zarten tagespolitischen Hinweise. Das liegt in erster Linie an Stephens' Text, der mit einer Art heiligem Ernst die Geschichte des Teufelspakts in die Gegenwart verlagert. Ein solches Stück ist für eine Stadt, in der das Theater nicht nur direkt neben dem Dom beheimatet ist, sondern in der auch sonst Religion noch nicht ganz aus dem Alltag verschwunden ist, vielleicht das richtige als erste Premiere im großen Haus nach einem Intendanzwechsel. Allerdings sind Ulrich Mokrusch und sein Team mit dem Versprechen angetreten, dass "Verschwinden von festen Gewissheiten hin zu einem offenen, fließenden Bild von Identitäten" reflektieren und thematisieren zu wollen.
Ein leiser Auftakt
Zwei Tage vor der Premiere im Großen Haus fand mit Olivia Wenzels "1000 Serpentinen Angst" die erste Schauspiel-Premiere im kleinen Emma-Theater statt, die diesem Anspruch Rechnung trägt. "Fortune" hingegen ist ein Theaterabend, der zwar handwerklich nichts falsch und viel Hoffnung macht, dass die neue Schauspielleitung und das Ensemble gut zusammenarbeiten werden. Aber so nervig die Zwischenrufe während Maggies Abschied von Fortune auch waren, unberechtigt waren sie nicht: Gemessen an seinen eigenen Ansprüchen war der Auftakt des Schauspiels Osnabrück im großen Haus zu leise.
Fortune
von Simon Stephens
Deutschsprachige Erstaufführung
Regie: Christian Schlüter; Bühne: Anna Bergemann, Kostüme: Clemens Leander, Video und Komposition: Sascha Vredenburg, Komposition und Musikalische Leitung: Steffen Brinkmann, Dramaturgie: Leila Etheridge.
Mit: Ronald Funke, Stefan Haschke, Sascha Icks, Katharina Kessler, Thomas Kienast, Oliver Meskendahl, Laila Richter; Pujan Sadri, Lena Vix.
Premiere am 18. September 2021
Dauer: 2 Stunden 55 Minuten, eine Pause
www.theater-osnabrueck.de
Kritikenrundschau
Christine Adam von der Neuen Osnabrücker Zeitung (19.9.2021) zählt in ihrem Artikel Gründe auf, aus denen man die Inszenierung besuchen solle: "Die Inszenierung hat jede Menge 'Wums'." Fast drei Stunden lang würden "Himmel und Hölle auf der Drehbühne miteinander in Beziehung gesetzt". Oliver Meskendahl könne sein Gesangstalent "einmal wieder so richtig 'göttlich' ausleben - auch wenn man die englischen Text kaum versteht". In einem weiteren Artikel bemerkt die Kritikerin aber: "Abgesehen von Stefan Haschkes überragendem Spiel erzeugen die filmischen Mittel die eigentliche Kunst des Abends, nicht die Schauspieler. Als Weg in die Zukunft wäre das fürs Theater fatal."
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