Familie filmend verstehen

von Katrin Ullmann

Hamburg, 19. September 2021. Warum er immer wieder über Familien schreibe, wurde David Grossman in einem Interview gefragt. Er kenne kein relevanteres Thema, was einen mehr beschäftige, hat er geantwortet. Und dass "diese Intensität von Familien, diese Nähe, die da entsteht, aber auch wie fern man sich gleichzeitig ist, diese Komplexität" ihn immer fasziniert habe. Grossmanns jüngster Roman "Was Nina wusste" erzählt auch wieder von einer Familie. Basierend auf einer wahren Geschichte, geht es darin um eine Mutter-Tochter-Beziehung und eine große Liebe, aber auch um Exil, Folter und Verrat. Ausgangspunkt und Zentrum der Geschichte ist nicht, wie der Titel vermuten ließe, Nina, sondern deren Mutter Vera.

Wilde Hausmusik

"Bin ich eine kroatische Jüdin aus Mitteleuropa", sagt diese über sich selbst in ihrem fehlerhaftem Deutsch. In den 50er Jahren ist Vera nach Israel ausgewandert, jetzt feiert sie ihren 90. Geburtstag. Im Kibbuz. Beziehungsweise im Malersaal des Hamburger Schauspielhauses. Ihr (Stief-)Sohn Rafi, großartig gespielt von Maximilian Scheidt, hat die wenigen Familienmitglieder zu einer kleinen Band zusammengestellt – ihm hängt eine E-Gitarre um den Hals – und heizt nun ordentlich die Stimmung auf.

WasNinawusste 4 MarisEufinger uFamilienfeier mit Instrumenten und mit Anklagen: Ute Hannig, Eva Maria Nikolaus, Maximilian Scheidt © Maris Eufinger

Hinten im leeren kargen Raum baumelt eine Discokugel, vorne spielt Ute Hannig Geige, trommeln Eva Maria Nikolaus und Sandra Gerling. Außerdem ist extra eine Tuba-Spielerin eingeladen, und sogar die Souffleuse greift zur Triola. Was für eine herrliche, charmante Familienfeier, denkt man. Später sitzt Ute Hannig (grandios!) mit goldener Pappkrone und lässiger Sonnenbrille auf einen kleinen Podest. "Gut gehalten" habe sich "Omivera", bestätigen ihr alle Familienmitglieder. Hannig lächelt verschmitzt.

Verlassene Tochter

Bald aber tun sich auch in dieser netten Familie etliche Abgründe und Risse auf, ist doch Veras Tochter Nina (Eva Maria Nikolaus) so schrecklich teilnahmslos und streng. Mit schnellen Schritten läuft sie immer wieder weg, bricht aus, verschwindet plötzlich. "Nina war nie da, das ist ihr Beitrag zur Familie", so kommentiert es Vera einmal. Nur knapp spricht sie über ihre eigene Tochter, wo sie sich doch sonst zu gern in leidenschaftliches Pathos stürzt. Zumindest wenn es um die Liebe zu ihren Männern geht.

WasNinawusste 2 MarisEufinger uStiefgeschwister, die ihre Familie zu verstehen versuchen: Maximilian Scheidt als Rafi, Eva Maria Nikolaus als Nina © Maris Eufinger

Da ist zum einen der abwesende Miloš, der sich aus Verzweiflung über das Tito-Regime umbrachte, zum anderen Tuvia, den sie Jahre später im Kibbuz kennenlernte. Erst am Ende des Abends erfährt das Publikum, welche Traumata diese Mutter-Tochter-Beziehung zerstört haben. Und man erfährt, dass Veras Liebe zu "Miloš, mein Leben!" größer war als die zu ihrer Tochter. Dass sie, um die Ehre des da bereits verstorbenen Miloš nicht zu verraten, ihre sechsjährige Tochter zurückließ, verhaftet wurde und mehrere Jahre auf der vom jungen Tito-Regime installierten Gefangeneninsel Goli Otok verbrachte, dort Schikane, Folter und Gewalt erlebte.

Die seelischen Wunden beider Frauen sitzen tief. Wenn Regisseur Dušan David Pařízek die Darstellerinnen am Ende von ihnen erzählen lässt, ist der Bühnenraum mit weißen Stoffen ausgehängt, als wäre er ein unbeschriebenes Blatt oder ein nüchternes Filmstudio.

Familien-Dreharbeiten

Tatsächlich versucht Ninas Tochter Gili (Sandra Gerling), die selbst ohne Zärtlichkeit aufwuchs, ihre Familiengeschichte filmend zu verstehen. Dazu befragt sie ihren Vater, ihre Mutter und Großmutter, bricht resigniert ihre Dreharbeiten ab, macht sich Notizen und unternimmt neue Versuche. Auch in Pařízeks Inszenierung steht Gerling, wenn aus ihr nicht gerade die Verletztheit herausbricht, immer mal hinter der Kamera: Dann zeichnet sie die Protagonist:innen in großen Schwarzweißporträts an die Wand. Distanziert und schön.

So erdrückend Grossmans Themen sind, so leicht, heiter und spielerisch hat Pařízek sie – zumindest im ersten Teil – auf die Bühne gebracht. Ironisch spielen die vier großartigen Darsteller*innen mit Klischees und Akzenten, mit ihren Leidenschaften und gelben Plastikrosen. Mit einer Live-Kamera, drei Overheadprojektoren und ein paar Schwarzweißfotos (© Giovanni Cocco, Rudi Weissenstein) basteln sie sich eine atmosphärische Vergangenheit, sie erzählen von der Schlechtigkeit der Welt, setzen sich Häkelmützen auf, streiten und zerren aneinander und reisen dann doch gemeinsam nach Goli Otok, wo diese Geschichte ihren Ausgang nahm.

I did it my way

Nahbar, eindringlich und direkt spielen die vier Darsteller:innen diese Familie mit all ihren Verstrickungen, mit all ihrem Hass und all ihrer Liebe. Zwischendurch singen sie ein schräges "I did it my way", weichen heiklen Themen geschickt aus, schwärmen dann vom Verliebtsein oder von damals und vom Abschlussball. Pařízek gelingt ein kluger, selbstbewusster, streckenweise herrlich lässiger Zugriff auf den schweren Stoff. Respekt! Und doch bleibt die Familiengeschichte am Ende: Faszinierend, ja. Aber auch kompliziert.

Was Nina wusste
nach dem Roman von David Grossman, Deutsch von Anna Birkenhauer
Uraufführung
Regie und Bühne: Dušan David Pařízek, Kostüme: Kamila Polívková, Komposition: Peter Fasching, Licht: Björn Salzer, Dramaturgie: Ralf Fiedler.
Mit: Sandra Gerling, Ute Hannig, Eva Maria Nikolaus, Maximilian Scheidt.
Premiere am 19. September 2021
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.schauspielhaus.de

 

Kritikenrundschau

Im Hamburger Abendblatt (20.09.21) schreibt Annette Stiekele: "Die Mittel der Illusion liegen allezeit offen." und meint damit die vom Regisseur höchstselbst karg gestaltete Bühne. In dieser offengelegten Illusion und "dank eines tollen Ensembles" gelinge es, "berührend, tief und groß von harten Themen zu erzählen". Pařízek rolle die Familientragödie, in deren Zentrum zwei "unerbittlich gewordene und doch verletzliche Frauen" stehen, "mit äußerster Genauigkeit" aus. Und lockere die Erzählung von Traumata doch immer wieder mit "Lebenslust, Zärtlichkeit und Musikalität" auf. Das Ergebnis sei ein "eindringlich gespielter, beklemmend intensiver Abend."

 

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