Fortschrittszweifel, leicht gekürzt

von Otto Paul Burkhardt

Heidelberg, 7. November 2008. Komisch. Über Philipp Löhle wird selten gestritten. Vielleicht, weil seine Stücke eher leise daherkommen. Unschreihalsig sozusagen, unangestrengt, hintersinnig, unaufgeregt. Und dennoch loten seine Szenarien tiefer, kratzen unauffällig, aber beharrlich an scheinbar sicheren Grundfesten des Denkens, des Lebens.

"Lilly Link oder Schwere Zeiten für die Rev..." ist so ein typisches Löhle-Stück – und schon die Idee, das geschichtsträchtige Wort beim Aussprechen sofort wieder abbrechen und verstummen zu lassen (weil es in der Gänze vielleicht peinliche, lächerliche, grausame oder tragische Assoziationen weckt), ist eine wundernette Löhlesche Ironie: Heiner Müllers Fortschrittszweifel, leicht gekürzt quasi.

Aber im Ernst: Mit "Lilly Link" hat Philipp Löhle nun seine "Trilogie der Träumer" abgeschlossen, und wie seine Vorgänger Gospodin ("Genannt Gospodin") und Mörchen ("Die Kaperer") gehört auch Lilly in die Kategorie der versponnenen Verweigerer, skurrilen Utopisten und bockigen Alltagsanarchos, an denen Löhle indirekt die Defekte der Mainstream-Gesellschaft beobachtet. Wenn große Ziele auf der Strecke bleiben: Darum geht es in "Lilly Link", dem Preisträgertext des Heidelberger Stückemarkts 2008.

Boutiquen eröffnen, Frösche retten

Regisseur der Uraufführung ist der 35-jährige Orazio Zambelletti – der in Hamburg ausgebildete Schauspieler inszeniert mittlerweile in Bochum, Tübingen, Osnabrück und Heidelberg (zuletzt Volker Schmidts "Mountainbiker", Preisträger des Stückemarkts 2007). Er erzählt den Plot in einer meist unaufdringlich belassenen, überwiegend stillen Tragikomik. Slapstickhafte Einlagen und besinnliche Momente ergeben im Heidelberger Zwinger ein vielfältiges Szenenmosaik. Während fast alle sich im falschen Leben einrichten, Frösche retten, Boutiquen eröffnen und für US-Konzerne Patentierwürdiges erfinden ("selbstentheddernde Knopfkopfhörerkabel"), bleibt allein Lilly einer unangepassten Lebensweise treu, mit der sie sich zunehmend isoliert.

Von der einst kreativ-aufmüpfigen Truppe, die sich "Fünf Sinne" nannte und mit gezielten Aktionen (Parfümattentat aufs U-Bahn-Belüftungssystem, Lichtbogen-Projekt am Nachthimmel und dergleichen) die Menschheit wachrütteln und sensibilisieren wollte, ist nichts mehr übrig. Und die Regie zeigt, wie sich das Leben der ehemals aufbruchswilligen Gruppenmitglieder in jene schalen Näherungswerte und dünnen Verwässerungsgrade verflüchtigt, die von ihren einstigen Zielen übrig geblieben sind.

Zwischen Witz und Katastrophe

Gut, dass Zambelletti die Vagheit des Zeithorizonts bei Löhle sogar noch verstärkt. Und so ist es letztlich piepegal, ob es hier vornehmlich um die Generation Attac geht oder auch um die Ökos, um die Friedensbewegung der 80er, die 70er-Jahre-RAF, die 68er oder überhaupt um jeden Versuch, etwas anderes als das Bestehende zu denken. Die schillernde Vagheit wirkt befreiend, öffnet Horizonte, mehr, als dies eine enge, womöglich konzisere Zeitgeist-Inszenierung vermocht hätte.

Mit dieser Unbestimmtheit korrespondiert auch die Bühne (Miriam Grimm): Ein labyrinthisches Gebirge aus glatten, rechteckigen Möbelstücken und schmutzabweisenden Oberflächen – Lillys Eindruck von ihren alten Freunden, die sich fast alle in Rückzugspositionen verbarrikadiert haben, ist hier in ein schlüssiges Bild übersetzt. Und ganz klar: Umzug ist angesagt.

Die Regie lässt das Bühnenpersonal im weiten Feld zwischen Witz und Katastrophe agieren. Lilly Link ist bei Ute Baggeröhr eine, die sich alleingelassen fühlt von all den ins Bequemleben abdriftenden, früheren Gesinnungsgenossen – ihre vormals rebellische Lebenslust hat sich zu düsterer Unbeweglichkeit verfinstert. Während Anne (Maria Prüstel) eine Boutique betreibt, donnerstags ein Pflicht-Umweltprogramm absolviert und noch am ehesten mit Lilly Kontakt wahrt, hat Hannes (Benjamin Hille), ein stets gut gelaunter Anpasser, keine Probleme damit, als städtischer Sozialamtsgesandter bei der Zwangsräumung von Lillys Wohnung mitzuwirken.

Wer bremst, verliert

Irgendwann flüchten sich diese feinen Ex-Freunde in leere Tätigkeits-Posen und tun so, als seien sie beschäftigt, während Lilly sie vergeblich anspricht und zwischen ihnen herumirrt – wie ein ausgegrenztes, verdrängtes Gruppen-Ich: ein starker Regie-Moment. Schließlich flieht Lilly mit einem suizidal veranlagten, aber geistesverwandten Eigenbrötler in dessen kaputtem Auto – Zambelletti macht daraus dankenswerterweise kein x-tes zeitgeistiges Road-Movie, sondern eine karge, poetische, fast kindertheatralisch anrührende Szene. Auf die Frage wohin, sagt Lilly: "Egal." Er: "Sehr gut. Da fahre ich hin."

Kurz: Philipp Löhles "Trilogie der Träumer" findet in Heidelberg einen knappen, lakonischen, melancholisch schillernden Abschluss. Ausgeträumt? Nicht unbedingt. Löhles Trilogie endet mit einem Aufbruch (auch wenn dieser wohl wieder scheitern wird). Aber wir sehen zwei, die sich kugeln vor Lachen. Und ihren Schlussdialog unter wechselseitigem Prusten wiederholen: "Gehen die Bremsen jetzt?" – "Wer bremst, verliert!"

 

Lilly Link oder Schwere Zeiten für die Rev... (UA)
von Philipp Löhle
Regie: Orazio Zambelletti, Ausstattung: Miriam Grimm. Mit: Ute Baggeröhr, Klaus Cofalka-Adami, Ronald Funke, Benjamin Hille, Heiner Junghans, Simone Mende, Maria Prüstel, Matthias Rott, Daniel Stock.

www.theaterheidelberg.de

 

Alles über die ersten beiden Teile von Philipp Löhles Trilogie der Träumer erfahren Sie in der Kritik samt Kritikenrundschau und Kommentaren zur Uraufführung von Genannt Gospodin im Oktober 2007 in Bochum (Zweitaufführung im November 2007 in München). Und in den entsprechenden Beiträgen zur Uraufführung von Die Kaperer im März 2008 in Wien (deutsche Erstaufführung in Mainz im September 2008).

 

Kritikenrundschau

Im Mannheimer Morgen (10.11.) schreibt Alfred Huber über die Heidelberger Uraufführung von Philipp Löhles politischer Gegenwartskomödie "Lilly Link": "Die Welt ist flach, wohin man schaut, mag sich der Regisseur gedacht haben, was bleibt da noch außer der standfesten Lilly und ein paar abgedroschenen Parolen der Achtundsechziger, die längst zum Partygeschwätz verkommen sind?" Orazio Zambelletti greife "beherzt ins oberflächliche Menschenleben" und zeige "die Aufmüpfigen von einst im Heute des politischen Vorruhestands". Es wäre vielleicht "richtig spannend geworden, wenn Orazio Zambelletti mit ein paar Fallhöhen und entsprechend geschärften Kontrasten wirklich die Invasion gegenwärtiger Belanglosigkeit inszeniert hätte. Aber davon sind seine netten Harmlosigkeiten leider weit entfernt."

"Löhle ist fix, kann gut schräge Typen, Dialoge und Situationskomik entwerfen, sich selbst kopieren und noch im Leerlauf hochtourig drehen. Er macht flottes konsumkritisches Gebrauchstheater für den schnellen Konsum", schreibt Martin Halter in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (12.11.). "Im Heidelberger 'Zwinger' hat Regisseur Orazio Zambelletti seine 'Lilly Link' nun allerdings erst mal an die Wand gefahren." Zwischen pastellfarbenen Bauklötzchen und Umzugskartons zerfalle das Stück in ein Knäuel aus Comedy-Sketchen, Karikaturen und Sprüchen, die selten zünden. Ute Baggeröhrs Lilly ist "eine linke Fee, halb Pippi Langstrumpf, halb Jeanne d'Arc", am Ende zücke sie ein goldenes Pappschwert, um die Spaß- von den Ernstmachern zu scheiden. "Dass ihr Scheitern auch eine tragische Seite haben könnte, nimmt man dem Stück allenfalls die letzten fünf Minuten ab." Die Streiche der Krötenretter, Ohrstöpsel-Düsentriebs, schnorrenden Selbstmörder und paranoiden Radkappenfetischisten wären für jede Sitcom eine Zier, so Halter, "aber mit der Krise des Kapitalismus haben sie nur indirekt und mit neuem politischem Theater noch weniger zu tun."

 

 

Kommentare  
Lilly Link: Über Löhle zu streiten lohnt nicht
Vielleicht lohnt es sich einfach nicht zu streiten über diese biederen Stücke. Wer sich in drei Stücken drei mal in ähnlicher onkelhafter Draufsicht über die Bemühungen der Weltverbesserer lustig macht, sollte ein alter Mann sein. Aber im vorauseilenden Gehorsam wird hier schon über Ideale grinsend gespöttelt, ohne sie je selbst gehabt zu haben. Es gab Zeiten, in denen man das reaktionär genannt hätte. Heute heißt das amüsant und piepsegal.
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