Triell auf Kolonos

von Janis El-Bira

21. September 2021. Wie sich die Theater unsere Gegenwart zurechtlegen, verraten am schönsten die Spielplankollisionen der kurioseren Art. Vor ein paar Wochen sorgte eine solche selbst in Berlin für Aufsehen, wo es ja notorisch eh alles doppelt und dreifach gibt: An drei aufeinanderfolgenden Abenden waren da, quer durch Schauspiel und Musiktheater, drei Premieren zu sehen, die sich allesamt dem Ödipus-Mythos widmeten. Doch damit nicht genug, das Berliner Trio komplettierte sich an diesem Sonntag mit Maja Zades Stoffadaption an der Schaubühne zu einem ödipalen Quartett, Mitte Oktober wird Johan Simons in Bochum mit "Ödipus, Herrscher" nachziehen. Bestimmt sind in den kommenden Wochen irgendwo noch ein, zwei weitere thebanische Königssöhne auf der Suche nach den großen Zusammenhängen ihrer Existenz.

Echo des Ausgeliefertsein

"Stück der Stunde", sagt man da wohl, was knapp zweieinhalb Jahrtausende nach Sophokles‘ Abfassung des Mythos zwar für dessen Zeitlosigkeit wirbt, dem Hier und Jetzt aber kein gutes Zeugnis ausstellt. Vor wenigen Jahren, als aus gegebenem Anlass die Rückkehr der Tyrannen in höchste Ämter von den Bühnen dankbar aufgegriffen wurde, da spielten plötzlich alle "Macbeth". Die Geschichte von einem, der gegen die vermeintliche Unabänderlichkeit von magischer Prophezeiung und Schicksalsfügung blutig zu Felde und dabei sehenden Auges in den eigenen Untergang zieht. Und nun also Ödipus, Spielball der Göttlichen, am Schicksalsfaden ausgesetzt über dem Abgrund, den er nicht sieht und nicht versteht. Hineingeboren in eine metaphorische Blindheit, die er sich schließlich, als er aller Schrecken ansichtig wird, ganz plastisch selbst zufügt.

NAC Kolumne Janis El Bira V3Vom Schicksal, das Ödipus so übel am Zeug flickte, will heute freilich niemand mehr reden. Dafür haben wir jetzt ein eigenes Wort: Was uns wie von fremden Mächten gewirkt, unvorhersehbar zufällig und jenseits unseres Einflussbereichs erscheint, das nennen wir jetzt "kontingent". Kontingenz wird zum postmodernen Pendant des Schicksals, dessen Walten wir in Gestalt von Pandemie und Klimakatastrophe anscheinend wieder zu spüren bekommen. Direkt zu Beginn der Corona-Zeit spukte nicht von ungefähr in manchen Köpfen die Fantasie einer rachsüchtigen Natur, die sich – den antiken Göttern gleich – nimmt, was sie will. Und noch jetzt hört man ein Echo dieses Ausgeliefertseins an andere Gewalten, wenn etwa die grüne Kanzlerkandidatin im zweiten TV-Triell den fortan oft wiederholten Satz für sich entdeckt, die nächste Bundesregierung sei "die letzte, die noch aktiv in den Klimawandel eingreifen kann". Danach, so klingt es, kann nur ein Gott uns noch retten.

Im Sequel der Tragödie

Dabei ist ja gar nicht unwahrscheinlich, dass sie recht hat. Aber eine Faszination für die schauerliche Wirkung von Schicksalserzählungen steckt in ihrem Satz ebenso wie in der theatralen Wiederentdeckung des Ödipus. Anders als dieser sind wir ja aber gerade nicht blind gegenüber den wirkenden Mächten, schließlich schaffen wir sie uns fortlaufend selbst. Kontingenz mit dem Schicksal der antiken Tragödie gleichzusetzen, ist auch deshalb falsch. Wo die Vorstellung eines uneinsehbaren Schicksals aufs Geschlossene, Unausweichliche zielt, da meint Kontingenz gerade dessen Gegenteil. Nämlich das Offene, das aus dem Zusammenwirken menschlichen Handelns resultiert. Der Soziologe Jörn Ahrens hat in seinem lesenswerten Essay Ödipus – Politik des Schicksals die Tragik des Ödipus in genau dieser Unfähigkeit zur Kontingenzerfahrung beschrieben: "Ödipus fehlt die Kontingenz und die Ambivalenz subjektiver Handlungsmächtigkeit. Sein Handeln ist immer schon überlagert durch die in seinem Schicksal vorweggenommene Ergebnisteleologie."

Dass den Theatern heute die Offenheit jener Handlungsmächtigkeit derart bedrohlich erscheint, dass sie sie mit Schicksalshaftigkeit verwechseln und im Ödipus ein Kind unserer Zeit entdecken wollen, wirkt da doch einigermaßen seltsam. Die Politiker:innen sollten es ihnen jedenfalls nicht gleichtun, denn im Schicksal lässt es sich allzu gut gemütlich machen. Erinnern wir uns lieber daran, dass Ödipus im Sequel der Tragödie auf Kolonos nur deshalb erlöst wird, weil er in Theseus einen mitleidigen Gastgeber findet. Vielleicht schaffen wir es ja noch ein Stück weit ohne ihn.

Kolumne: Straßentheater

Janis El-Bira

Janis El-Bira ist Redakteur bei nachtkritik.de. In seiner Kolumne Straßentheater schreibt er über Inszeniertes jenseits der Darstellenden Künste: Räume, Architektur, Öffentlichkeit, Personen – und gelegentlich auch über die Irritationen, die sie auslösen.

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