Die Monade kennt nur sich selbst

von Michael Laages

Hannover, 7. November 2008. Vier Stück Mensch, in kleinen Kisten abgepackt; vier Fluchten, vier Mal Alptraum pur. Das jüngste Stück des mittlerweile vielfach ausgezeichneten Dramatikers Thomas Freyer erzählt mit unerbittlich finsterer Phantasie Geschichten vom Eingesperrtsein im Ich wie im Wir, und der letzte Ausweg scheint stets nur der Schritt ins Nichts zu sein.

So viel Jugend und so viel Tod, so viel Sterbenlernen macht Angst auf der Bühne. Das Stück ist auch das Arbeitsergebnis des Dramatikerpreises, den der "Kulturkreis der Deutschen Wirtschaft" im Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) vor zwei Jahren an Freyer vergab, und zumindest ist dem Stück nichts anzumerken, was den Preisgebern besonders gut gefallen könnte: außer, dass es eben das ist – stark, unerbittlich, ohne Ausweg und Hoffnung.

Man nennt es Wohlstandsverwahrlosung

Zwei Geschwisterpaare stehen am Beginn des Experiments, und jede dieser Welten ist schwer beschädigt und gestört. Die von Robert und Marlen durch die Sterbenskrankheit des Vaters und die Flucht der Mutter: der Sohn pflegt den Alten hingebungsvoll, und nicht nur ihn. Denn die Schwester hat sich nach der Implosion der Familie ganz in sich und ihr Zimmer zurückgezogen wie in ein Gefängnis. Der Bruder stellt ihr das Essen vor die Tür und holt dafür einen Eimer mit den Resten ab.

Befreundet ist Robert mit Jakob – dessen Mutter hat den Kopf voller Gott und stets einen Bet-Bruder an der Hand, während der Vater bloß hohl schwatzt. Jakob sehnt sich längst nach Grenz- und Todeserfahrungen; derweil mimt Schwester Mara oben in der Wohnung noch das behütete Töchterchen, mutiert aber unten im Keller zum billigen Flittchen für die Nachbarschaft – die kann haben, wer will.

Wohlstandsverwahrlost: der Begriff hat sich für derlei eingebürgert. Erstaunlich bei Freyers Geschwisterpaar indes ist, dass sich Jakob und Mara bei dieser Verwahrlosung, diesem Nicht-Leben quasi selber zuzuschauen scheinen. Ihr "Ich" ist stets auch jemand anderes, besonders im Exzess. Mara tritt aus sich heraus und sieht der Nutte zu, die sie nicht ist; Jakob phantasiert davon, alles Blut aus sich herauszupressen und buchstäblich aus der Haut zu fahren.

Werwolf werden, lieben lernen

Mit Jakobs Ausbruch beginnt die eigentliche Story. Er sucht die Begegnung mit einem Schläger- und Killer-Trio, das marodierend durch die Nachbarschaft zieht. Blutig geprügelt, landet er im Krankenhaus, flüchtet aber schnell und wird nun seinerseits zur Zeitbombe – schlägt einem Gassi-Geher den Schädel ein und verwandelt sich mit Hundis Hilfe zum Wolf, reißt als solcher dem eigenen Vater den Hohlkopf ab und legt ihn der Mama aufs Ehebett.

Derweil hat Robert den kranken Vater kranken Vater sein lassen und den Freund gesucht – gefunden aber nur dessen Schwester Mara, und mit ihr wächst in Folge einer schnellen Nummer so etwas wie Liebe. Derweil geriet zu Hause alles aus den Fugen. Die psychotische Schwester verließ das Zimmer, fand den toten Vater – und erklimmt schlussendlich wohl das Dach des Hauses. Springen geübt hat sie schon öfter.

All das, von der Werwolf-Phantasie bis zum Todessprung, ist Alptraum und denkbare Wirklichkeit in einem, so jedenfalls hat es Freyer geschrieben. Und dem finsteren Sog dieses zutiefst beunruhigenden Textes ist kaum zu entkommen. Tilmann Köhler, schon seit geraumer Zeit Freyers idealer Partner und als Regisseur seinerseits der Senkrechtstarter jüngerer Zeit, treibt dem weithin monologischen Erzählen zunächst mal allen möglichen Realismus aus – er steckt das Quartett in nicht mal manns- und weibshohe Wohn-Waben.

Kluge Abstrahierung des realen Grusels

Das Bühnenbild von Karoly Risz zeigt vier Kisten, neben- und übereinander gestapelt, zwischen denen Bewegung nur an den äußeren Stahlstreben zwischen den Kisten möglich ist, und insofern immer nur halb über dem Abgrund. In diesen Gummizellen ganz aus weißen Wänden verfügen die vier jeweils über eine Mini-Video-Kamera, in die hinein sie zu Beginn unablässig und auch später immer wieder starren: ich-bezogen so sehr, dass halt auch die Flucht immer nur wieder vor der Linse enden wird. Die Monade kennt nur sich selbst.

Freyers fundamentales Schreckensmosaik hat keine Wahrheit außer der des Grauens. Köhlers kluger Zugriff nutzt die Abstraktion, um diesen dann doch ziemlich realen Grusel in Bilder zu übersetzen, die nur das Theater behaupten kann – und das junge hannoversche Ensemble-Quartett, Svenja Wasser und Mila Dargies, Sascha Göpel und Christoph Franken, gelangt mit diesem Autor und diesem Regisseur zu einem Maß von Wahrhaftigkeit, das der Beunruhigung des Textes selbst in nichts nachsteht.

Und in den Nächten liegen wir stumm
von Thomas Freyer
Uraufführung
Regie: Tilmann Köhler, Bühne: Karoly Risz, Kostüme: Susanne Uhl. Mit Mila Dargies, Christoph Franken, Sascha Göpel, Svenja Wasser.

www.schauspielhannover.de

 

Mehr über die Stücke von Thomas Freyer erfahren Sie in den Beiträgen zu Amoklauf mein Kinderspiel (inszeniert von Felicitas Brucker) im April 2008 in Hamburg sowie zu Separatisten: unter der Regie von Arne Böge im November 2007 in Dresden und in der Inszenierung von Tilmann Köhler im April 2007 im Maxim Gorki Theater Berlin.

 

Kritikenrundschau

Es passiere eigentlich gar nichts in Thomas Freyers Stück "Und in den Nächten liegen wir stumm", die Figuren sprächen vornehmlich "in monologischen Sequenzen", vermeldet Bert Strebe in der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung (10.11.). Und weiß auch: "Monologe sind mega-out". Wer sich aber auf den Text einlasse, könne ein "schwebendes, poetisches, grausam-schönes und ebenso alltagsnahes wie weltentrücktes Stück entdecken". Regisseur Tilmann Köhler habe dies getan und in seiner Umsetzung "ganz eigene schwebende, poetische, grausam-schöne Bilder gefunden", manchmal begleitet von "betörend-hypnotischer Musik". Die Schauspieler seien "allesamt so präsent, dass sie nach der Seele des Zuschauers zu fassen scheinen", bisweilen gar zu Tränen rührend.

Auch Evelyn Beyer von der Neuen Presse (10.11.) ist beeindruckt von diesem Versuch, "in den verwahrlosten Teil" der Jugendlichen-Existenz zu schauen, in die Seelen nämlich. Freyer und Köhler spürten der Jugend dort nach, "wo sie fassungslos macht". Da könne es keine Antworten geben, wohl aber "ein insistierendes Hinsehen". Freyer habe ein "Textgeflecht geschrieben, das seine Wirkung wie ein Musikstück entfaltet, in Klang, in Emotion". Wenn bei Köhler dann die Wucht der inneren Zwänge "vehement ausgespielt" werde, in Schreien, Toben, Kopf-an-die-Wand-Hämmern", gehe das "fies unter die Haut".

"Man mag sich sträuben gegen diese finstere Ansammlung jugendlicher Leidenskelche", schreibt Christine Dössel in der Süddeutschen Zeitung (11.10.). Und doch packe einen Freyer "immer wieder am Kragen, weil seine Sprache kühl-poetisch und dunkel soghaft ist und weil sie auszudrücken versteht, wie todernst es diesem Autor ist". Köhler sei der "aufrichtige und sorgenvoll auf jedes Wort bedachte Uraufführungsregisseur", der "das Pathologische der Situation ganz gut auszureizen" verstehe. Ein Setzkasten von Karoly Risz, davor die Cellistin Nora Teschner mit Klängen in "tiefstem Moll" und die vier Schauspieler, von denen Svenja Wasser am meisten interessiere, weil sie "der eingeschlossenen Marlen etwas krank- und katzenhaft Fremdartiges, Verlorenes erspielt." 

Auch Irene Bazinger ist in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (12.11.) angetan mehr noch von der Inszenierung als vom Stück. Regisseur Tilmann Köhler, kaum älter als der Autor, füge für die Uraufführung die "meist kurzen, erzählerischen wie dialogischen Textblöcke zu einem schroff geschnittenen Handlungsballett" zusammen. "Aus Freyers emotional geprägten Momentaufnahmen und fragmentarischen Episoden wird eine physisch aufgelöste Szenenfolge über Einsamkeit, Desorientierung und irrationale Zuversicht." Mit sicherem Gespür für die musikalischen Strukturen finde Tilmann Köhler zu überzeugenden Stilisierungen der Abgründigkeiten des Stücks und zu rhythmisch plausiblen Akzentuierungen der Fluchtbewegungen aus der Wirklichkeit, der sich die Figuren mit Halluzinationen und Phantasmagorien entziehen. "Seine Choreographie dieser Krankheiten der Jugend ist so kühl und klar wie entschieden unsentimental."

Kommentare  
Freyer/Köhler in Hannover: Bitte um Ausgewogenheit
ist das eine kritik von einer inszenierung oder das vorstellen eines neuen theatertextes? bisschen mehr ausgewogenheit wäre schön
Freyer/Köhler in Hannover: Blut ist auch prima
Diese Graunens- und Schreckensposen mancher deutschen Autoren, siehe Dea Loher ("Das letzte Feuer"), siehe Thomas Freyer. Wie hoffnungslos und unerbittlich! So wie es die deutschen Dramaturgen mögen, so richtig existentiell und ahnungsvoll des nahen Todes. Ein paar Monologe sollten auch dabei sein. Alptraum auch, ja, denn ist denn das Leben nicht ein Alptraum? Und Blut ist auch prima. Es fließt aus Verzweiflung. Der Vater ist krank, nein, besser tot, und die Mutter hat eine Macke. Schlimm! Es ist ja nichts gegen bestimmte Motive oder Gefühle zu sagen, aber sehr wohl kann es einen nerven, wie dramaturgengerecht und modebewußt diese Texte lanciert werden, und sich dabei kompromißlos geben. Die Jurys landauf, landab lieben es. Man kann so etwas wohl an der UdK beim Studiengang szenisches Schreiben.
Freyer/Köhler in Hannover: naturgemäß unausgewogen
ja, jan, das war naturgemäß etwas mehr vorstellung eines neuen theatertextes; und bei einer uraufführung, die einen neuen text nicht gleich beim ersten anlauf schon zweimal erfindet, aus der sicht der autors und des regisseurs, finde ich das auch mal ganz angemessen. ML
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