Mit Degen und Schwanz-Witz

von Sabine Leucht

München, 24. September 2021. Rund 50 Dramatis personae verzeichnet Edmond Rostands Stück "Cyrano de Bergerac". Nicht einberechnet die "Menschenmenge", die zu Beginn den Saal des Palais de Bourgogne bevölkert, in dem gleich eine Theateraufführung stattfinden wird: “Kavalleristen, Bürger (männlich und weiblich), Marquisen, Musketiere, Taschendiebe, Pastetenbäcker, Dichter, Gascogner Kadetten..." So geht's noch ein munteres Weilchen weiter.

Rüsselnasen-Diskurse

In Antonio Latellas Inszenierung des "Cyrano de Bergerac" bleibt die Bühne des Münchner Marstall schmucklos leer, das Saallicht an, die Handlung verbannt – und Florian von Manteuffel steht ganz alleine im Zentrum, streckt langsam den rechten Arm aus, winkelt ihn an und berührt seine Nase. Dann beschreibt seine Hand eine Form in der Luft, die nichts mit dem zu tun hat, was der Schauspieler im Gesicht trägt, aber viel mit der Übertreibungsrhetorik Rostands, die nicht unüberboten stehen bleibt: "Sagen Sie: ist sie vielleicht weich und schlaff…? Sie meinen, dass sie wackelt, einem Rüssel gleicht? Hör ich Sie was von 'Storchenschnabel' munkeln? Sprachen Sie eventuell auch von Furunkeln? Ist sie ein Unikum? Vielleicht sogar ein Phänomen?", heißt es in Antonio Latellas und Federico Bellinis "Bearbeitung für zwei Einsamkeiten", die ihren Rostand kennt, ohne viel mit ihm gemein haben zu wollen.

Cyrano 1 Birgit Hupfeld uFlorian von Manteuffel überführt den den "Cyrano"-Stoff in die Ego-Show © Birgit Hupfeld

Manteuffel, der mit bisweilen kleinkindhaftem Trotz und Greinen um seine Pole Position als "Einsamkeit A" ringt, stellt sie nur Vincent Glander als "Einsamkeit B" zur Seite. Der eine ist Cyrano, der Dichter, der andere Christian, Nutznießer der Dichtung, die Herzen schmelzen lässt. Aber ohne die Frau, in die sie beide verliebt sind, entsteht kaum ein Vers; und was entsteht, dreht hohl oder schlägt pennälerhaft-alberne Kapriolen. Ungerichtetes Testosteron entlädt sich in Schwert- und Nasen-Schwanz-Witzen und extrem sprunghaften, oft nur phonetisch verbundenen Assoziationsketten.

Entgleisende Pointen

Der Abend ist nicht so strapaziös wie Dante Pasolini und viel weniger lustig als "Die drei Musketiere" von diesem Team im gleichen Haus. Er setzt weniger auf Wiederholung und Slapstick und leitet die Verausgabungstendenzen, die Latellas Akteure stets haben, erst spät in choreografische Bahnen. Die ganze erste Hälfte ist die Ego-Show eines narzisstischen Platzhirschen.

Cyrano, der sich das Rampenlicht eigentlich mit so vielen teilen müsste, ist nun selbst der eine Mitspieler zu viel. Und sein Publikum ist rasend enttäuschend. Erst kann es sich den Ballsaal des Jahres 1640 nicht imaginieren, dann ist es zu wenig Groupie und München nicht Paris. Und selbst die Muse, die er sich aus dem Zuschauerraum pflückt, kann ihn nicht beglücken: "Tatsache ist, dass die Muse nicht gesucht wird, die Muse kommt, und Sie sind nicht gekommen." Manteuffel zwinkert scheel und weiß wie sein Regisseur, dass das ein ganz schlechter Witz war. Und eben in diesem absichtsvollen Entgleisen der Pointen, den wuchernden Seitenhieben auf den "Genderdiskurs", body shaming oder das Regietheater weitet sich der Abend und wird zum Testlauf für die Freiheit der Kunst. Was kann man sagen, was hält sie aus? Nun, eine ganze Menge. Aber wozu?

Cyrano 4 Birgit Hupfeld uIm Duett der Clownerien: Vincent Glander und Florian von Manteuffel © Birgit Hupfeld

Zunächst muss die Kunst sich-aufplusternde Künstler-Egos aushalten. Die beiden Schauspieler überbieten einander im Platzeinnehmen. Manteuffel mit Koprolalien und metatheatralem Wettern – "Ist dir klar, dass man uns zusammengestrichen hat? Was soll der Scheiß?" – Glander mit sonorem Gesang und französisch-italienischem Parlando – und beide mit Clownereien. Ihnen dabei zuzuschauen, macht Spaß, auch wenn sich die Aktionen eher an eine Déformation professionnelle zurückbinden lassen als an die Vereinsamung breiter Gesellschaftsschichten, die im Programmheft belegt wird.

Was ist der Schauspieler im Popo-Theater?

Der Abend reißt Fragen an wie: Was ist der Schauspieler noch im "Vollkasko-" oder "Popo-Theater"? Entertainer, Animateur? Was treibt den Künstler zur Kunst? Welches ist die Rolle des Souffleurs, der der Dichter Cyrano ja eigentlich für Christians Liebesgesänge ist? Es bleibt meist bei den Fragen und geht nie tief. Aber Latella stellt sie ganz schön. Mit Aktionen, die die selbstreferenzielle Mechanik des Stückes Bild werden lassen: Irgendwann fährt Vincent Glander in einem seltsamen Kastenwagen auf die immer noch leere Bühne, der sich als Miniaturversion der Residenztheaterbühne entpuppt.

Auch ein kleineres Cuvilliéstheater rollt herein, hinter dessen Rokokoportal jede Menge Knollennasen liegen. Und bevor Einsamkeit B noch einen Marstall-Kasten entdeckt und liebevoll dekoriert, womit die Spielstätten des Bayerischen Staatsschauspiels komplett sind, drehen sich die beiden Schauspieler mit und um diese Bühnen. Sie tanzen sehr ernst und eifrig. Anklänge an den Barocktanz sind zu sehen und die plötzliche Galanterie zweier Menschen, die einen Kaltstart in Sachen Nähe hinlegen müssen. Das ist vielleicht die schönste Szene des Abends, weil man in ihr spürt, wie viel Arbeit es uns kostet, Distanz zu überwinden, jenseits von Palaver, Ironie und flotten Sprüchen.

Cyrano de Bergerac
nach Edmond Rostand
in einer Bearbeitung für zwei Einsamkeiten von Antonio Latella und Federico Bellini
Aus dem Italienischen von Francesca Spinazzi
Regie: Antonio Latella, Bühne: Giuseppe Stellato, Kostüme: Graziella Pepe, Musik : Franco Visioli, Choreografie und Kampftraining: Francesco Manetti, Licht: Barbara Westernach, Dramaturgie: Federico Bellini, Katrin Michaels.
Mit: Florian von Manteuffel und Vincent Glander.
Premiere am 24. September 2021
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.residenztheater.de

 

Kritikenrundschau

Yvonne Poppek schreibt in der Süddeutschen Zeitung (online 26.9.2021, 19:03 Uhr), Latella und Bellini hätten "Cyrano" komplett "entkernt". Im Marstall gäbe es "etwas ganz Anderes": einen Abend über das Theater, "anspielungsreich, selbstreferenziell, derb-komisch". An manchen Stellen seien die Ideen mit Regisseur und Schauspielern durchgegangen, sonst gehe es auch mal "um Anus und Phallus". Alles Theater sei "Wortkulisse und Gestik". Es sei "ein Klamauk" mit zwei großartigen Schauspielern, die Latella bis an ihre Grenzen gehen lasse. Der zweite Teil verlöre an Tempo und streue "Bezüge vielfältig". Genderdebatte, Kürzungen im Kulturbereich, Me Too. Viel sei "schlichte Behauptung". Was Sinn habe und welchen Sinn, sei "irgendwann wurscht". Eine "Party mit lustigen Knalleffekten" feiert den Imaginationsraum der Bühne.

"Man spielt das Stück nicht, man spricht darüber: in ego-streichelnden Monologen und unersättlichen Assoziationen, über das Wesen des Souffleurs etwa oder den Kulturraum der Nase, lebhaft vorgeführt an silikonplastischen Charakterstudien zwischen Commedia dell’arte und "Comédie bavaroise“, schreibtTeresa Grenzmann im Münchner Merkur (27.9.2021). In der Bearbeutung falle vieles weg, so die Kritikerin. "Was bleibt, ist ein Duo für zwei hemmungslos komische Schauspieler, die sich nach dem übersprudelnden Motto „Das Wort ist im Theater frei“ zwischen Deutsch, Französisch, Italienisch, vier Jahrhunderten, Cembalo und Chill-out-Bässen (Musik: Franco Visioli) in ein wahnwildes Wortgefecht stürzen."

Museal findet Mathias Hejny in der AZ (27.9.2021) den Zugriff auf den berühmten Stoff. Was die Sache für ihn dennoch erfrischend macht, ist das Duo Glander & Manteuffel. "Selbst gut abgehangene Schaupielerübungen kommen kraftvoll über die nicht vorhandene Rampe."

Kommentare  
Cyrano, München: muss man nicht
Selbstreferienzelles Stück über Theater: Soll man alte Stücke spielen, wenn ja wie, oder muss Theater anders und neu sein. Der Text (wohl übersetzt aus dem italienischen) kalauert an vielen Stellen gnadenlos herum; was sich irgendwie nach Tiefsinn anhören soll ist bei näherer Betrachtung doch ziemlich beliebig daherassoziiert. Die Schauspieler machen ihre Sache gut, zwischendurch wird es sogar kurz mal lustig. Am Ende zieht sich das Ganze aber dann doch sehr, das Getanze dauert elend lange. Fazit: Muss man nicht unbedingt, und kürzer wäre besser.
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