Fest der Frauen

Karlsruhe, 2. Oktober 2021. "Medea. Stimmen" war 1996 der Versuch von Christa Wolf, den männlichen Blick auf diese Figur abzustreifen und das patriachale System kenntlich zu machen. Anna Bergmann hat den Stoff jetzt für die Bühne adaptiert.

Von Steffen Becker

Fest der Frauen

von Steffen Becker

Karlsruhe, 1. Oktober 2021. Medea ist uralt, also der Stoff (antik). Dass offen machtausübende Frauen der Gesellschaft suspekt sind, ist zeitlos (aktuell). Anna Bergmann nimmt sich des Stoffs in der Überschreibung "Medea. Stimmen" von Christa Wolf an. Die Autorin entkleidete damals, im Jahr 1996, den Mythos von Medea von allem, was sie dem patriarchalen Blick auf selbstbestimmte Frauen zuschrieb. Was sich im Fall der Medea-Erzählung auf mehrere Morde summiert (ihre Kinder, ihren Bruder, die neue Angetraute ihres Ex). Wolf hatte den Stoff angelegt als Monologe anderer Figuren aus dem Mythos über Medea.

Bild und Gegenbild

Für ihre Bühnenadaption wählt Regisseurin Anna Bergmann für die Geschichte von Medea als Kämpferin gegen die männliche Logik der Macht eine Form, die den Monologen ästhetisch nahekommt. "Medea. Stimmen" setzt im Exil in Korinth ein, lange nach der Eroberung des Goldenen Vlies. Medea reagiert oft in Richtung Publikum auf Versuche, sie als wahlweise als triebhaft, hintertrieben, maßlos oder vermessen zu zeichnen. Oder ihre Antworten richten sich direkt ans Gegenüber, wirken aber wie ein Gegenschnitt. Als wären beide Seiten getrennt interviewt worden.

medea 204thorstenwulff 600Im Labyrinth aus Glas: Sarah Sandeh als Medea © Thorsten Wulff

Dazu passt, dass Bergmann Medea in ein Gefängnis setzt. Die Bühne ist unterteilt in Glaskästen vor einer Leinwand, die filmische Rückblicke zeigt. Medea tigert im kleinsten, exponiertesten Kasten. Sie steht kurz vor dem Fall und unter großem Rechtfertigungsdruck. Interaktion gibt es allerdings auch im Glaslabyrinth. Die Scheiben sind zum Schluss ganz verschmiert durch Tasten, Schlagen, Lecken, Dagegen-Werfen und sexueller Reibung. Und werden damit auch in ihrer Symbolik sichtbarer: Medea passt nicht, da ist eine immer dicker werdende Trennlinie zwischen der selbstbestimmten Frau und denen, die sie dafür brandmarken – als Wilde, als Fremde, als Flüchtling. Aber das Plexiglas ist nicht dick genug, um sich vor ihr sicher zu fühlen.

Intrigantinnen im Hintergrund

Anna Bergmanns Inszenierung zeigt argwöhnische Menschen, die auf jede Regung der Bühnen-Medea fixiert sind. Dass das auch für das Publikum gilt, liegt vor allem an der Darstellung von Sarah Sandeh. Ihre Medea verzweifelt an der Welt und an sich selbst. Eine Frau, die das falsche Spiel um sich herum erkennt, aber auch nicht weiß, was richtig gewesen wäre. Sie wütet, sie weint, sie begehrt auf, sie gibt sich auf. Sandeh verleiht ihrer Medea tragische Fallhöhe und zeigt die antike Figur dennoch als Mensch, mit dem sich ein Publikum 2021 emotional identifizieren kann.

Regisseurin Bergmann macht die Inszenierung zu einem Fest der Frauen. Medeas Schülerin Agameda verrät sie aus Missachtung. Swana Rode spielt das als neurotisches Pick-Me-Girl. Das darum bettelt, als Frau einen Platz im patriarchalen System zu finden, indem es genau nach seinen Regeln spielt. Den Berater des Korinther Königs macht Bergmann zur Astronomin Akama. Sina Kießling spielt das mit Betonfrisur und einer Mischung aus Thatcher (Frau mit Macht, die ihr Frau-Sein verleugnet) und Intrigantin im Hintergrund (denn diskret dürfen auch Frauen herrschen). Kießling bringt das so fies, herablassend, aber auch selbstreflektierend auf die Bühne, dass es definitiv zu den Highlights des Abends gehört.

medea 252thorstenwulff 600 Sarah Sandeh (Medea) und Frida Österberg (Glauke) © Thorsten Wulff

Die Stärke der Regie zeigt sich aber auch daran, dass sie trotz Frauen-Fokus die männliche Hauptfigur mit Facetten ausstattet. Thomas Schumachers Jason ist als Wikinger-Beau gecastet, dem aufgrund von Geschlecht, Status und Aussehen alles zufliegt, was Medea verwehrt bleibt. In "Medea. Stimmen" ist er dennoch kein Abziehbild. Schumacher zeigt ihn im Zwiespalt, als jemand, dem die Entwicklung zu Medeas Vernichtung nahe geht, aber die ihr innewohnenden Strukturen mitträgt.

Hintersinniger Kommentar

Trotzdem ist der Genuss des Abends nicht ungetrübt. Bergmann besetzt etwa die Rolle der Korinther Königstochter Glauke, die von Medea geheilt und von Jason aus Gründen der Machterlangung umworben wird, mit einer Sängerin. Frida Österberg ist dem auch schauspielerisch gewachsen und singt in ihrem Part Auszüge aus Luigi Cherubinis Opernversion des Medea-Stoffs. Diese Arien beschreiben Medea als Täterin, sagen textlich also genau das Gegenteil von dem, was auf der Bühne passiert. Das kann man als hintersinnigen Kommentar zur Wirkungsgeschichte des Stoffs verstehen – aber nur, wenn man das Begleitheft gelesen hat.

Dem Rest des Publikums bleibt diese Ebene mangels Übersetzungslaufband oder Italienisch-Kenntnissen verborgen. Auch die Filmeinspielungen mit Rückblenden überzeugen nicht. Sie sind aufwendig gemacht, im Stil alter Historienschinken, in warmen Farben, die die Verklärung des Vergangenen symbolisieren. Aber sie wirken im Vergleich zum differenzierten Kammerspiel auf der Bühne platt. Hinter dem Glaskasten-Labyrinth gehen sie auch visuell unter. Hier überfrachtet Bergmann ihre Inszenierung, die ansonsten eine sehr fokussierte und zeitgemäße Bearbeitung des Stoffes bietet.

 

Medea. Stimmen
von Christa Wolf
Bühnenfassung von Anna Bergmann
Regie: Anna Bergmann, Bühne: Jo Schramm, Kostüme: Lane Schäfer, Wicke Naujoks, Musik: Hannes Gwisdek, Video: Sebastian Pircher, Licht: Aljoscha Glodde, Dramaturgie: Anna Haas.
Mit: Sarah Sandeh, Thomas Schumacher, Swana Rode,Frida Österberg, Sina Kießling, Jannek Petri, Andrej Agranovski, Sebastian Schuppener, Bence Szabo, André Wagner, Lisa Schlegel, Tom Gramenz a.G, Jens Koch, Gunnar Schmidt, Antonia Mohr, Chris Koch.
Premiere am 1. Oktober 2021
Dauer: 2 Stunden 15 Minuten, keine Pause

www.staatstheater.karlsruhe.de

 

Kritikenrundschau

Von intensivem, diskussionswürdigem Theater, "wie man es im Schauspiel des Badischen Staatstheaters lange nicht sah",  spricht Georg Patzer im Badischen Tageblatt (4.10.2021). Zwar findet der Kritiker machnches "überstilisiert, auch überdeterminiert". Trotzdem sah er einen gelungenen Abend in einer überzeugenden Bildsprache mit starken schauspielerischen Leistungen, vor allem Sarah Sandeh als Medea.


"Wieso sollen Frauen in Machtpositionen freundlicher sein als Männer?", fragt Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung (5.10.2021) und findet Belege in dieser Inszenierung, deren Schauspielerinnen er hervorhebt: "Die grandios brodelnde Sarah Sandeh, das eigentümliche Körperwesen Swana Rode als Medeas einstige Schülerin, Sina Kießling als Akama, Machtstrategin in Korinth, eine gnadenlose Margaret Thatcher." Die Inszenierung besitze "irrsinnige Kraft und eine eisige Temperatur, an der man sich Brandblase holt", so Tholl.

 

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