Orlando - Schauspiel Köln
Party in der Hand Gottes
Köln, 3. Oktober 2021. In Virginia Woolfs "Orlando" beginnt die Hauptfigur als Junge und endet als verheiratete Lady. Nicht ohne Aufheben davon zu machen. Lucia Bihler inszeniert den Roman jetzt in Köln als barocke Feier fluider Weiblichkeit.
Von Martin Krumbholz
Party in der Hand Gottes
von Martin Krumbholz
Köln, 2. Oktober 2021. Orlando, er oder sie, die Titelfigur des berühmtesten Romans von Virginia Woolf, ist wohl nach wie vor die prominenteste diverse Erscheinung der Literatur. Und das, obwohl seit ihrem Auftauchen schon fast ein Jahrhundert vergangen ist. 1928 kam das Buch der britischen Autorin heraus, dessen Handlung einige hundert Jahre umfasst, vom elisabethanischen Zeitalter bis zur unmittelbaren Gegenwart der Verfasserin. Es nennt sich "eine Biographie", und gegen Schluss bemerkt Woolf, unser Ich sei gestapelt "wie Teller auf dem Arm eines Kellners", das eine Ich komme nur, wenn es regnet, ein anderes offenbare sich nur in einem Zimmer mit grünen Vorhängen.
Die offensichtlichste Diversifizierung, die Woolf vornimmt, ist eben die, dass sie ihren Protagonisten nach drei Kapiteln das Geschlecht wechseln lässt, nicht ohne von dieser Transformation ein gewisses Aufheben zu machen. Orlando beginnt als Junge und endet als verheiratete Lady.
Transformatorische Spielwiese
Dass auch im Kölner Depot 1 Objekte und Schauwerte gestapelt werden wie Teller auf dem Arm eines Kellners, ist auf den ersten Blick offensichtlich. Die von Wolfgang Menardi eingerichtete Bühne präsentiert sich als Environment, bestehend aus gotischen Fenstern, Waschgelegenheiten, einer Varietébühne auf der Bühne, Albrecht Dürers Adam und Eva, Betten, einem Sekretär mit Telefon, Monitoren, zwei marmorähnlichen Skulpturen von Händen und etlichem anderen Zubehör.
Ein bühnen- und kostümreicher Garten Eden in Lucia Bihlers "Orlando" © Birgit Hupfeld
"Überladen" könnte man das Ganze nennen. Ginge man rein von der Optik aus, ein wenig sperrig, betrachtete man es eher als Spiel- und Tanzfläche. Denn das hybride Format dieses Abends soll ja nicht zuletzt aus choreografischen Elementen bestehen: Immerhin fünf der sieben Beteiligten sind Tänzer und Tänzerinnen.
Barocker Überfluss
Lucia Bihler ist eine intelligente Regisseurin, deren schnelles Gehirn gelegentlich eine Umdrehung zu viel riskiert, sodass sie den willigen Zuschauer nach einer Weile sozusagen abwirft wie ein ungestümes Pferd seinen blauäugigen Reiter. Dass weniger manchmal mehr sein könnte, ist der Fantasie dieser Künstlerin (noch) fremd. Die Optik, auch was die Kostüme betrifft (von Andy Besuch), ist zunächst frappierend.
Bihler hat eine spezielle queere Ästhetik entwickelt, die ihr Markenzeichen ist, üppige Outfits, Bonbonfarben, Plateauschuhe, Röcke. Eine fluide Weiblichkeit, die sich nicht eingrenzen lässt. Gleichzeitig stellt sich jedoch eine Art Uniformierung ein, von der man sich fragen kann, ob sie der von Woolf vorgestellten Fluidität tatsächlich entspricht. Nicht selten tragen alle Sieben die gleichen (schwarzen) Röcke und (weißen oder lindgrünen) Blusen oder Pullover. Sie spielen ja auch alle Orlando, schon richtig.
Weich gebettet in der Hand Gottes: Tänzerin in "Orlando" © Birgit Hupfeld
Aber wird dieser Mensch im Überfluss der Äußerlichkeiten greifbar? Erstaunlich brav folgt die Dramaturgie des Abends dem Plot des Buchs. Eine Station nach der anderen wird zumindest flüchtig gestreift, von der "kleinen Eiszeit" im 17. Jahrhundert über die Episode als Gesandter in Konstantinopel bis hin zur Gegenwart des 20. Jahrhunderts, die auch die des "2. Oktober 2021" sein könnte, wie es am Schluss vielsagend heißt.
"What is life?"
Es geht rasant, aber es geht nicht tief. So sehr die Vorlage sich zur Adaption anzubieten scheint (mehrere Verfilmungen sprechen dafür), so sehr sperrt sie sich gleichzeitig auch dagegen. Denn Woolfs Prosa lebt von ihrem Witz, ihrem Esprit, also von ihrer Sprache. Katharina Schmalenberg und Yuri Englert, die die meisten Textpartien zu bewältigen haben, kämpfen spürbar damit. Sie hetzen durch den Abend beziehungsweise die Jahrhunderte, halten sich nirgendwo länger auf, es sei denn, sie ringen um Atem; äußerst tapfer ist das zweifellos, aber auch ein bisschen vergebliche Liebesmüh.
Auftritte auf der Varieté-Bühne: Ensemble in "Orlando" © Birgit Hupfeld
Und der Tanz, den Bihler mit dem Ensemble gemeinsam entwickelt hat? Ist von vornherein limitiert durch die Hürden des Parcours. Die Varietébühne in der Mitte gestattet wirkungsvolle Auftritte, etwa der sogenannten jungfräulichen Königin in einem bombastischen Glitzer- und Faltenkostüm. Aber sie bleiben statisch, wie sich überhaupt der Abend einer ideellen Dynamik letztlich verweigert. "What is life?", wird irgendwann gefragt, und höchst sonderbar kokett erklärt Englert dann, naja, das wisse man leider selbst nicht und könne man also dem lieben Publikum auch nicht mitteilen. Wie schade! Was nützt all die Fluidität, wenn im Fluss der Dinge nicht hin und wieder ein Körnchen Erkenntnis treibt?
Orlando
nach Virginia Woolf
Regie: Lucia Bihler, Choreografie: Lucia Bihler und Ensemble, Bühne und Video: Wolfgang Menardi, Kostüm: Andy Besuch, Komposition und Sounddesign: Jacob Suske, Licht: Jürgen Kapitein, Dramaturgie: Sarah Lorenz.
Mit Margarida Isabel de Abreu Neto, Martina Chavez, Jemima Rose Dean, Yuri Englert, Mason Manning, Katharina Schmalenberg, Long Zou.
Premiere am 2. Oktober 2021
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause
www.schauspiel.koeln
Nach Lucia Bihlers Inszenierung von "Der endlose Sommer" wirke eine "Orlando"-Adaption wie der logische nächste Schritt, schreibt Christian Bos im Kölner Stadtanzeiger (4.10.2021). "Ebenso die Idee, auf Tänzer aus Richard Siegals Ballet of Difference zurückzugreifen: Schließlich ist der Roman in ständiger genderfluider Bewegung." Leider funktioniere das auf der Bühne im Depot 1 überhaupt nicht, so Bos. "Auch weil die schlicht zu vollgestellt ist, als dass noch ausreichend Platz zum Tanzen
bliebe. Vor allem jedoch, weil Bihlers strenge Tableaus die Leichtfüßigkeit der Vorlage lahmlegen. Alle mögen dieselben Röcke und Blusen tragen, doch das überdecke nur die starre Arbeitsaufteilung." Und Bilder, die sich adäquat einbrennen, gelingen an diesem Abend nicht.
"Der Stoff passt auf den ersten Blick perfekt in unsere Gegenwart, auf den zweiten dann aber doch nicht so recht", schreibt Thomas Linden in der Kölnischen Rundschau (4.10.2021). Die Drehbühne von Wolfgang Menardi stelle sich als berdimensionales Uhrwerk dar, auf der sich die Geschichte gleich einer Nummernrevue abspule. Abgesehen von überlauten Glockenschlägen springe kein Funke Dramatik aus diesem Stoff. "Genderthemen sind angesagt, aber welchen Erkenntnisgewinn bieten sie abgesehen vom Appell, dass allein die Liebe die Richtung vorgibt und nicht das Geschlecht?" Das Ensemble trägt hautfarbene Ganzkörperanzüge unter den bildstarken Kostümen. "Zum Vorschein kommt eine Geschlechtslosigkeit, die wie die Quintessenz dieses Bühnenspektakels anmutet."
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Zum einen handelt sich bei dem Bild um Adam und Eva von Dürer, zum andern habe ich einen Abend erlebt,der gerade durch seine sehr kluge und kunstvoll barocke Fülle das so brandaktuelle Thema Geschlechteridentitäten endlich einmal auf eine äußerst sinnliche Weise thematisiert und nicht als reinen Diskurs und es ist ein Abend ,der die Vielfalt der Mittel ,und somit die Vielfalt des Menschen an sich feiert in einem visuell und akustisch bestechenden Assoziationsreigen, der diese wichtige Thema physisch und nicht rein intellektuell erfahrbar macht…Eine Seltenheit ..selten gab es auch eine so schöne Verknüpfung von Tanz und Spiel,bei der man irgendwann vergisst wer Tänzer und wer Schauspieler ist…wir scheinen einen völlig anderen Abend gesehen zu haben..
(Anm. Redaktion: Vielen Dank für den Hinweis auf Dürer. Wir haben das im Text an entsprechender Stelle verbessert. Mit freundlichen Grüßen, Christian Rakow)