Anne-Marie die Schönheit - Theater Freiburg
Vertrauen ins künstliche Knie
Freiburg, 3. Oktober 2021. Über die Untiefen bürgerlicher Werten führt Yasmina Reza in ihren Texten elegantest hinweg, auch in "Anne Marie die Schönheit". Ein Monolog, den Robert Hunger-Bühler in Freiburg spielt. Und Hochamt hält.
Von Jürgen Reuß
Vertrauen ins künstliche Knie
von Jürgen Reuß
Freiburg, 2. Oktober 2021. Am linken Bühnenrand ein Schminktisch, vier über die Bühne verteilte vitrinenartige, altbauhohe Kästen aus Kassettenfenstern. Die beiden vorderen in der Funktion als Kleider- und Vorratsschrank, die hinteren als Fenster und Tür, dahinter ein rotes Bett. Kaspar Zimpfers Bühnenbild setzt den Ton für Peter Carps Inszenierung von Yasmina Rezas "Anne-Marie die Schönheit" im Kleinen Haus des Theater Freiburg: Konzentration auf das Wesentliche – Text und Schauspielkunst. Mit vier Glaskästen ist der abblätternde Charme der großbürgerlichen Stadtwohnung einer alternden Diva in Paris zur Genüge beschworen – den Rest macht Robert Hunger-Bühler als Anne-Marie.
Schauspielerische Steilvorlage
Wobei "alternde Diva" nicht ganz stimmt. Anne-Marie war immer nur Nebenrolle, der Boulevard der Dämmerung war ihrer einstigen Kollegin Giselle vorbehalten. Eigentlich anstelle der bewunderten Stars selbst heller leuchten zu können, bleibt bei Anne-Marie der Phantasie vorbehalten – die ewig in ihr nagende Unruhe, nach der auch ihre Spielart der Bourgeoisie tickt. Gegen Ende ihres Lebens bekommt sie endlich das große Interview, darf alles erzählen, wie das damals war, als sie in der Provinz die Namen aller Schauspieler der Comédie von Saint-Sourd-en-Ger kannte, wie sie Giselle im Théâtre de Clichy zum ersten mal sah. Und später, als diese auf dem Höhepunkt der Karriere war, sie trotzdem als Freundin erkannte.
Inzwischen sind alle tot. Giselle, Anne-Maries Mann, sogar der von ihr bewunderte Hausarzt. Sie ist die letzte, die noch erzählen kann, aber wer will zuhören? Die Interviewer sind auch eher eingebildet als real anwesend. Es bleibt der Monolog. Für einen Schauspieler von der Qualität eines Robert Hunger-Bühler eine Steilvorlage, die er in Freiburg mit Bravour nutzt.
Leichtperliger Champagner
Seinem eigenen Anspruch, der Gefahr zu entgehen, "dass der Hunger-Bühler eine Frauenstudie oder eine Travestie spielt" oder die Rolle mit eigener biografischer Psychologisierung zu befrachten, wird er großartig gerecht. Es ist auch in Freiburg so, wie Hunger-Bühler es bei der Uraufführung in Paris mit André Marcon als Anne-Marie gesehen hat und ihn das Programmheft zitiert: "Nach 10 Minuten hatte man völlig vergessen, dass die Rolle von einem Mann gespielt wurde." Und all die wunderbaren Details, die er in sein Spiel einbaut – das noch nicht ganz wiederhergestellte Vertrauen ins neue Knie aus Titan, der bisweilen auftretende leichte Tremor, die kunstvoll flatternden Finger, mit denen er bei Bedarf Anne-Maries Nemesis Giselle Präsenz verschafft – dem schaut man gerne die eindreiviertel Stunden zu, in denen Anne-Marie sich von Hölzchen auf Stöckchen vertüddeln darf.
Regisseur Carp lässt ihm den Raum, aus der ewigen Nebenrolle eine beeindruckende Hauptrolle zu machen. Und das funktioniert hervorragend, das Stück ist eine Art Hochamt des Bühnenhandwerks. Ein Text, der Dank der Übersetzung von Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel auch im Deutschen wie ein Glas Champagner über seine Untiefen hinwegperlt.
Ein Spiel, dass dem stets auf der Oberfläche trippelnden Monolog nicht versucht, psychologisierende Fußfesseln anzulegen, und eine Regie mit dem passenden Setzkasten dafür. Ein so gelungener Abend, dass man sogar vergisst, dass er eine gewisse Perfidie beinhaltet: Während der Text sich wie eine Ode an die unbekannten Nebendarsteller geriert, ihre Namen am Anfang und Ende wie ein Manifest der Vergessenen deklamiert, wird auf der Bühne gezeigt, dass der großartige Starschauspieler selbst das eigene unbedeutende Leben der Begleitchargen brillanter verkörpert, als diese es je könnten.
Zurückgelehnt genießen
Oder, um es in den Worten verwandter mitfühlender Dichterseelen zu sagen: The winner takes it all / The loser's standing small / Beside the victory / That's her destiny. Aber auch das singt man ja gern mit, so wie man diese deutsche Erstaufführung von Yasmina Rezas Feier der Schauspielkunst zurückgelehnt genießen kann.
Begeisterter Schlussapplaus für Robert Hunger-Bühler, der nach rund 30 Jahren wieder mal im Theater Freiburg zu sehen war. Den Traum, von Anne-Marie, einmal in "Eines langen Tages in Nacht" zu spielen, hatte sich Hunger-Bühler damals schon erfüllt – eine der fest im kollektiven Gedächtnis Freiburger Theateraffcionados verankerte Inszenierungen von Jürgen Kruse.
Anne-Marie die Schönheit
Deutsche Erstaufführung
von Yasmina Reza, Deutsch von Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel
Regie: Peter Carp, Bühne: Kaspar Zwimpfer, Kostüme: Gabriele Rupprecht, Ton: Sven Hofmann, Dramaturgie: Anna Gojer.
Mit Robert Hunger-Bühler.
Premiere am 2. Oktober 2021
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause
www.theater.freiburg.de
"Der Mensch, der an den Tod denkt, ist nicht lächerlich. Er ist anrührend, mitleiderregend, zerbrechlich. Er ist wie wir", schreibt Hubert Spiegel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (5.10.2021). "In der souverän zurückhaltenden Regie des Freiburger Intendanten Peter Carp verneigt sich Robert Hunger-Bühler vor einer Frau, die der Schauspielkunst ihr Leben gewidmet hat, davon träumte, eine Schönheit wie Brigitte Bardot zu sein, aber bis zuletzt an den Provinzgrößen ihrer Kindheit festhält." Es seien kleine und kleinste Gesten, die den Abend bestimmen, ihm zu einer ungeheuren Dichte und Konzentration verhelfen: eindreiviertel Stunden große Schauspielkunst.
Vor Corona wäre es einfach ein Monolog über eine alternde Schauspielerin gewesen, die immer schon in der zweiten Reihe stand. "Nach der langen Pause ist es auch das Theater selbst, das nun für seine Relevanz aufspielt", schreibt Annette Hoffmann in der Badischen Zeitung (4.10.2021). In Freiburg steht Peter Carps Wunschbesetzung Robert Hunger-Bühler auf der Bühne und "tritt an, um das Unscheinbare scheinen zu lassen und jemandem Würde zu geben, der sich aus der nordfranzösischen Provinz aufmachte, um die Pariser Bühnen zu erobern und Nebenrollen spielte". Fazit: "Die gut 100 Minuten sind für einen Monolog reichlich lang geraten und überhaupt ziemlich konventionell – und doch möchte man keine der Gesten von Hunger-Bühler und keine Minute missen, die er Anne-Marie seine Stimme leiht. In Freiburg beweist das Theater seine Relevanz mit großer Schauspielkunst."
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