Theatermann unserer Zeit

4. Oktober 2021. Gestern wurde Robert Wilson aus Waco, Texas, 80 Jahre alt. Im Juni war er in Berlin bei der Eröffnung einer Ausstellung in der Akademie der Künste. "Alles Theater ist Tanz", hat der Meister damals gesagt. Unter anderem. 

Von Elena Philipp

Theatermann unserer Zeit 

von Elena Philipp

4. Oktober 2021. In Waco, Texas, ist er aufgewachsen, ohne Kunst und Kultur. Zog zum Studium der Malerei nach Paris und Mitte der 60er nach New York. Wo ihm die Kultur dann geballt begegnete: Robert Wilson. Heute wird er 80 Jahre alt. Und ist selbst einer der weltweit bekanntesten Künstler. Mit einer unverkennbaren Ästhetik.

All theater is dance

Herausgebildet hat sie sich (auch) in New York. Im Theater sah er dort nicht vieles, das ihm gefiel, aber er entdeckte den Tanz: die Bühnenwerke des Ballettformalisten George Balanchine und der Modern Dance-Ikone Martha Graham, die verspielten und doch rigoros strukturierten Zufallsexperimente des Avantgarde-Duos Merce Cunningham und John Cage. Und er lernte die Künstler:innen um die Judson Church kennen – Poet:innen, Komponist:innen, bildende Künstler:innen, Tänzer:innen –, in der Choreograph:innen wie Lucinda Childs oder Trisha Brown eine völlig neue, auf der Entspanntheit von Alltagsbewegungen und der Rigorosität der Repetition beruhende Tanzsprache entwickelten.

Robert Wilson C Hsu Ping HiResRobert Wilson © Hsu Ping"For me, all theater is dance", für mich ist alles Theater Tanz, sagt Wilson, als er im Juni dieses Jahres in der Berliner Akademie der Künste (AdK) die Filminstallation "Dancing in my Mind" über seine Weggefährtin Suzushi Hanayagi vorstellt. Eine japanische Meisterspielerin, die einer der größten Familien des Nô, Bunraku und Kabuki entstammte und die im Alter von über 50 Jahren den Familiennamen zurückgab, um in New York ihre eigenen Arbeiten zu entwickeln. Als Wilson sie kennenlernte, einen ersten ihrer Tänze sah, so erzählt er, lag sie fast reglos auf dem Boden, zuckte lediglich mit ihren Zehen, ganz in eine innerliche Bewegung versunken. "We immediately became vast friends", eine Wendung, die mit "wir wurden sofort dicke Freunde" nur unzureichend übersetzt ist.

Traumlogik

Formprinzipien seiner eigenen Arbeit schildert Wilson, wenn er, voll gemessener Begeisterung und mit beherrschtem Fokus als Spieler seiner selbst, in der AdK über die Künstlergefährt:innen spricht. Abstraktion und rigorose Struktur, Verspieltheit und aufs Detail geeichte Experimentierfreude sowie ein inneres Universum, aus dem sich die äußeren Bildwelten speisen: Das sind Elemente von Wilsons Theatersprache, die ihn rasch zu einem der International erfolgreichsten Theatermacher werden ließen – 1969 kam gleich eine seiner ersten Arbeiten, "The Life and Times of Sigmund Freud", an der Brooklyn Academy of Music heraus. Vielleicht, weil seine Arbeiten einer Traumlogik gehorchen, die unbewusst verständlich ist, ohne zu rationalem Verstehen zu verpflichten? Weil seine Ästhetik, die vom Look & Feel mit den stark geschminkten Gesichtern, opulenten Kostüme und dem starkfarbigen, gerichteten Licht dem Musical verwandt ist, ohne dessen narrativer Oberflächlichkeit zu entsprechen? Eine gezähmte Avantgarde, in deren stilisierten Bewegungen sich die Oper wiedererkennen lässt, das Ballett, aber auch die Puppenkästen der Jahrmärkte und die Grotesken des Stummfilms.

Zeit einfrieren und entfalten

Zuhören könnte man Robert Wilson ewig. Anekdoten, oft erzählt, ein Baukasten seiner Selbstauslegung, gibt der begnadete Performer auch an der AdK zum Besten. Wie er seinen Adoptivsohn vor Polizeigewalt und Institutionalisierung rettete und mit ihm gemeinsam Stücke wie "Deafman Glance" entwickelte, wie er entdeckte, dass der taubstumme Raymond feinfühlig auf Vibrationen reagierte, auf die Erschütterung eines Schwingbodens im Studio.

RobertWilson EinsteinOnTheBeach 2012 LucieJansch uIn Zeitlupe sich entfaltendes Geschehen: "Einstein on the Beach", 2012 in Montpellier © courtesy of Robert Wilson

Wilson erzählt von Forschern, die in verlangsamten Filmsequenzen die nonverbale Interaktion zwischen einer Mutter und ihrem Kind untersuchten und, zum Entsetzen der Mutter, neben liebevoller Bekümmernis auch Aggression, Panik, Überforderung entdeckten. Ein Anlass für Wilson, die Augenblicke auf der Bühne zu dehnen, Bewegung zu verlangsamen, um die in Millisekunden unseres Agierens gepressten widersprüchlichen Zustände aufzudröseln, chronologisch hintereinander zu reihen. Um die Zeit einzufrieren und zugleich zu entfalten. Wie in "Einstein on the Beach", der meditativen Dauerperformance mit Philip Glass und Lucinda Childs, die nach ihrer Entstehung 1976 in drei Welttourneen neu aufgelegt wurde.

Wunderschönes Stehen

Ums Geheimnis der Linie wusste Hanayagi auch, erzählt Wilson weiter, einer energetischen Linie, die, von einer minimalen Bewegung ausgehend, durch den ganzen Raum schwingen kann, die sich fortsetzt, auch wenn der Körper, der sie aussandte, längst wieder oder stets nur still zu stehen scheint. Stehen: eine der schwierigsten Aufgaben überhaupt im Theater, doziert Wilson, der als Lehrer und als Leiter seines Watermill Centers auch mit Nachwuchskünstler:innen wirkt. "She could stand so beautifully", sagt er über Hanayagi und hängt einen Moment seinen Gedanken nach, eine Leine auswerfend zu seiner 2010 verstorbenen Freundin, die er mit Berührungen und der Erinnerung an gemeinsame Gesten noch einmal aus der Katatonie des Alzheimers und für einen letzten Tanz aus ihrer inneren Welt lockte, wie die Filmaufnahmen in der Ausstellung belegen. "It was so powerful", es war so kraftvoll, ihr wunderschönes Stehen. Und Hanayagis Praxis eine Bestätigung für ihn, der Theater nie gelernt hatte, aber intuitiv die gleiche Sprache sprach wie die japanische Bühnenkünstlerin.

RobertWilson KOOL 2009 PavelAntonov u"KOOL – Dancing in My Mind" 2009 in New York: Tanz vor den Händen von Suzushi Hanayagi © Pavel Antonov 

Beeinflusst von asiatischen Ästhetiken sieht er sich nicht, hat sie nicht studiert. Vielleicht ist es ein Gleichklang oder seine Arbeit gehorcht einem Ähnlichkeitsprinzip. Als wir ihn in einer kleinen Privataudienz mit zwei Radiojournalisten sprechen dürfen, ist eine Ungeduld mit Nachfragen zu spüren. Wilson weicht, ganz Zen-Meister, von der Linearität der Sprache ab und in Gleichnisse aus. Was werden sie als nächstes machen, zitiert er die Frage eines Journalisten an Gertrud Stein. "I think I will have a glass of water."

Arbeiten wie Sternschnuppen

Von einem Glas Wasser zum nächsten und dazwischen die Kunst: Er ist so oft gefragt worden! Wer etwas wissen möchte, der soll eine seiner unzähligen Theater- oder Opern-Inszenierungen ansehen. Verständlich, diese Unruhe. Immerhin ist Robert Wilson 80 Jahre alt – etwas, das man mit seiner energievollen Präsenz kaum zusammenbringt – und er hat zu arbeiten. Nach wie vor fünf Projekte gleichzeitig, wie er auf Nachfrage sagt. Ein ganzes Arbeitszimmer voller Papiere. "My work is my life", die Arbeit ist sein Leben. Lang wie ein strömender Fluss, er selbst ein Baum, der seine Blätter verliert und neue austreiben lässt, beständig im Wachstum. Wie will er erinnert werden? Gibt er seine Arbeiten weiter, werden sie auch in Zukunft aufgeführt? "I never made works that were intended to be seen in the future. My works are works of our times. These works were like shooting stars, they would never happen again." Arbeiten unserer Zeit, flüchtig wie Sternschnuppen: Robert Wilson, dem Großmeister der schwingenden Präsenz, des stillstehenden, mannigfaltigen Augenblicks, den herzlichsten Glückwunsch zum Geburtstag!

 

elena philipp kleinElena Philipp ist Redakteurin von nachtkritik.de und tanzraumberlin und schreibt als freie Journalistin für diverse Medien. Sie ist Co-Moderatorin des Theaterpodcast, Mitherausgeberin des Buches "Theater und Macht", erschienen in der Schriftenreihe der Heinrich Böll Stiftung. Im September war sie Co-Kuratorin der eintägigen Konferenz "Theater und Netz" in Berlin.

 

Mehr zu Robert Wilson:

- Die Solidaritätserklärung von Robert Wilson für die Freiheit und Unabhängigkeit von Kunst und Lehre in Ungarn vom 18. September 2021

- Texte über Arbeiten von Robert Wilson auf nachtkritik.de gibt es hier.

 

mehr porträt & reportage