Was es bräuchte, das ist eine Revolution

Berlin, 8. Oktober 2021. Édouard Louis, Soziologie-Popstar, konfrontiert in seinem Essay "Qui a tué mon père?" den ewigen Wunsch, vom Vater anerkannt zu werden. Und verwebt in der Solo-Show, inszeniert von Thomas Ostermeier an der Schaubühne, Biografie mit Kontexten von Armut, Gewalt und Homophobie.

Von Gabi Hift

Was es bräuchte, das ist eine Revolution

von Gabi Hift

Berlin, 7. Oktober 2021. Bei Einlass sitzt Édouard Louis schon auf der Bühne, er sieht sehr jung aus, wie er in seinem grauen Kapuzenpulli etwas in den Laptop tippt und dabei mitspricht. Gleich wird er etwas unternehmen, was gefährlich schiefgehen kann: er wird sich selbst spielen, was, wie jeder Theatermensch weiß, zum Schwersten überhaupt gehört. "Sei doch einfach ganz du selbst" ist eine im Leben wie auf der Probe gefürchtete (dumme!) Anweisung.

Wer hat meinen Vater umgebracht 2 Jean Louis Fernandez u Soziologie-Popstar Édouard Louis im gefährlichen Vorhaben "man selbst" zu sein © Jean-Louis Fernandez

Allerdings ist Édouard Louis, Jahrgang '92, berühmt, ein veritabler Popstar der Literatur und der Soziologie, die Leute kommen, um ihn zu sehen. Seine drei autobiografischen Romane stellen den Zusammenhang zwischen Armut, Gewalt, Homophobie, Rassismus und den Verwüstungen her, die die neoliberale Politik der vergangenen Jahrzehnte angerichtet hat.

Der Anfang von Louis

In seinem ersten Roman von 2014 "Das Ende von Eddy" beschreibt er, wie er als schwuler Junge in einem nordfranzösischen Arbeiterort aufwächst: als verachteter Außenseiter, vom Vater, Bruder und den Mitschülern gequält. Erleichtert ist man, dass es dem 14-jährigen Eddy am Ende gelingt zu entkommen – die Theater-AG der Schule ist seine Rettung (wie bei vielen). Aber wo er im ersten Buch in ein besseres Leben fliehen kann, kehrt er in diesem neuen Buch zurück. Vorbild ist "Die Rückkehr nach Reims" seines Mentors und Freundes Didier Eribon. Louis ist nun ein erfolgreicher Intellektueller in Paris, der Vater, das früher gefürchtete Monster, ist jetzt ein Krüppel, kann nach einem Arbeitsunfall nicht mehr in der Fabrik arbeiten, ein Wrack, ein Alkoholiker.

Auf der Bühne steht am Rand ein leerer alter Polstersessel mit einer karierten Wolldecke – Louis stellt sich den Vater darin sitzend vor, in dessen Richtung stellt er Fragen, auf die er keine Antworten erhält. Im Hintergrund laufen auf einer Leinwand Bilder von endlosen Straßen inmitten von tristen Orten, abgeernteten Feldern. Die Straßen, auf denen der junge Louis endlich in Richtung Stadt entkommen ist. Auf der Straße hat er auch die wenigen glücklichen Momente mit dem Vater erlebt. Dieser brutale Mann, der auf alles Verweichlichte und Verweiblichte losging – im lebenslangen Kampf darum, ein echter Mann zu sein – hatte eine CD von Céline Dion im Auto und sang dazu bei betrunkenen Ausfahrten ins Blaue. Und der kleine Eddy sang mit.

"Papa, schau!"

Jene Szenen, in denen der erwachsene Édouard Louis von heute sich erinnert oder Fragen an den Vater stellt, spielt er nicht, sondern spricht sie einfach, hochkonzentriert, mit sanfter Stimme, und zeigt an der Oberfläche keine Gefühle. Aber weil er ganz weich und durchlässig bleibt, schwingt aus der Tiefe etwas mit, das man nur ahnen kann. Diesen stillen Gestus gibt Louis auf, sobald er sich in das Kind von damals verwandelt. Unter dem Kapuzenpulli kommt ein Pokemon T-Shirt hervor und der kleine Eddy entpuppt sich als leidenschaftlicher Playbacksänger.

Wer hat meinen Vater umgebracht 3 Jean Louis Fernandez uEin Gespräch mit Abwesenden ist immer ein Selbstgespräch © Jean-Louis Fernandez

Dabei kehrt eine Szene als eine Art Leitmotiv immer wieder. An einem Abend, an dem viele Leute bei den Eltern zu Gast sind, will er für die Erwachsenen eine Show aufziehen. Er probt mit den anderen Kindern einen Song der Gruppe Aqua, dann treten sie im Wohnzimmer auf – Eddy als Leadsängerin, die anderen als Chorus. Aber sein Vater schaut einfach weg. Allen anderen gefällt es. Eddy, verzweifelt, sagt immer wieder "Papa, schau!" und macht immer größere exaltiertere Bewegungen. Solange, bis der Vater raus geht, eine rauchen – und Eddy begreift, dass er irgendwas falsch gemacht haben muss. Dieser immer weiter gesteigerte verzweifelte Kampf um die Anerkennung des Vaters zerreißt einem das Herz.

Wer sich ein Leben lang nach der Liebe von Eltern sehnt, die ihn gequält haben, bleibt gefangen. Aber auch wer ein Leben lang hasst. Und so sucht Louis nach Momenten, die ihm einen anderen Vater zeigen, den er verstehen kann. Die Mutter erzählt ihm, dass der Vater als junger Mann nach Südfrankreich abgehauen ist und zusammen mit einem Araber (er, der Rassist!) ein ganz anderes Leben versucht hat. Sie erzählt auch, dass er ein leidenschaftlicher Tänzer war (er, der alles Weibische verachtet). Und ein Foto taucht auf, auf dem der Vater als Frau verkleidet ist und glücklich aussieht.

Nach der Tanzszene geht Eddy zum rauchenden Vater hinaus und bittet ihn um Verzeihung. Der Vater sagt: Mach dir nichts draus, ist schon gut.

Chirac the Ripper

Im letzten Teil findet eine Art Exorzismus statt. Die Brutalität des Vaters wird auf die ihrerseits brutale Zerstörung seiner Lebensmöglichkeiten und seines Körpers durch die Politik zurückgeführt. Zum Erfolg im Leben gehört es für ihn, Arbeit zu haben, Geld für die Familie zu beschaffen, auf das eigene Leben stolz sein zu können. All das hat der Vater sukzessive verloren, die Politiker denunzieren die Sozialhilfeempfänger als arbeitsscheue Schmarotzer, kürzen die Leistungen, zwingen den Vater, mit seinem kaputten Rücken als Straßenkehrer zu arbeiten. Édouard Louis verwandelt sich vom verletzten Kind in einen Ankläger, der sich zum Rächer der Menschen erklärt, die ihm die Kindheit zur Hölle gemacht haben.

Wer hat meinen Vater umgebracht 1 Jean Louis Fernandez uLouis wird zu Eddy wird zum Vaterrächer-Superhelden © Jean-Louis Fernandez

Das ist auf dem Papier etwas zweifelhaft. In der Inszenierung funktioniert es aber großartig. Es ist nämlich nicht der erwachsene Édouard Louis, der zum Rächer wird. Es ist das Kind, das sich ein Superheldenkostüm wie vom Fasching anzieht – Cape und Maske – und Fotos der Männer an eine Wäscheleine hängt, die seinen Vater fertiggemacht haben (und damit mittelbar auch ihn): Chirac, Sarkozy, Hollande, Macron. Der Superheld verliest ihre Untaten und beschießt die Bilder mit Sylvesterkrachern. Sie sollen als Monster in die Geschichte eingehen, verlangt er, wie Richard III und Jack the Ripper!

Für mich soll's rote ...

Sein Vater hat sich verändert. Er hat gesagt, es sei gut, dass Louis sich politisch engagiert. "Ich glaube, was es bräuchte", sagt er, "das ist eine ordentliche Revolution."

Man kann die politische Agenda von Louis allzu simpel und plakativ finden – aber den Kindersuperhelden, der den eigenen Vater rächt und sich nicht mehr schämen muss ihn zu lieben, der begeistert auf jeden Fall. Beim Applaus regnet es rote Rosen, und nun entspannt sich Louis, die Ernsthaftigkeit fällt ab, er hat Tränen in den Augen und lacht und umarmt Ostermeier und murmelt immer wieder "Merci".

Es ist eine beeindruckende Darbietung, sehr klug gemacht in ihrer Schlichtheit, die ganz außergewöhnlich zu Herzen geht.

 

Qui a tué mon père (Wer hat meinen Vater umgebracht)?
von Édouard Louis
Koproduktion mit dem Théâtre de la Ville Paris.
Inszenierung: Thomas Ostermeier, Video: Sébastien Dupouey, Marie Sanchez, Bühne: Nina Wetzel, Kostüme: Caroline Tavernier, Musik: Sylvain Jacques, Dramaturgie: Florian Borchmeyer, Produktion / Dramaturgie: Elisa Leroy, Licht: Erich Schneider.
Mit: Édouard Louis.
Premiere am 7. Oktober 2021
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.schaubuehne.de

 

 

Kritikenrundschau

Patrick Wildermann schreibt im Berliner Tagesspiegel (online 9.10.2021, 16:43 Uhr): Vor den "melancholisch grundierten Videobildern" von Sébastien Dupouey und Marie Sanchez webe der Autor als Hauptdarsteller Erinnerungen an "Tanzlust" und "Titanic" mit den "Reflexionen der Bedingungen" zusammen, die es dem Vater "verunmöglicht haben, zu werden, wer er hätte sein können". Und man frage sich, wieso es in Deutschland keine Schreibenden gäbe wie Édouard Louis, Didier Eribon, Geoffroy de Lagasnerie, die "über das Persönliche so präzise das politische Gefüge mit seinem ganz realen Klassengefälle" kenntlich machten.

Doris Meierhenrich freut sich in der Berliner Zeitung (online 10.10.2021, 16:59 Uhr) über das diesjährige FIND-Festival: in inhaltlicher und ästhetischer "Breite" habe es "biografische Erzählweisen" präsentiert, "die aus dem persönlichen Ansatz heraus dennoch Welt wendende Kraft anmeldeten". Nicht "nur klüger, sondern auch stärker und manchmal sogar glücklich" sei die Kritikerin aus den Abenden entlassen worden. Edouard Louis' Soloperformance fege alle Vorbehalte, hier handele es sich um die "Weiterverwertung seiner verkaufsstarken Essay-Literatur" beiseite. Der ironisch pathetische Kampf als Superheld im Finale mache "greifbar", wie "Politik in die Körper der Armen kriecht". Grandios wie Louis das Wagnis seines laienhaften "Ich-Spiels" als politisches Aufklärungstheater nutze.

"Das hätte angesichts des beträchtlichen Ruhms der öffentlichen Person Louis eine peinliche Ego-Show, die Selbstvermarktung familiären Unterschichtselends werden können.“ Jedoch: "Ostermeier und Louis entgehen dieser Falle dank der Genauigkeit des Textes und der Nüchternheit der Inszenierung", so Peter Laudenbach in der Süddeutschen Zeitung (11.10.2021). "Als Performer seines Textes hat Louis eine Bühnenpräsenz, in der sich Schüchternheit mit dem trotzigen Selbstbewusstsein eines Menschen verbindet, der mühsam lernen musste, 'ich' zu sagen - die Arbeit an der eigenen Person und ihrer sozialen Rolle als harter, politischer wie sehr persönlicher Kampf: Hier bin ich, das habe ich zu sagen."

 

 

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