Zwischen allen Fronten

von Sophie Diesselhorst

Berlin, 9. Oktober 2021. Das Radar Ost Festival am Deutschen Theater Berlin ist eingebettet ins Weltgeschehen: Eröffnet wurde es am 15. Jahrestag der Ermordung der russischen Journalistin Anna Politkowskaja, an dem das bis heute unaufgeklärte Attentat zugleich verjährte – am nächsten Tag geht ein Friedensnobelpreis an Dmitri Muratow, einen der Gründer der Nowaja Gazeta, der Zeitung, für die Politkowskaja arbeitete. Das Festivalmotto am Deutschen Theater ist derweil "Art[ists] at Risk", weil auch die Künstler:innen es schwerhaben in Ländern, in denen die Presse- und Meinungsfreiheit nicht gewährleistet ist.

Wenn der Chor stirbt

In ihrer Solo-Performance "How to sell yourself to the West" nimmt die russische Theatermacherin Ada Mukhina dieses Motto ironisch aufs Korn – aus "evil Russia" zu kommen, sei ein großer Vorteil, wenn es darum gehe, vom westlichen Kunstbetrieb beachtet zu werden. "Die besten Chancen hast du, wenn du dazu noch einen Gefängnisaufenthalt vorzuweisen hast." Mukhina weiß genau, wovon sie redet, sie lebt und arbeitet seit einiger Zeit in Berlin. Natürlich kriegt in ihrer Performance, in der es darum geht, wie sie die Ehrenmitgliedschaft des Deutschen Theaters erlangen könnte, auch Kirill Serebrennikow sein Fett weg, wohl der im Westen erfolgreichste russische "Artist at Risk" derzeit.

Radar Ost 2021Radar Ost 2021 – "How To Sell Yourself To The West", auf dem Bild: Ada MukhínaAda Mukhína in "How To Sell Yourself To The West" Filmstill  © Julia Milz / Eli Boernicke

Und deshalb wird das Festival auch mit seinem Decamerone eröffnet, das zwar schon 2020 Premiere am DT hatte, aber als aufwändige Koproduktion mit Serebrennikows Moskauer Gogol Center nicht so oft gespielt werden kann. Eine Schauspielerin aus der Produktion, Yang Ge, tritt auch noch in einem anderen Stück auf, Ksenia Ravvinas "In a real tragedy it is not the heroine who dies; it is the chorus". Aber Yang Ge (die übrigens auch in Serebrennikows dieser Tage beim FIND an der Berliner Schaubühne gastierendem Outside mitwirkte) steht in der DT Box nicht leiblich auf der Bühne, sondern tritt erst nur als Stimme im Kopfhörer, dann im Videobild (per QR Code ausgespielt auf die Handydisplays der Zuschauer:innen) auf.

Der verschwundene "Sommernachtstraum"

Denn: Der russischen Staatsanwaltschaft zufolge existiert sie nicht – als eine der tausenden Zuschauer:innen, die Serebrennikows "Sommernachtstraum" am Gogol Center sahen, eine Produktion, von der im Prozess gegen Serebrennikow behauptet worden ist, es hätte sie nicht gegeben, die künstlerische Leitung des Theaters habe die dafür vom Staat geflossenen Gelder unterschlagen. Ksenia Ravvina verwischt die Realitätsebenen, indem sie ihre Inszenierung raffiniert zwischen analoger und digitaler Repräsentation balancieren lässt. So macht sie die Absurdität der Vorwürfe gegen Serebrennikow sichtbar und schlägt im zweiten Teil des Stücks auch noch einen Bogen nach Belarus. Die Schauspielerin Leicy Valenzuela, die auch erst nur als Stimme auftritt, dann auf einmal doch höchstselbst auf die Bühne tritt, nur um sogleich von ihrem eigenen Videobild herausgefordert zu werden, fordert uns auf über die zu sprechen, die selbst ihre Stimme nicht (mehr) erheben können, und geht mit gutem Beispiel voran. Das Stück endet mit einem Update zur Lage der Opposition in Belarus (wenig überraschend: at Great Risk).

Radar Ost 2021Radar Ost 2021 – "Woyzeck", Screenshot aus der Online-Premiere, Theatergruppe Kupalaŭcy Hier noch online, jetzt erstmals vor Publikum: "Woyzeck" von Kupalaŭcy © Theatergruppe Kupalaŭcy
Die unabhängige Theatergruppe Kupalaŭcy gründete sich im Zuge der Proteste gegen den weißrussischen Dikator Lukaschenko im August 2020 aus dem Ensemble des Yanka Kupała Theaters, der ältesten Theaterinstitution in Belarus. Seitdem entwickelt die Gruppe Online-Theaterproduktionen, pandemie-bedingt, aber auch, weil niemand ihnen in Belarus ein Theater vermieten würde. Auch ihr "Woyzeck", der bei Radar Ost zum ersten Mal vor Publikum gezeigt wurde, war ursprünglich eine Youtube-Inszenierung.

Das merkt man der Produktion an, sie ist in Nummern gedacht, wofür sich Büchners schnelle Szenenfolge gar nicht so schlecht eignet. Fast jeder Szene wird ein Song zugeordnet, es ist nicht jaulender Weltschmerz à la Tom Waits, der die Atmosphäre hier grundiert, sondern kühler Elektro. Der Theaterraum wird wenig genutzt, die Spieler arrangieren sich zu Standbildern, die in ihrem düsteren Fatalismus jeglichen Spannungsaufbau im Keim ersticken, das Publikum jubelt trotzdem, wie überhaupt eine gute Stimmung herrscht beim (von Birgit Lengers kuratierten und 2018 gegründeten) Festival, das ein gemischtes Publikum hat aus Stamm-Zuschauer:innen und Menschen aus den Exil-Communities der vertretenen Länder, diesmal fast ausschließlich Länder des von Berlin aus gesehen fernen Ostens, in denen (auch) russisch gesprochen wird.

Vom Radar verschwunden

Die Situation in Belarus ist hierzulande nicht mehr auf dem Radar einer größeren Öffentlichkeit, genauso wie – schon länger – der Krieg in der Ukraine. "Bad Roads" von Natalia Vorozhbit nimmt das Publikum mit auf die Recherchereise einer Journalistin, die im Donbass, dem Kriegsgebiet im Südosten des Landes, zwischen die Fronten gerät. Schnell bereut sie ihre Kriegs-Faszination und muss bald auch selbst um ihr Leben bangen.

RadarOst BadRoadsapplaus sdSchlussapplaus mit Flagge: "Bad Roads" © Sophie Diesselhorst

Die "sechs Geschichten über das Leben und den Krieg" ziehen von der Anlage her etwas reißerisch, aber psychologisch präzise beobachtet in zwischenmenschliche Abgründe, gönnen ihren kriegsverrohten Figuren aber auch den ein oder anderen Hoffnungsschimmer. Mit einfachen Bildern wie dem Käfigzaun, der die Trennung des Landes symbolisiert, unterstreicht die Inszenierung des Left Bank Theatre Kiew den Anspruch der Produktion, auch jenseits der Ukraine als allgemeingültige, ja zeitlose Kriegserzählung verstanden zu werden. Zurück in die Heimat holen sie die Schauspieler:innen, als sie beim Schlussapplaus sichtlich bewegt die blau-gelbe Ukraine-Flagge hochhalten.

Neue Kriegsnormalitäten

Um einen Krieg, der schon länger her ist, aber bei den Macher:innen der Produktion tiefe Spuren hinterlassen hat, geht es schließlich in "Was haben wir gelacht". Die in Berlin lebenden Künstlerinnen Ina Arnautalić und Maja Zećo haben im Verwalterhaus des Alten Friedhofs St. Marien-St. Nikolai in Prenzlauer Berg ein Wohnhaus in Sarajevo, Anfang der 90er Jahre detailreich rekonstruiert, inklusive flackernder und ständig ganz ausgehender Lampen wegen der unzuverlässigen Stromversorgung. Die Zuschauer:innen bewegen sich zwischen drei Stockwerken hin und her, in denen das Ensemble als Bewohner:innen dieses Hauses den Kriegsalltag wiederauferstehen lässt. Alle bringen sie ihre Familiengeschichten dieses Kriegs mit und haben sie in die konzentrierte Erzählung eingewoben. Es gibt normale Probleme und Probleme der neuen Kriegsnormalität.

Radar Ost 2021Radar Ost 2021 – "Was haben wir gelacht" Kollektives Erlebnis einer Belagerung: "Was haben wir gelacht" © Mariya Shulga

Natürlich liegt die Angst als Schatten über allem, gelacht wird trotzdem, wenn es auch manchmal vor allem dem Spannungsabbau dient. Das Grollen der Bomben und die Gewehrsalven mischen sich mit dem Auto- und Sirenenlärm von der Prenzlauer Allee zu einem eindringlichen immersiven Erlebnis. Ein Geschenk, dass diese Erinnerungen geteilt werden. Das Ende ist bitter, dass man nach der Vorstellung direkt auf einem Friedhof steht, passt ganz gut.

Zusammen mit "In a tragedy..." von Ksenia Ravvina ist "Was haben wir gelacht" die ästhetisch aufwändigste und zugleich gelungenste Produktion. Beide Arbeiten sind zwar eigens für das Festival entwickelt worden, laufen aber leider nicht weiter im Repertoire des Deutschen Theaters. Dort wird nur Serebrennikows "Decamerone" übrigbleiben. Aber zumindest für vier Tage durfte der "Osten" oder ein kleiner Teil von ihm im DT sehr viel mehr Zwischentöne zeigen als normalerweise hier ankommen.

 

Radar Ost
7. – 10. Oktober 2021
Deutsches Theater Berlin

In a real tragedy it is not the heroine who dies; it is the chorus.

Text und Regie: Ksenia Ravvina, Dramaturgie: Tina Ebert, Videodesign und Posterdesign: Daniel Hughes, Musik- und Sounddesign: Alexandar Hadjiev, Lichtdesign: Iana Boitcova, Produktionsleitung: Federico Vöcks de Schwindt, Francesca Spisto, Videoassistenz: Rocio Rodriguez, Lektorat und Voice-Coaching: Joanna Harries, Übersetzung: Lisa Homburger, Rachel Mathews.
Mit: Yang Ge, Leicy Valenzuela.

Woyzeck
von Georg Büchner / Theatergruppe Kupalaŭcy
Regie: Raman Padaliaka, Bühne: Kaciaryna Šymanovič, Musik: Eryk Arłoŭ-Šymkus, Licht: Mikałaj Surkoŭ, Sounddesign: Juraś Bačkaroŭ, Grafik: Naścia Kaminskaja, Übersetzung: Iryna Hierasimovich.
Mit: Aliaksandar Kazeła, Kaciaryna Javorskaja, Kristina Drobyš, Maria Hołubeva, Taćciana Dzianisava, Aliaksandar Zelianko, Aliaksandar Paŭłaŭ, Paveł Astravuch, Źmicer Tumas, Andrej Drobyš, Paveł Paŭluć.

How to sell yourself to the West
Autorin / Regisseurin / Performerin: Ada Mukhína, Licht: Iana Boitcova, Design: Caterina Pislari, Sound: Calum Perrin, Bildmaterial: Julia Milz, Eli Börnicke, Advisor: Helgard Haug.

Bad Roads
von von Natalia Vorozhbit
Regie: Tamara Trunova, Bühne: Yurii Larionov, Kostüme: Khrystyna Korabelnykova, Musik: Tamara Trunova, Akmal Guriezov, Produktion: Tamara Trunova, Stas Zhyrkov, Volodymyr Sheiko.
Mit: Kateryna Kachan, Oksana Zhdanova, Anastasia Pustovit, Kateryna Savenkova, Svitlana Shtanko, Dmytro Oliynyk, Dmytro Solovyov, Volodymyr Kravchuk, Oleksandr Sokolov, Lesya Samaeva, Valeria Khodos, Andriy Isayenko.

Was haben wir gelacht – Kollektives Erlebnis einer Belagerung
von Nejra Babić, Adnan Lugonić und Mirza Skenderagić nach einer Idee von Ina Arnautalić und Maja Zećo
Künstlerische Leitung: Ina Arnautalić, Maja Zećo, Regie: Sandin Puce, Künstlerische Begleitung / Mentor: Luk Perceval, Bühne: Dragan Denda, Kostüme: Ina Arnautalić.
Mit: Vernesa Berbo, Toni Gojanović, Jasmina Musić, Aleksandar Tesla, Mehmet Yılmaz, Maja Zećo.

www.deutschestheater.de

 

Kritikenrundschau

Kevin Hanschke schreibt in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (11.10.2021): Der "bela­rus­si­sche Woyzeck" sei ein "finster erzähltes", ein "radi­kal zeit­ge­nös­si­sches Stück" und ein Hauptereignis des Festivals. In ihrer Adaption arbeite die Gruppe Kupalaŭcy in einer "musi­ka­li­schen Monta­ge mit stak­ka­to­haf­ten Dialo­gen" den "Zerfall" des Franz Woyzeck heraus. "Statisch" folge Szene auf Szene, das verwandele den Text in ein "Revo­lu­ti­ons­ma­ni­fest". In Berlin sei die Insze­nie­rung erst­mals live vor Publi­kum gezeigt worden. Seit dem vergan­ge­nen Jahr könne die Thea­ter­grup­pe nicht mehr in Minsk auftreten. Proben fänden im Ausland und im Unter­grund statt. Die Künst­ler finan­zie­rten sich über Künst­ler­re­si­den­zen und euro­päi­sche Stipen­di­en.
Ksenia Ravvi­nas immer­si­ve Perfor­mance sei "stil­ler". Sie setze sich in "In A Real Trage­dy, It Is Not The Heroi­ne Who Dies" mit den Gesän­gen und der Rolle der Frauen bei den Demons­tra­tio­nen in Bela­rus ausein­an­der. Aus der Geschichte einer chinesischen Schauspielerin, die angeblich nie im "Sommernachtstraum von Serebrennikow aufgetreten sei, da der ja laut russischen Behörden nie gespielt worden sei, erwachse "ein Mosaik des Wider­stands in Osteu­ro­pa". In Text­frag­men­ten würden "Elemen­te des Auto­ri­ta­ris­mus in beiden Ländern" präsen­tiert.

Von der Lage der Kulturschaffenden im Land zeichnen die belarussischen Produktionen ein finsteres Bild, so Patrick Wildermann im Tagesspiegel (11.10.2021). Die Performance von Ksenia Ravvina kreist um das Verschwinden widerständiger Stimmen und Bilder, um das Mundtotmachen kritischer Künstler:innen. "Was ist die Perspektive für Künstler:innen im Exil? 'How To Sell Yourself To The West' – eine Performance der russischen Regisseurin Ada Mukhína – gibt ihnen den sarkastischen Rat, ihre Herkunft aus dem Konfliktgebiet gewinnbringend einzusetzen."

 

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