Blutige Hostien, harte Trips

von Gabi Hift

Berlin, 10. Oktober 2021. In diesem Jahr präsentiert das FIND-Festival mit Angélica Liddell zum ersten Mal einen "Artist in focus". In der zweiten Woche konnte man zwei Produktionen von ihr sehen, "Liebestod", ihre neueste Inszenierung, Premiere war diesen Sommer in Avignon, und "The Scarlet Letter", das Stück davor aus 2018. 

Stierkampf und Erlösung

Angélica Liddell ist – oder war bis vor kurzem – eine gefürchtete Provokateurin. Eine, die sich inmitten deliranter Traumbildwelten in Exzesse aus Obszönitäten, Blasphemie und Selbstverletzung gestürzt hat, Ihr Selbsthass und ihre Verzweiflung waren schwer zu ertragen, ebenso die Verachtung, die sie dem Publikum entgegenschleudert. Ihre Fans seien lauter alte Weiber, Schwule und Schickimickis, sagt sie. Zuschauerinnen werden in ihren Shows verletzt und gedemütigt und nun war die Schaubühne für eine Woche gefüllt mit ebenjenem ihr verhassten bürgerlichen Publikum, das wild entschlossen war, alles zu feiern, was von ihr kam, über die Beschimpfungen gutmütig zu lachen.

In "Liebestod" identifiziert sich Liddell mit dem legendären Stierkämpfer Belmonte. Belmonte hatte verkrüppelte Beine und blieb daher im Kampf fast regungslos. Stierkampf war für ihn ein spiritueller Akt, der im Tod des Torreros seine Erfüllung finden sollte. Aber er wurde nicht wie sein Rivale Joselito von einem Stier getötet, starb nicht diesen "Liebestod", sondern nahm sich schließlich selbst das Leben. So sieht sich auch Liddell:  verkrüppelt durch ihre entsetzliche Kindheit, entstellt, hässlich – und gerade das verwandelt sie in Kunst.

FIND liebestod 600 christopheraynauddelage festivaldavignonDen Stier bei den Hörnern gepackt? "Liebestod" @ Christopher Aynauddelage / Festival d'Avignon

Gleich zum Einstieg sitzt sie auf einem Schemel und schneidet sich mit einer Rasierklinge Jesu' Wundmale in Beine und Hände; steckt sich ein Tuch in die Vagina, präsentiert es beschmiert mit Menstruationsblut und weißlicher Flüssigkeit und verkündet: das Blut Christi und die Milch der Madonna. Dann wischt sie sich das Blut mit Weißbrot ab und isst es auf. Dieses Ritual hat sie schon in früheren Produktionen ausgeführt, aber diesmal ist der Fokus verschoben. Früher erschien das als ein blasphemischer Akt der Selbstermächtigung, eine Kommunion mit sich selbst. Der mutige Aufschrei des kleinen spanischen Mädchens, das zwar der patriarchalen Dorfwelt und der gewalttätigen katholischen Kirche nach außen hin entkommen konnte, im Inneren aber in all seinen Gefühlen bis tief in die sexuellen Phantasien hinein deformiert war. Ein großer Akt der Befreiung für viele Feministinnen. Frau durfte über die Abgründe, den Selbsthass und die Vergewaltigungsphantasien nicht sprechen, weil sie sonst "dem Feind in die Hände spielen würde". Angélica Liddell mit ihrem Mut und ihrer Ehrlichkeit und der Schönheit ihrer Bilder war da eine Inspiration.

Scheiß auf "Nachhaltigkeit"

Doch etwas hat sich verändert. Liddell spricht nun davon, dass sie in ihrer Performance eine "transfiguration" anstrebe, eine Verklärung im religiösen Sinn. Erlösung erwartet sie sich nicht mehr wie früher durch die Befreiung von Scham und Selbsthass. Im Gegenteil, sie will durch die totale Hingabe an das Obszöne und Gewalttätige zur Transzendenz gelangen. Mit einem Weihrauchfass umkreist sie den Stier – ein wunderschönes Geschöpf aus Pappmaché, das sich für Gewaltphantasien leider gar nicht eignet – und ruft ihre Helden des Exzesses in der Kunst an: Rimbaud, Genet, Cioran, Céline, Mishima, Henry Miller, Fassbinder. Sie fordert eine Rückkehr zum Heiligen und verlangt eine Theokratie. Vergeblich schmiegt sie sich an den Stier und spricht Isoldes Worte, der Liebestod kommt nicht.  Sie verflucht die Feigen, die guten Menschen, die Schwächlinge mit ihrer Vernunft. Sie brüllt: Scheiß auf "Nachhaltigkeit", scheiß auf "Rechte", scheiß auf "Streiks".

Spätestens jetzt müsste man aufstehen und protestieren, wenn man sich ihr innerlich noch so nahe fühlen würde wie bei früheren Produktionen. Das amüsierte Schweigen im Publikum deutet aber darauf hin, dass ihre Ausfälle nur noch als witzige Provokation genommen werden. An diesem Punkt hat sie die Zuschauerinnen verloren, sie schauen nur noch von außen auf die schönen Bilder, und lassen sich die Beschimpfungen als netten Nervenkitzel gefallen.

FIND thescarletletter 600 copybrunosimao uUnterwegs zu höheren Sphären: Angélica Liddell in "The Scarlet Letter" © Bruno Simao

Die zweite Produktion, "The Scarlet Letter", besteht nur aus einer solchen Beschimpfung der #metoo-Bagage. In den Augen von Liddell ist das lauter Abschaum, der die Kunst zerstören will. Liddell verkündet: "Ich mag diese Welt nicht, in der die Frauen die Männer nicht mehr lieben" – und verabschiedet sich in eine Parallelwelt, in der sie die einzige Frau unter den von ihr angebeteten Männern ist und in schönen und manchmal auch lustigen Bildern flache Demütigungsrituale über sich ergehen lässt. Die Beschimpfungen treffen nur noch die Anderen, sie selbst ist durch ihre Wunden geadelt und in höhere Sphären erhoben. Die Vorstellung ist flach und quälend langweilig, und danach würde man wahrscheinlich nie mehr etwas von Liddell sehen wollen, wenn man nicht wüsste, dass "Liebestod" danach entstanden ist – und man die beiden Produktionen in der falschen Reihenfolge gesehen hat.

Bis ins Mark erschreckend

Denn in "Liebestod" folgt auf die Publikumsbeschimpfung, die der aus "The Scarlet Letter" aufs Haar gleicht, etwas völlig anderes. Aus Liddell bricht eine fremde Stimme heraus, die sie mahnend und strafend mit "Angélica!" anspricht. In einem jener unglaublichen Spoken-Word-Kunstwerke, für die Liddell so berühmt ist, beschimpft diese Stimme sie, alles was sie aufführe, sei nur da um zu vertuschen, dass es außerhalb der Bühne niemanden gäbe, der sie liebt, dass sie selbst niemanden liebe. Einen Liebestod ohne Liebe gäbe es nicht. Das Publikum habe sie satt, es sei angewidert von den ewigen Wiederholungen. Die Stimme ist schneidend, böse, stottert, grunzt, brüllt. Ich erschrecke bis ins Mark, spricht die Stimme doch aus, was ich selbst gerade gedacht habe.

Liddell wird ganz still und sagt mit ihrer eigenen Stimme, erschöpft und schwach, es gäbe doch auch einen langsamen Selbstmord. Das Bild von Cioran erscheint und das von Belmonte. Und für manches Leben, sagt sie, sei das der einzige Weg. Danach folgt zum Abschluss ein heiteres Tänzchen in den Armen eines schönen, jungen, schwarzen Mannes. Über diesem tieftraurigen, absurden Bild versuchter Heiterkeit schließt sich der Vorhang. "Liebestod" ist am Ende doch noch zu einer großen, erschütternden Vorstellung geworden, aber der Abgrund, in den man geschaut hat, ist so schrecklich, dass man Angélica Liddell dahin nicht mehr wirklich folgen kann. Man bleibt zurück mit der Frage, wer man selbst ist, dass man sich so etwas anschaut, und eventuell Komplizin eines Zugrundegehens wird, wo man früher hoffen konnte Komplizin einer Befreiung zu sein.

"Comic relief" dank Brett Bailey

Als letzter Programmpunkt beim FIND folgt mit "This is How We Die" des Kanadiers Brett Bailey eine Spoken-Word-Performance der ganz anderen Art. Bailey kommt als Wiedergänger von David Lynchs "Eraserhead" auf die Bühne, setzt sich an einen Lesetisch und beginnt im Maschinengewehr-Tempo etwas völlig Irres von einem Stapel Blätter abzulesen. Die ersten Minuten wird man durchgewirbelt und versucht nach Zipfeln von Sinn zu schnappen. Dann beginnt sich von selbst ein schrilles, zartes, brutales Hirnkino zu entfalten, ein Universum aus Beat Poetry, surrealistischen Traumwelten, so etwas wie einer Liebesgeschichte und einem Roadtrip.

FIND christopherbrettbailey thisishowwedie 600 jemimayongEin Riesenspaß: "This is How We Die" von Brett Bailey @ Jemima Yong

Vieles sieht im Kopf aus wie Undergroundcomix, Köpfe explodieren, aus dem abgerissenen Hals pisst das Hirn raus, ein diabolischer Priester morpht sein Gesicht in das des Erzählers, bevor ihm der Kopf wegfliegt; das junge Paar endet in einer surrealen Survival-Show – und das ist erst ein kleiner Teil der Story. Es gibt großartige Zerschlagungen der Sprache, Momente von plötzlicher Zärrtlichkeit, irrwitzigem Nonsens und Abstürzen in pure Seligkeit. Obwohl voller Grausamkeiten ist der Grundtenor fröhlich, das Ganze verströmt großzügig Energie, elektrisiert, endet in einem Konzert. Am Ende wollten viele Zuschauer:innen das Programm am liebsten gleich noch einmal von vorn hören und sehe. Ein Riesenspaß – und der dringend benötigte "comic relief" nach den Abgründen von Liddell. So ist dem FIND-Festival ist eine schöne Progammabfolge gelungen, bei der alles mit allem in Beziehung tritt.

 

Liebestod – Der Geruch nach Blut geht mir nicht aus den Augen – Juan Belmonte – Histoire(s) du Théâtre III
Text, Regie, Bühne, Kostüme: Angélica Liddell, Licht: Mark Van Denesse, Ton: Antonio Navarro, Kostüm: Justo Algaba.
Mit: Ezekiel Chibo, Angélica Liddell, Borja López, Gumersindo Puche, Palestina de los Reyes, Patrice Le Rouzic und Statist_innen.
Dauer: 2 Stunden, keine Pause
Produktion: NTGent, Atra Bilis
Koproduktion: Festival d’Avignon, Tandem Scène nationale Arras-Douai, Künstlerhaus Mousonturm (Frankfurt)

The Scarlet Letter
Text, Regie, Bühne, Kostüme: Angélica Liddell, Sounddesign und Video: Antonio Navarro, Licht: Jean Huleu.
Mit: Pietro Quadrino, Tiago Costa, Julian Isenia, Angélica Liddell, Borja López, Tiago Mansilha, Daniel Matos, Thomas Conor Doherty, Nuno Nolasco, Antonio L. Pedraza, Sindo Puche, Romeu Runa.
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause
Koproduktion: Centre Dramatique National Orléans, La Colline – ThéâtreNational (Paris), Teatros del Canal (Madrid) 

THIS IS HOW WE DIE
von Christopher Brett Bailey
Sounddesign: George Percy, Christopher Brett Bailey, Dramaturgie: Anne Rieger, Musiker_innen: Alicia Jane Turner, George Percy, Christopher Brett Bailey, Michael Crean. Licht: Sherry Coenen, Produktionsleitung: Alex Fernandes, Produziert von Beckie Darlington
Mit: Christopher Brett Bailey
Dauer: 1 Stunde 10 Minuten, keine Pause

www.schaubuehne.de

 

Kritikenrundschau

Doris Meierhenrich freut sich in der Berliner Zeitung (online 10.10.2021, 16:59 Uhr) über das diesjährige FIND-Festival: in inhaltlicher und ästhetischer "Breite" habe es "biografische Erzählweisen" präsentiert, "die aus dem persönlichen Ansatz heraus dennoch Welt wendende Kraft anmeldeten". Nicht "nur klüger, sondern auch stärker und manchmal sogar glücklich" sei die Kritikerin aus den Abenden entlassen worden. Wenn Angelica Liddell auf der Bühne stehe, "dann nie anders als sie selbst" und doch sei sie niemals einfach "Ich". In ihrem Solo "Liebestod" rattere sie "furiose Schimpfarien" ab, ritze sich die Beine auf und "tanzt grotesk um einen Stier, dessen Blut sie heiligt". Ein "dampfendes Theater der Grausamkeit, und auch darin große Befreiung".

Patrick Wildermann schreibt im Berliner Tagesspiegel (online 9.10.2021, 16:43 Uhr): Der Programmflyer für "Liebestod" enthalte eine Triggerwarnung, unter anderem, weil Liddell sich selbst mit Rasierklingen die Haut aufritze. "Im Publikum ereignet sich dabei ein Ohnmachts-anfall, was zu tumultuarischen Momenten führt." Auf der Bühne jedoch sitze die Künstlerin und "zieht ungerührt eine Masturbationsszene" durch. "Ein reichlich schräger Moment." Wie Körper an Grenzen gebracht werden könnten, davon erzähle etwa Thomas Ostermeier mit Édouard Louis und seinem "Wer hat meinen Vater umgebracht" beim selben FIND-Festival eindrücklicher.

"Könnten Sätze töten, würde kein Zuschauer diese Hass- und Verzweiflungsgesänge lebend überstehen“, schreibt Peter Laudenbach von der Süddeutschen Zeitung (10.10.2021) zu "Liebestod". Liddells aberwitziger Furor habe eine gewisse Ähnlichkeit mit den Hasstiraden des Übertreibungskünstlers Thomas Bernhard und sei bei allem durchaus ernst gemeinten Hass immer wieder genauso komisch wie Bernhards Ausfälle.

Es gehe Liddell um nichts weniger als die Sehnsucht nach absoluter Verschmelzung, nach Transzendenz und Spiritualität, so Barbara Behrendt in der taz (10.10.2021). 'Liebestod' sei "ein Hohelied auf das Anti-Rationale und Anti-Moralische, bei der die Publikumsbeschimpfung nicht fehlen darf". Ihre Worte seien sind voller Poesie und Furor.
In "Scarlet Letter" fordere Liddell einmal mehr unbedingtes Begehren, das sich keine Regeln auferlegen ließe. "Fraglich nur, ob es derzeit wirklich einen Abend braucht, der Patriarchat und Heterosexualität als das einzig Wahre feiert." Manchen sei in diesen beiden Inszenierungen "daneben", was aber nichts daran ändere, dass Liddell "ein so furioses wie notwendiges Korrektiv für ein Theater“ sei, "in dem sich die lauwarme Besserwisserkunst brav darauf zurückzieht, auf der moralisch und politisch richtigen Seite zu stehen".

"Die Liebe als Kampf soll veranschaulicht werden, und zeitweise gelingt es auch, diese abgedroschene Phrase als sinnliche Erfahrung greifbar zu machen. Solche Momente gehen jedoch unter im letztlich eintönigen Provokationsreigen aus Blut, Selbstentblößung und Publikumsbeschimpfung", schreibt Christoph Weissermel von der FAZ (14.10.2021).

 

 

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