Auf den Schleim gegangen

von Martin Thomas Pesl

Wien, 15. Oktober 2021. Ein ganz mutiger Besucher hat sich mitten auf die Bühne gesetzt. Er darf das: Das Raumkonzept der neuen Arbeit von Doris Uhlich in der Halle G des Tanzquartiers Wien sieht klar vor, wo das Publikum sich frei bewegen darf und wo die sechs Performer:innen. Als Grenze schlängelt sich ein niedriger Steg durch den Bühnenraum, aber auch bis hinauf an die oberste Stufe der Tribüne. Umgeben von größeren und kleineren Eimern hockt der Mann also auf dem Boden, auf Augenhöhe mit der Performerin Ann Muller, die bereits zum Einlass nackt durch die ersten Schleimspuren robbt.

Fluidität

Schleim ist das große Thema, der Untersuchungsgegenstand dieser Performance. Uhlich, einer von Österreichs wichtigsten Tanz-/Performance-Exporten, hat die glibbrige Substanz massenhaft synthetisch herstellen lassen und nach dem umgangssprachlichen englischen Wort dafür ihren Titel gewählt: "Gootopia". "Fluidität von Körpern und Körpergrenzen ist seit längerem ein zentrales Thema des zeitgenössischen Tanzes", begründet sie im Ankündigungstext sehr nachvollziehbar ihr künstlerisches Interesse am Schleim. An anderer Stelle heißt es: "Schleim ist ein uns ursprünglich vertrauter Stoff, zu dem wir im Laufe des Lebens meist den Bezug verlieren. Er kittet den Organismus, stellt Verbindungen her. In der Pandemie ist er gegenwärtig zu einem Stoff geworden, der mit Angst behaftet ist."

Gootopia1 600 Alexi Pelekanos u© Alexi Pelekanos

Doris Uhlich hat aber keine Angst, und so probiert sie aus, was man mit dem Zeug alles Schönes machen kann. Interessant ist es ja schon für sich genommen, auch ohne dass es unerschrocken betanzt wird. Aus dem Eimer auf den Boden plumpsend gibt es sich noch kompakt, aber man kann es auch in die Länge ziehen, es kann Bläschen bilden oder Blubbergeräusche erzeugen. Binnen kürzester Zeit kann es sich so ausbreiten, dass es fast unmöglich ist, nicht darauf auszurutschen, lässt sich dann aber auch rasch und effizient wieder zusammenkehren und zurück in den Eimer sperren.

Nackt mit Knieschonern

Abwechselnd mal in andächtiger Stille dem Schnalzen des Schlatzes hingegeben, mal zum treibendem Sound von Boris Kopeinig, der die ganze Halle zum Beben bringt, beschäftigen sich die Performer:innen mit dem Material: meist einzeln im Raum verteilt, manchmal auch in Paaren und einmal als Gruppe. Da kneten sie die Schleimmasse erst wie Wäsche und ziehen sie dann in alle Richtungen wie einen Pizzateig. Sie greifen einander an die Füße und machen im Liegen die Welle oder spielen das Spiel, wo einer ganzkörpereingeschleimt über die anderen drüberrutscht – was heute unerhört scheint, vor Corona aber wahrscheinlich auf jeder etwas feuchtfröhlicheren Abifeier Usus war (oder so).

Gootopia2 600 Alexi Pelekanos u © Alexi Pelekanos

In der Regel sind – wie stets bei Doris Uhlich – alle nackt, genauer gesagt nur mit Knieschonern ausgestattet. Als sie kurzzeitig doch Jacken und Strümpfe, Shorts und Stiefel anziehen, sind diese Kleidungsstücke derart durchtränkt, dass sich Spieler Emmanuel Obeya den angewiderten Gesichtsausdruck nicht ganz verkneifen kann.

Von Neugier geprägte Begegnung

Auf meditative, passenderweise eher zähflüssige Strecken ("phlegmatisch" heißt wörtlich schließlich "voll des Schleims") folgen kindisch ausgelassene, die man fast als Tanz bezeichnen könnte. Anfangs nutzt das Publikum die Möglichkeit, den Raum wie eine Installation zu durchwandern, noch eifrig, später lassen die meisten sich nieder: Es gibt eh immer und überall was zu sehen in diesem Wimmelbild. Die Details sind auch nicht wichtig, was zählt, ist das Ganze: die von Neugier geprägte Begegnung zwischen Mensch und Material, zwischen Körperkunst und Kunstschleim. Es flutscht.

Dass die Vorstellung statt der angedrohten 100 nur 90 Minuten dauert, und das einschließlich der Einlassphase, verstärkt den Eindruck, einer runden, routinierten Uhlichiade beigewohnt zu haben – keinem großen Wurf, aber, nun ja, einem großen Auswurf. Als der gut gelaunte Premierenapplaus aufbrandet, sitzt der Mann in der Mitte immer noch da. Er hat sich kein einziges Mal vom Fleck bewegt.

 

Gootopia
von Doris Uhlich
Uraufführung
Choreografie: Doris Uhlich, Konzeptentwicklung: Doris Uhlich, Boris Kopeinig, Bühne: Juliette Collas, Philomena Theuretzbacher, Kostüme: Zarah Brandl, Sound: Boris Kopeinig, Licht: Phoenix (Andreas Hofer), Gerald Pappenberger.
Mit: Pêdra Costa, Ann Muller, Andrius Mulokas, Emmanuel Obeya, Camilla Schielin, Grete Smitaite.
Premiere am 15. Oktober 2021
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.tqw.at
www.dorisuhlich.at

 

 

Kritikenrundschau

"Doris Uhlichs Humor kommt ganz ohne Zynismus aus. Dafür testet die Künstlerin Grenzen aus, löst beengende Normen auf – etwa, wenn sie zum Fetttanz einlädt – und stellt freundliche Bühnengemeinschaften her", berichtet Helmut Ploebst im Standard (16.10.2021). An diesem Abend "entstehen einige überraschende Momente, und im Lauf des Stücks verschwindet jede Erinnerung an das Unappetitliche, folglich aber auch die Ambivalenz des Materials", und daher werde "Gootopia" dann "bald allzu eindeutig und beliebig. Hundert Minuten Herumspielen mit ein und demselben nassen Batz ist sicher lehrreich und unterhaltsam. Aber herausfordern muss man sich mit der Zeit schon selbst."

An ein "Stationentheater" fühlte sich Verena Franke in der Wiener Zeitung (18.10.2021) erinnert: "Die Zuseher wandern umher, können die unterschiedlichen Aktionen von allen Seiten betrachten. Manch einer bleibt lieber in der Entfernung sitzen." Es werde "geklatscht, geschmatzt, die glibberige Masse auf Körpern und Boden verteilt und an Wände geklebt", aber "poetische Momente" seien eher die Ausnahme.

 

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