Staat oder Schaumbad

von Maximilian Sippenauer

München, 15. Oktober 2021. Die Gesichter auf der Eröffnungsfeier des Volkstheaters in München glühten genauso ziegelrot wie die spektakuläre Klinkerfassade des Neubaus. Man ist stolz in der Landeshauptstadt. Der Bürgermeister selbst unterstrich das in einem launigen Prolegomenon: 131 Millionen Euro waren veranschlagt – genau 131 Millionen hat das neue Haus am Ende gekostet. Bauzeit? Auf die Minute eingehalten. Die illustre Gesellschaft, die erstmals und maskenlos den großen Saal füllte, nickte sich anerkennend und selbstzufrieden zu wie in einem Helmut Dietl-Film. Wie war das gleich? München hat 1,4 Millionen Einwohner, aber daneben auch ein paar Hundert Persönlichkeiten. Das neue Volkstheater ist zugegeben ein Prachtstück, klug eingebunden in das alte Schlachthofviertel. Aber ist es denn auch ein "Volkstheater" im eigentlichen Sinne oder doch nur eine weitere bürgerliche Bespaßungsstätte? Von der Stoßrichtung der Premiereninszenierung sollte also einiges abhängen.

Pinkes Renaissancestück

Das Stück, das der Intendant des Volkstheaters und zugleich Regisseur des Abends Christian Stückl wählt, ist eine kleine Überraschung: "Edward II." von Christopher Marlowe. 16. Jahrhundert, englische Renaissance. Geflügelte Dialoge, zwischen Hochadeligen flatternd. Die Wahl macht deutlich: Trotz aller Bajuwarismen im Vorfeld, mit Heimattümelei hat dieses Volkstheater nichts am Hut. Die Wahl des Stückes ist interessant: Erstens gilt König Edward II. als einer, der entgegen den Gepflogenheiten seines Standes, den Kontakt zum einfachen Volk suchte. Zweitens, weil Marlowe hier explizit Homosexualität thematisiert beziehungsweise die Unmöglichkeit, diese offen auszuleben. Klassismus, Homophobie. Der Stoff ist also durchaus Volkstheater-virulent.

EdwardII2 1200 Arno Declair uVerbotene Liebe: Jan Meeno Jürgens als König Edward II. und Alexandros Koutsoulis als sein Geliebter Gaveston © Arno Declair

Vorhang auf. Gruppenbild in Pink und Schwarz. Um einen pinken Sessel herum, auf dem nur eine Krone steht, sitzt vor einer ganz in pink gehaltenen Landschaftspittoreske, eine pink gekleidete Gesellschaft. Der Bischof, Pink in Pink mit pinker Stola. Militär Mortimer, pinke Uniform, pinkes Barett, Königin Isabella pinkes Kleidchen mit schwarzer Halskrause, ihr Sohn, ihr Schwager und Graf Lancaster, alle drei in Pink. Nur einer fehlt. Doch dann hebt sich die Kulisse, eröffnet durch ein schwarzes Stahlgerippe hindurch einen Blick ins ausladende Dunkel des Bühnenraums. Dann beschreibt die nagelneue Drehbühne ihre ersten 180 Grad und bringt eine pinke Wanne ins Bild: Und da sitzt er, der König, nackt, zu Schaume mit seinem Geliebten Gaveston. Die Tragödie zwischen Thron und Wanne, Macht und Begehren beginnt.

Der Märchenkönig hört jetzt The Notwist

Diese pinkgewaschene Inszenierung ist gerade zu Beginn recht witzig anzuschauen. Auch wegen der kleinen Anspielungen. Etwa die markant nach hinten geblasene Keilfrisur Edwards, die an den Bayerischen Märchenkönig Ludwig II erinnert. Der größte Kunstförderer des Freistaats litt bekanntlich ebenfalls darunter, seine Homosexualität nie offen ausleben zu können. Und dass es Stückl vor allem um diese unmögliche Liebesbeziehung zwischen dem König und seinem "verführerischen Franzosen" geht, zeigen einige Umstellungen im Text, wodurch dieser Gaveston viel reiner erscheint, als die opportune und latent sadistische Version Marlowes.

Ansonsten ist das aber dann doch recht konventionelles Sprechtheater. Volkstheater-Theater, wie man es von der alten Bühne her kennt. Nah am Original, ohne intertextuelle Aufladung, von einem jungen Ensemble mit viel Lust gespielt. Nur eine Nummer größer eben, opulenter vielleicht. Was allein die Metallofon-Gewitter des Soundtracks zeigen. Der stammt nämlich von Bayerns wohl stilsicherstem Popduo: den Acher-Brüdern, auch bekannt als The Notwist.

EdwardII1 1200 Arno Declair uWarten auf den Herrscher: das Ensemble im Bühnen- und Kostümbild von Stefan Hageneier © Arno Declair

Inhaltlich bleibt so eine Inszenierung freilich gefangen in ihrem 400 Jahre alten Textkörper. Auch weil Stückl das mögliche Thema des Klassismus umschifft und sich ganz auf die homosexuelle Liebe zwischen Edward und Gaveston konzentriert. Gegen die opponieren natürlich die Königin sowie die "edlen" Peers aus Klerus, Militär und Großgrundbesitzer. Vor allem den Bischoff reizt diese "widernatürliche Geilheit" des Königs, er ist die Triebfeder hinter dem Mordkomplott gegen Gaveston.

Die Kirche im Schraubzwingentheater

Stückl geht es hauptsächlich um diesen Konflikt zwischen Kirche und Homosexualität. Ein Konflikt, der in Bayern ja durchaus Tradition hat und mit dem bayerischen Papst Benedikt auch bis 2013 einen, ja, schwulenfeindlichen Kirchenmann auf dem Heiligen Stuhl.

Aber knapp zehn Jahre später, mitten im großen Kirchenexodus, wo progressive Pfarrer und Pastoren offen über ihre Homosexualität sprechen und selbst auf dem Land die gleichgeschlechtliche Liebe kein Tabu mehr ist, ist es fragwürdig, ob die Kirche wirklich noch als der große Homophobie-Treiber identifiziert werden muss. Das heißt nicht, dass es keine Homophobie mehr gibt, nur dass diese perfider, subkutaner ist und vielleicht ohne katholischen Katechismus auskommt. Dinge für die Marlowe natürlich blind ist. Ein origineller Debattenbeitrag ist diese Inszenierung dadurch sicher nicht.

EdwardII3 1200 Arno Declair uMacht und Begehren zwischen Thron und Wanne: Königin Isabella (Liv Stapelfeldt) mit Graf Mortimer (Silas Breiding) © Arno Declair

Nun war Stückls Theater noch nie unterwegs in den Metahochebenen der textuellen Exegetik und machte auch nie Anstalten, das Schauspiel neu zu erfinden. Er ist ein Regisseur, der mit viel Instinkt und Impulsivität an die Stoffe geht und vor allem – da ist er vielen jungen postmodernen Künstler*innen sehr ähnlich – mit klarer politischer Kante. Macht Stückl einen "Kaufmann von Venedig", dann weil es gegen diese nicht auszurottende Pest des Antisemitismus geht und macht er einen "Edward II.", dann weil unsere scheinbar woke Gegenwart an viele Ecken immer noch homophob ist. Punkt. Aus. Stückl macht Schraubzwingentheater, das ein gerades moralisches Rückgrat forciert. Nicht durch affektiertes Brimborium, sondern durch eindeutiges, leidenschaftliches Spiel.

Volkstheater ist eine Einstiegsdroge

Am besten ist dieses stücklsche Theatermachen genau dann, wenn es intuitiv Lösungen findet. Da schleppt etwa der Bruder des Königs denselben auf dem Rücken über die Bühne. Der König trauert um seinen verbannten Lover und ist vor Trauer besoffen und da zerrt ihn der Bruder hin zu der pinken Wanne, darin König und Geliebter sich so fröhlich vergnügt hatten, und haut ihm eine Hand voll abgestanden Schaum ins Gesicht. Ausnüchtern! Klar werden! Hier geht es um das große Ganze.

Es ist das Verdienst eines Volkstheaters, das diesen Namen als Verpflichtung und nicht als carte blanche zur Folklore versteht, genau solche schlichten, aber prägnanten Bilder zu finden. Schließlich ist es diese Überzeichnung, dieser Grenzgang zwischen Naturalismus und dem Raum des Symbolischen, an dem die Bedeutung dieser Kunstform im Gegensatz zum Angebot der Streaming-Dienste am wirkmächtigsten ist. Ein forderndes Theater für junge Leute, das nicht überfordert, eines das anfixt. Gutes Volkstheater ist eine Einstiegsdroge. Manchen reicht das ein Leben lang, andere wechseln dann vielleicht irgendwann zu dem härteren Stoff der Kammerspiele, dem unberechenbaren Crack der freien Szene oder zu den feineren Opiaten des Residenztheaters. Diesen Job als erster Dealer seiner Kunst hat Stückl schon am alten Haus fulminant erfüllt. Das neue ist also völlig zu Recht der Lohn für diese Arbeit und ein Zeichen der Wertschätzung.

 

Edward II.
von Christopher Marlowe
Regie: Christian Stückl, Bühne & Kostüme: Stefan Hageneier, Musik: Markus Acher, Micha Acher, Cico Beck, Dramaturgie: Rose Reiter, Übersetzung: Alfred Walter Heymel.
Mit: Jan Meeno Jürgens, Liv Stapelfeldt, Theodor Junghans, Anton Sommer, Lorenz Hochhuth, Alexandros Koutsoulis, Pascal Fligg, Silas Breiding, Janek Maudrich, Julian Gutmann.
Premiere am 15. Oktober 2021
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten, keine Pause

www.muenchner-volkstheater.de

 

Kritikenrundschau

"Sofern man nicht erwartet, dass Christian Stückl sich in seinem neuen Haus auch als Regisseur neu erfindet und plötzlich statt eines reellen, politisch grundierten Erzähltheaters ein avantgardistisch wildes Dekonstruktions- und Performancetheater macht, hält seine Eröffnungsinszenierung den Erwartungen und Ansprüchen absolut stand", schreibt Christine Dössel in der Süddeutschen Zeitung (18.10.2021). Stückl setze ein Statement gegen die darin verhandelte Homophobie. "Vor allem die Kirche, seit je ein Hauptgegenstand in der Arbeit des Oberammergauer Passions-Regisseurs, kriegt mal wieder ihr Fett weg. Und nicht zuletzt richtet sich dieses Theater (...) an ein junges, vielleicht sich geschlechtlich und sexuell selbst erst noch orientierendes Publikum."

"Diese Inszenierung könne als Ansage gelesen werden: aufzufallen, anzuecken, Mensch­lichkeit sprechen und Persönlichkeit wirken zu lassen. Dabei im durchweg jungen Ensemble und unter frischer Regie die Lust am Spiel wach und die Gegenwart in Schach zu halten", schreibt Teresa Grenzmann in der FAZ (18.10.2021).

"Die Drehbühne ermöglicht temporeiche Bildfolgen ohne Zwischenvorhang, die Schauspieler laufen von Szene zu Szene. Licht und Klang stützen rasante Stimmungswechsel, die Lüftung saugt Trockennebel und letzte coronabedingte Sozialphobien in Sekunden aus dem Bühnenraum", schreibt Johanna Schmeller in der taz (18.10.2021). "Es ist ein großer Neubeginn für Stückl."

Als "grelle Groteske" habe Christian Stückl das Marlowe-Stück in Szene gesetzt, meint Sven Ricklefs im BR (16.10.2021). In seiner "zügig in Szene gesetzten Interpretation" scheine dabei "die Stigmatisierung der Homosexualität im Vordergrund gestanden zu haben". Ob diese "explizite Botschaft" allerdings überall beim Premierenpublikum ankam, das "sei einmal dahingestellt", so der Kritiker.

Kommentare  
Edward II., München: junges Ensemble
Auch hier zeigt Christian Stueckels wieder, seine Wertschätzung gegenüber jungen Künstlern. Selbst eine Neueröffnung lässt frischen jungen Spielwitz zu. Ein Haus das Theater für die Zukunft schreibt.
Edward II., München: große Überraschung
Mit Interesse entnehme ich der Rezension, dass diese Aufführung des Münchner Volkstheaters tatsächlich Sprechtheater ist. Obwohl die Schauspieler und ihre Arbeit nicht einmal erwähnt oder gewürdigt werden (warum eigentlicht nicht?). Also Theater, das Theater ist und nicht ein "Debattenbeitrag" sein will (zu welcher Debatte übrigens?). Und "intertextuelle Aufladung" findet offenbar auch nicht statt. Fazit: Echtes Theater, wie es z. B. in London oder Paris erfolgreich gezeigt wird, wo Schauspieler als relevant betrachtet und ihre Arbeit in Rezensionen gewürdigt oder verrissen werden, wo Theater als zentraler Teil der Kultur angesehen wird, aufregende Stücke und neue Autoren für Furore sorgen und erfolgreiche Aufführungen monatelang ensuite gespielt wird. Während in Deutschland eher genau das Gegenteil zu registrieren ist und - meinem Eindruck nach - das Theater seiner eigenen Randständigkeit, gar Irrelevanz und letztlich Schließung mit Riesenschritten näher kommt. Und: Ja, hier wird wirklich ein Stück von Christopher Marlowe gespielt, das ein paar hundert Jahre alt ist - und ich glaube, das kann der Großteil des Publikums auch geistig nachvollziehen, ohne dass er mit platten Aktualisierungen oder bizarren Umdeutungen belästigt werden müssen. Wobei es übrigens seltsam ist, dass Theater im letzten Absatz mit dem Elend des Drogenhandels und -missbrauchs verglichen wird anstelle mit anderen Kunstformen und Kulturinstituionen wie Film und Kino, bildende Kunst und Museen, Musik und Konzerthallen.
Edward II., München: Camp und Extravaganz
Schon in der ersten Szene wird der Zwiespalt dieses Abends deutlich: wie viel Camp und wie viel queere Pop-Oper will Intendant Christian Stückl dem Publikum zu dieser doppelten Eröffnung (der Spielzeit und des neuen Hauses im Schlachthofviertel) zumuten? In Richtung Camp und Extravaganz schlägt das Pendel immer dann aus, wenn Gaveston den nötigen Raum bekommt: Alexandros Koutsoulis, der frisch von der Berliner Ernst Busch-Hochschule ans Münchner Volkstheater kam, flirtet nicht nur mit dem König, sondern in einer exhibitionistischen Solo-Show auch mit dem Publikum. Sein genderfluides Kostüm, irgendwo zwischen Marilyn Monroe und David Bowie, das Stefan Hageneier gestaltete, setzt ein Ausrufezeichen in einer Inszenierung, die sonst aber doch näher am konventionellen Sprechtheater ist.

Die bayerische Indieband The Notwist sorgt für eine stimmungsvolle Untermalung des Intrigenspiels und die natürlich auch pink angestrahlte Drehbühne kommt so oft zum Einsatz, dass das selbstbewusste Muskelspiel der Technik etwas an Chris Dercons Einstand an der Volksbühne erinnert. Das sehr spielfreudige Ensemble, bei dem sich wieder einmal Stückls Blick für junge Talente zeigt, bleibt trotz aller queeren Farbtupfer doch nah an der Vorlage aus der Shakespeare-Zeit und bietet ein Sprechtheater, das für viele gesellschaftliche Gruppen anschlussfähig ist: Jugendliche und Student*innen, für die das Volkstheater zur Einstiegsdroge werden kann, wie Nachtkritik so schön schrieb, aber auch gesetztere Herrschaften, die hier nicht vor den Kopf gestoßen werden. Diese „Edward II.“-Inszenierung ist handwerklich gelungenes, unterhaltsames Theater, auch wenn es die Handbremse angezogen lässt und kein so wilder Ritt durch die Popkultur ist, wie sie Pinar Karabulut, Hausregisseurin der benachbarten Münchner Kammerspiele, in ihrer Lockdown-Web-Soap für das Schauspiel Köln inszenierte.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2022/04/11/edward-ii-munchner-volkstheater-kritik/
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