Scheiterhaufen mit Cheerleadern

17. Oktober 2021. Mit ihren "Drei Milliarden Schwestern" landeten Bonn Park und Ben Roessler an der Volksbühne Berlin einen Hit. Nun setzten sie die erfolgreiche Zusammenarbeit  am Münchner Volkstheater fort. Mit einem Highschool-Musical.

Von Sabine Leucht

"Gymnasium" am Volkstheater München © Arno Declair

Scheiterhaufen mit Cheerleadern

von Sabine Leucht

München, 17. Oktober 2021. Von Beginn an ist klar, wer in welcher Liga spielt. Da sind die bebrillten grauen Mäuse, die Notiz-Kladden fest an die Brust gepresst. Da sind die Goths, die aussehen, als hätten sie sich eben für ein Tim Burton-Filmset eingedüstert. Die Athleten haben ihre Daumen in den Bund ihrer Jeans gehakt, und die rosa Röcke der "gemeinen Mädchen" werfen messerscharfe Falten. Selbst die Nerds, die um die Emotionalität von Zahlen wissen, dürfen "Beim Zeus, was für Arschlöcher!" sagen.

Entleerung der Hirne

Nur zwei gehören nicht dazu: "Das neue Mädchen" (Henriette Nagel), das seinen Platz erst finden muss und dabei großäugig staunend die (moralische) Orientierung verliert – und die Vulkanforscherin (Lioba Kippe), die ihren bereits eingenommen hat. Weit weg von den anderen sitzt sie kurz unter dem Gipfel des Pappmaché-Vulkans, der im Zentrum von Jana Wassongs herrlich trashiger Bühne Qualm und Glitzerkonfetti spuckt. Sie kaut Stullen und trauert verlorenen Gewissheiten hinterher: "Alles, was ich gelernt habe, stimmt nicht mehr. Früher, da war Liebe und Zuneigung immer alles, egal was kam, und jetzt, da ist Meinung alles. Ich glaube, Meinung hat die Liebe zu einem Duell herausgefordert, und die Meinung hat gewonnen."

Gymnasium1 1200 Arno Declair uPanorama der Highschool-Klischees: Madeleine Maier, Gabriel Rupp, Elisabeth Seeberger, Luise Deborah Daberkow © Arno Declair

Blöd für sie, die lieber eine Ahnung als eine Meinung hat. Blöd für alle, die lieber ein bisschen was wissen als vieles zu glauben. Denn für die wird es böse enden in Bonn Parks und Ben Roesslers Highschool-Oper "Gymnasium", in der das postfaktische Zeitalter Einzug gehalten hat und man der Entwertung der Wissenschaft und der Entleerung der Hirne beiwohnt, bis der Scheiterhaufen brennt.

Die Wahrheit der Mehrheit

"Die Zeit besteht aus den Jahren 1583 und 1995 und dem Monat August. Die Sommerferien sind zu Ende, das Spätmittelalter hoffentlich auch." So situiert der 1987 geborene Autor Bonn Park sein von ihm selbst inszeniertes Stück. Und natürlich weiß er, dass diese Hoffnung trügt. Hat er sich doch gemeinsam mit dem Komponisten seiner Erfolgsproduktion "Drei Milliarden Schwestern" Ben Roessler wachen Sinnes in den Dunst aus Pennälerschweiß, Anpassungsdruck und Dating-Regeln begeben. Die Highschool, wie wir sie alle mehr oder weniger gut aus Netflix-Serien und US-Komödien kennen, zementiert soziale Unterschiede und sperrt Charaktere in Klischees ein und oft auch weg.

Gymnasium3 1200 Arno Declair uCherhilde (Luise Deborah Daberkow) führt in den Beliebtheitsumfragen © Arno Declair

Ein ideales Modell für eine gespaltene Gesellschaft, hat sich Park gedacht – und als eine Art Vergrößerungsglas das "gemeine Mädchen" Cherhilde Richmond erfunden. Luise Deborah Daberkow spielt diese Spalt-Queen und selbsternannte Deutungs-Hoheit als direkte Verlängerung der boshaften Hasi, als die sie in Werner Schwabs "Übergewicht, unwichtig: Unform" die arme Fotzi gepiesackt hat. Cherhilde sagt nicht nur Dinge wie "Das Gesetz, das bin ich. Und die Natur, das bin ich auch", sie braut ihre Wahrheiten sinnigerweise auf der Toilette zusammen, deren Wandschmierereien den Goth Joshphilius Papadopoulos, dem Vincent Sauer eine filigrane Unbehaustheit gibt, als Hexe "enttarnen". Wo es nichts Schlimmeres gibt, als nicht beliebt zu sein, wird das zur Wahrheit, was die Mehrheit glaubt, weiß auch der Athlet (Lukas Darnstädt). "Und wer daran zweifelt, ist meist eine Hexe und die müssen sterben."

Ach – Ähm – Hä?

"Gymnasium" ist die dritte Premiere am neuen, umwerfend schönen Münchner Volkstheater, aber die erste Premiere für den Orchestergraben, den es im alten Haus nicht gab. In ihm spielen sich in Bonn Parks München-Debüt ein knappes Dutzend Akademist*innen der Münchner Philharmoniker hörenswert durch die Partitur. Sie tragen alberne Schleifen auf den Köpfen und schwenken auf Kommando rote Pompons, weil sie einen Zweitjob als Cheerleader verrichten müssen. Zehn Mitglieder des Bayrischen Landesjugendchors verstärken die acht Ensemblemitglieder auf der Bühne musikalisch und füllen deren lichte Reihen zum "Chor der verfeindeten Gruppen" auf. Singen aber tun auch die Schauspieler. Die meisten prächtig, wenige leicht schief. Beides passt zu Parks mal vergrößernder und mal verzerrender Ästhetik wie zu Roesslers Kompositionen, die Rezitative und Arien, weich gespülten Synthie-Pop und fettes Pathos kennen – und gerne konträr zu den Worten einsetzen.

Salbungsvolle, nach Weihnachtsmärchen klingende Dialoge kommen ganz ohne Musikbegleitung klar, ein schlichtes und umwerfend komisches Zwiegespräch aus "Achs" und "Ähms" und schließlich (das Hirn flieht) gefühlt hunderten von "Hä?s" wird prächtig instrumentiert. Das kongeniale Duo ist so frei, sich um Genres und Regeln nicht zu scheren. Am Ende landet Roessler beim Pop und Park bei einem Credo, dessen Teile einem aus seinen früheren Stücken bekannt vorkommen. Mit zwei Urnen im Arm steht der Schuldirektor zwischen den sich schließenden Vorhanghälften und brabbelt: "Ich glaube…, wenn wir da dranbleiben, dann wird ganz bestimmt, ganz sicher, wirklich alles alles gut. Dann wird alles schlimm. Ja dann glaube ich, dass alles gut werden wird."

Gymnasium2 1200 Arno Declair uAlles gut! Steffen Link © Arno Declair

Zwei Menschen wurden geopfert. Und über dem Feuer, auf dem sie brannten, hingen die funkelnden Pappsterne tief. "Per aspera ad astra" oder so ähnlich. Doch was genau hilft der Sündenbock heilen? Was ist das Gute, der Stern, zu dem er führt? Der Regisseur, der die Freude am Spiel noch mehr feiert als die knallharte Gegenwartsanalyse, lässt künstliche Flammen lodern, Menschen und Kulissenteile schweben und das Theater vor Lachen erbeben. Dass dieser eigenwillige Abend ein Renner werden wird – gerade beim jungen Publikum – steht außer Frage. Auch wenn (oder gerade weil?) er sich fast so leicht weglachen und -konsumieren lässt wie die Serien und Komödien, aus denen er seine bösen Schlussfolgerungen zieht.

Gymnasium
Eine Highschool-Oper von Bonn Park und Ben Roessler
Regie: Bonn Park, Musik: Ben Roessler, Bühne: Jana Wassong, Kostüme: Leonie Falke, Dramaturgie: Katja Friedrich, Leon Frisch, Dirigentin: Sonja Lachenmayr, Vertretung: Étienne Lemieux-Déspres, Korrepetitorin: Elisabeth Thöni.
Mit: Luise Deborah Daberkow, Lukas Darnstädt, Lioba Kippe, Henriette Nagel, Pola Jane O´Mara, Max Poerting, Vincent Sauer, Steffen Link, Mitgliedern des Bayrischen Jugendchors unter der Leitung von Gerd Guglhör sowie den Akademist*innen der Münchner Philharmoniker.
Premiere am 17. Oktober 2021
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.muenchner-volkstheater.de

 

Mehr zu Bonn Park: In unserer Reihe "Neue Dramatik in zwölf Positionen" sprach der Autor mit nachtkritik.de-Redakteur Christian Rakow über populäre Genres im Theater und die Leiden der Jugend.

 

Kritikenrundschau

"Mit viel 'Äh' und 'Hä?', 'Hi' und 'Okay', mit sprachlichen Stolperern und philosophischen Verstiegenheiten, die einem halt so einfallen, wenn man jung ist", komme dieser Abend daher, schreibt Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung (18.10.2021). Aber: "Davon darf man sich nicht trügen lassen, denn Parks Welt ist voller Abgründe." Immer wieder lande man deshalb bei "einer Dystopie", die aber nicht als solche, sondern mit "eigenwillige(m), pointierten Witz" und "kluge(r) Souveränität" erzählt werde, so der Kritiker, der dem Abend das Zeug zum "Kult" bescheinigt.

Rezensent Tobias Hell findet im Münchner Merkur (19.10.2021) einige "interessante Denkanstöße" zu aktuellen Themen in dieser Inszenierung. Diese seien "mal mehr, mal weniger" subtil im Text zu finden. Autor und Regisseur Bonn Park interessiere weniger die heile Welt von Disney, er "plündere" mehr bei den düsteren Ausprägungen des Genres. In ihrem Bemühen, Klischees auszustellen, wirke die Inszenierung oft "bemüht verschroben und gewollt schräg", so bediene sie mitunter neue, eigene Klischees. Auch handwerklich ist der Rezensent nicht ganz zufrieden: Etwas mehr "Treffsicherheit" bei den Tonhöhen täten der Sache ganz gut.

"Sternstunden des Belcanto sollte man allerdings nicht erwarten", gibt Mathias Hejny in der Abendzeitung (18.10.2021) bei der musikalischen Umsetzung zu bedenken. Die Schauspielerinnen und Schauspieler haben "ihre mal mehr, mal weniger überzeugenden Gesangsnummern", schreibt der Rezensent – der seinen Text über den Abend ansonsten eher beschreibend fasst und sich eines eindeutigen Urteils enthält.

 

 

 

 

mehr nachtkritiken