Und die Wunde schließt nicht

Von Karin Yeşilada

19. Oktober 2021. Die literarische Erzählerfigur des kleinen Edgar spiegele nur einen Teil von ihm, verrät Edgar Selge vorab, und doch tragen in seinem autobiografischen Debütroman sämtliche Figuren Eigennamen realer Personen. Wie also umgehen mit diesem kraftvollen Buch über das Leben von Edgar S.? Mit Etjas, wie er liebevoll genannt wird, Kindheit voller Schmerzen? Erfahren wir nun also die Wahrheit über die Lebensgeschichte des bekannten Schauspielers?

Selten nur tritt der reale Selge im Roman hervor. Der Lockdown, schreibt er, habe ihn gefangengesetzt, nicht zuletzt, weil das Gesundheitssystem seine Altersgruppe kategorisiert. Eine doppelbödige Ironie angesichts der im Roman akribisch beschriebenen Abläufe in deutschen Vernichtungslagern. Wie nehmen sich die tragischen Kriegsverluste der Familie dagegen aus? Diese Grundkonstellation bildet den gedanklichen Rahmen der Erinnerungen einer Kindheit in den 1960er Jahren, derer sich der Autor erzählend vergewissert. Immer wieder ist zu spüren, wie der 73-Jährige dem kindheitsentmündigten 12-Jährigen die Bühne bereitet, um daraufhin erstmals selbst zu sprechen, um endlich gehört zu werden. So liegt dem an Figuren und Szenen reichen Roman letztlich ein großer, von Erinnerungen getragener Monolog der allmählichen Selbstvergewisserung zugrunde, dessen Spannungsbogen ganz ohne relevante Handlungsstränge über 300 Seiten lang fesselt.

Gefängnis der Spießigkeit

Die Kindheit selbst ist äußerlich zunächst abgesichert, nachdem die Eltern Edgar und Signe Selge, sicher durch die Flucht aus Ostpreußen ins westfälische Bückeburg gelangt und von dort nach Herford umgezogen sind. Der Vater kann nach erfolgter Entnazifizierung die Karriere fortsetzen, zu Hause veranstaltet er regelmäßige Kammerkonzerte. Seine Frau versorgt derweil die eingeladenen Kammermusiker, den musizierenden Mann, die vier Söhne und den Haushalt, nicht ohne diese Kunst durch ihre lukrative Mitgift mitzufinanzieren. Soweit, so nachkriegsspießig normal, bis auf die Kulissen und den Blick dahinter.

Cover SelgeDenn Selge sen. ist Gefängnisdirektor einer Jugendvollzugsanstalt, und auch deren Insassen sind Publikum seiner erlauchten Hausmusik. Anders als die gesondert eingeladenen, beflissenen Kulturbürger drängen sie sich unbeholfen in der herrschaftlichen Villa, deren Material sie selbst in der Anstalt gefertigt haben, und schlagen sich wacker durch die humanisierende Rehabilisierungsmaßnahme. Großartig, wie sie da auf den selbst mitgebrachten Stühlen herumrutschen und die Wandgemälde anstarren, den jüngsten Selge-Spross um Zigaretten anhauen und nach Bewirtung mit Stulle und Saft wieder von dannen ziehen. Der kleine Edgar weiß nicht, was faszinierender ist, die Musik oder die illustren Zuhörer?

Das Gefängnis steht ambivalent für die Moralvorstellungen der Familie Selge, doch wer ist hier wie gefangen? Der musikalisch beseelte Vater glaubt an das überwiegend gute Potenzial seiner jugendlichen Schützlinge und vertraut auf die Möglichkeiten der Rehabilitierung, für die er auch auf höherer Ebene kämpft. Umgekehrt dienen die Straftäter als Vergleichsgröße für den jüngsten Selge, der sich für das mutwillige Ramponieren eines "ihrer" Möbelstücke zu rechtfertigen hat. Wenn sich Edgar jun. mal wieder Geld aus der Haushaltskasse oder aus der Börse des Bruders stibitzt und die Eltern belügt, um heimlich ins Kino gehen zu können, scheint jene "kriminelle Energie" beim Sprössling auf, die Selge sen. sonst eher bei seinen Sträflingen infrage stellt. Edgar, der kleine Picaro des Romans.

Denn sie wissen nicht, was sie tun

Doch der progressive Hauch humaner Nachkriegsjustiz hat einen beißenden Geruch, nicht zuletzt, weil Vater Selge wegen Bevorzugung inhaftierter deutscher Kriegsverbrecher nach Herford strafversetzt wurde. Mehr noch, der dienstlich "zu milde" Jurist übt in janusköpfiger Manier zuhause eine drakonische Strafjustiz aus und prügelt seine Söhne regelmäßig grün und blau. Auch die gelegenheitsmusizierende Frau übt sich in dieser Disziplin – was ihr übrigens genauso schlecht gelingt wie das Geigenspiel –, die Lehrer in der Schule praktizieren ohnehin schwarze Pädagogik.

Wenn der heutige Edgar Selge cool darüber spricht, dass alle früher von ihren Vätern geprügelt wurden, so kommt darin nur ein Bruchteil dessen zum Ausdruck, was sein Alter Ego im Roman erlebt: den bis fast zur Bewusstlosigkeit führenden körperlichen Schmerz, vor allem aber die seelischen Verletzungen dieser ritualisierten Gewalt und systematischen Erniedrigung. (Darüber kann auch nicht die groteske Schilderung des zwischen Mutters glitschigen Nylonstrümpfen eingequetschte Kopf des Gezüchtigten hinwegtäuschen.) Dem ganzen Roman, der ganzen Kindheit liegt eine tiefe Verletzung zugrunde liegt, deren seelische Qual bis heute reicht. Nicht von ungefähr fühlt sich Etja Film-Idol James Dean nahe und spiegelt seinen Vater-Konflikt im amerikanischen Kino der Nachkriegszeit (das Edgars reale Erfahrungen sexueller Nötigung durch den pädophilen Vater noch gar nicht erzählt). Woher kommt diese entfesselte Gewalt in der wirtschaftswundersatten Nachkriegsidylle? Sind hier die Herrenmenschen noch am Werk?

Musik und Massenmord

Die (literarisch nicht neue) Auseinandersetzung mit der Schuld ihrer durch die Nazi-Ideologie geprägten Eltern und Großeltern übernehmen im Roman vor allem Edgars ältere Brüder, mit teils köstlich schneidenden Dialogen. Doch wie umgehen als Spross einer traditionsreichen Musikerfamilie mit dem, was Musik mit der Seele macht? Selges Gespräche mit den Komponisten und ihren Werken lesen sich ganz fantastisch, er belehrt nicht so selbstverliebt wie einst Joachim Kaiser, sondern lässt uns mit ihm zusammen verlorengehen in den Sehnsüchten Mendelssohns (schillerndes jüdisches Kultursprengsel im arischen Kulturkanon der Selge’schen Hauskonzerte), den Selbstgesprächen Beethovens, in den Klanglandschaften Mozarts. Und lässt doch die Verbrechen des arischen Kulturbürgertums nicht vergessen. Als jüdische Überlebende den Herrn Gefängnisdirektor nebst Gattin zum gemeinsamen Hauskonzert bitten, wollen die Töne nicht perlen; "das klappt eben nicht", meint Mutter Selge erleichtert. Dass ihr eigener Sohn kurz zuvor beim Spielen mit einer gefundenen Granate ums Leben kommt, mag sie da nicht umstimmen, zu tief sitzen die Wertvorstellungen ihrer eigenen Jugend. Zwei Söhne tot, drei Überlebende, die bis zum Tod der Eltern nicht abgeschlossen haben mit der Frage nach dem Warum.

Immer wieder fängt der erwachsene Autor den in seiner Hilflosigkeit gefangenen Jungen auf und behandelt die offene Wunde, die zentrale Frage des aus dieser Kindheit gewordenen Künstlerlebens: Wie kann ich den, der mich schlägt, lieben? Es sind dies die dichtesten Momente des Romans, die atemlose Stille des Theaters im Angesicht des Dramas, und sie klingen weit über die Erzählung hinaus. Über die Schauspielerei habe er letztlich zum Schreiben gefunden, erzählt Edgar Selge in einem der vorab gegebenen Interviews, und spricht dabei auch über das Verzeihen. Wie auch immer der Autor das Erzählte persönlich mit sich aushandelt – dieser wunderbar lakonische Roman über die Kindheit eines dem Narren in der Shakespear‘schen Tragödie mitunter nicht unähnlichen Künstlers hinterlässt neben dem eigentlichen Lesegenuss diesen großen Ton seelischer Tiefe, die nicht nur bei der Leserschaft aus der Generation des Autors lange nachklingt.

 

Hast du uns endlich gefunden
von Edgar Selge
Rowohlt. 304 Seiten. Gebunden 24,- Euro, E-Book 19,99 Euro.

Kommentare  
Buch Selge: eindringlich beschrieben
Was für ein eindringlicher Text, den Frau Yesilada geschrieben hat!
Sobald wie möglich lese ich diesen Roman!
Der Schauspieler Edgar Selge hinterlässt einen bleibenden Eindruck - und das gelingt nun auch wohl dem Autor Edgar Selge.
Bewundernswert!
Buch Selge: einfühlsamer Text
Ich stimme meiner Vorrednerin zu: ein wunderbar geschriebener, einfühlsamer und neugierig aufs Buch machender Text.
Buch Selge: tief bewegend
Selge ist ein Künstler. Das Buch ist tief bewegend und treibt mir
die Tränen in die Augen.
Buch Selge: versucht
Maggiroller ist mein Kindheits/Jugendname.

Ich habe in meine Lieblingsbücher geschrieben: das kört mir! Niemand durfte es berühren.
Nach so so vielen Jahren bin nochmals versucht, in Selges Buch zu schreiben: DAS KÖRT MIR!
Ach.
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