Vom Drill der Kinder

20. Oktober 2021. Die Jugend will aufbrechen, hinaus ins Leben, in die Moderne – aber dort warten nur Selbstoptimierung, Zwang, Missbrauch. Anne Leppers bitteres Frühwerk "Hund wohin gehen wir" kommt jetzt in der Regie von Alia Luque in Darmstadt zur Uraufführung. An reizvollem Spielort: in der städtischen Kunsthalle.

Von Esther Boldt

Hundelend: Edda Wiersch, Marielle Layher © Fabian Stransky

Vom Drill der Kinder

von Esther Boldt

Darmstadt, 20. Oktober 2021. Ein Kasten ist die ganze Welt. Daraus vorerst kein Entrinnen. Hoffnung ist drinnen trotzdem, auf das Glück da draußen, auf Liebe, Anerkennung, Auserwähltsein gar. Darum wird nun im Kasten trainiert – für den Ernstfall. Für den Ausfall. Für das Leben danach.

Verwicklungen im Jugendheim

Zehn Jahre ist Anne Leppers Stück "Hund wohin gehen wir" alt, 2011 wurde es beim Berliner Stückemarkt ausgezeichnet, danach jedoch nur als Hörspiel inszeniert. Sechs Stücke, einige Festivaleinladungen und Auszeichnungen später nun nimmt sich das Staatstheater Darmstadt des leicht raunenden Textes an, der wie stets bei Lepper ohne Punkt und Komma daherkommt, distanziert, zwischen Verzweiflungswitz und Groteske. Darin: Drei Jungen im Kinderheim, Christopher, Karl und Simon, die hier, aufs Sofa gebannt, darauf warten, dass die Welt für sie bereit ist. Oder sie für die Welt. Eher benutzt als betreut werden sie dabei von Frau Fern.

Währenddessen präparieren sich auch die Teenage-Mädchen Alma und Johanna fürs Erwachsenwerden, für die Ansprüche der Welt da draußen, denen sie noch nicht genügen. Am Ende, man ahnt es rasch, wird's nicht gut ausgehen. Am Ende muss all die Hoffnung zerschellen – und ihre Enttäuschung bricht sich gewaltsam Bahn.

Welt am Abgrund

Regisseurin Alia Luque versetzt diese Verlassenen und Verwaisten in zwei Guckkästen. Gespielt wird dabei nicht im Staatstheater, dessen Kleines Haus gerade saniert wird, sondern in der Darmstädter Kunsthalle. Mitten in einer Ausstellung über britische Dokumentarfotografie, zwischen Jagdmotiven und Stadtgeläut stehen zwei Guckkästen in zwei benachbarten Sälen. In einem drei Jungs, die gleich für Gelächter sorgen, schauen doch Schauspielerköpfe aus der Sofalehne heraus, auf grotesk kleine, puppenartige Körper montiert: Erwachsene halt, die Kinder spielen.

Hund4 1200 Fabian Stransky uHeimerziehung im Schaukasten: Mathias Znidarec © Fabian Stransky

Im anderen Guckkasten machen sich derweil Alma und Johanna in Ballettkleidung warm. Das Interieur ist, hüben wie drüben, reichlich retro – und dabei machen sich die Figuren doch fertig für die Moderne! Die Moderne, das heißt hier: Selbstzurichtung und -optimierung. "Wenn du nichts tust steht die Welt am Abgrund und geht kaputt" droht Alma Johanna gleich zu Anfang, die zunächst nicht so ganz einsieht, warum die Weltrettung von ihr, der noch nicht einmal Erwachsenen, abhängen soll. Und sollte nicht erst sie selbst kaputt gehen – und dann die Welt?

Das Fegefeuer der Selbstoptimierung

In beiden Kästen wird parallel gespielt, was ja ganz schön passt zu diesem Paralleluniversumsstück. Dazwischen können die Zuschauer:innen wandeln, sich in Sichtachse oder Hörweite zwischen beiden Guckkästen positionieren und die Schicksale so ineinanderraunen lassen. Die Spieler:innen sprechen Banalitäten wie Ungeheuerlichkeiten möglichst unbeteiligt weg. Wo Leppers Text noch eine schmale Entwicklung skizziert, legt die Inszenierung Schleifen, wiederholen Alma und Johanna den Selbstoptimierungs-Drill und die Suche nach der großen kleinen Liebe. Ihre Freundschaft ist, das spielen Edda Wiersch und Marielle Layher prägnant heraus, ein Kampfplatz, hier geht es um Macht, um Herrschaft – wie auch im Waisenhaus nebenan, wo der arrogante Simon (Stefan Schuster) auf dem fransenbehangenen Sofa gelandet ist, der sich schlichtweg weigert, zu diesen Weltvergessenen dazu zu gehören. Und sein Möglichstes tut, um Christopher (Béla Milan Uhrlau) und Karl (Hans-Christian Hegewald) die Hoffnung auf ihr Happy End als Prinzen hoch zu Ross zu nehmen.

Zwischendurch steckt ihnen Frau Fern Pillen in den Mund wie Bonbons, missbraucht sie sexuell, tötet am Ende gar einen – hier schreibt die Regisseurin ein bisschen um. Machtmissbrauch also, Biopolitik, die Ein- oder Verlagerung globaler politischer Probleme (hallo Klimawandel!) ins einzelne Subjekt.

Hund3 1200 Fabian Stransky uDie Spielräume in der Darmstädter Kunsthalle entwarf Christoph Rufer © Fabian Stransky

All dies durch die Linse von Kindheit und Jugend skurril vergrößert, das hat schon was, gebiert spannende Momente. Und auch das Driften zwischen den Albtraum-Räumen geht momentweise gut auf; die Räume, die einander durchdringen, der Straßenverkehr vor den Fenstern, die flanierenden Premierengäste, die Tatsache, dass man stets etwas verpasst, nehmen Leppers tieftraurigem "Hund wohin gehen wir" ein wenig Gewicht. Trotzdem bleibt am Schluss der Eindruck des Verpassens, der Eindruck, nur eine Skizze gesehen zu haben – eines zudem fragmentarisch wirkenden, offenen Theatertextes, der sich hier mitunter dem Verschwinden nähert.

Hund wohin gehen wir
von Anne Lepper
Uraufführung
Regie: Alia Luque, Bühne: Christoph Rufer, Kostüm: Ellen Hofmann, Dramaturgie: Christina Zintl.
Mit: Stefan Schuster, Béla Milan Uhrlau, Hans-Christian Hegewald, Mathias Znidarec, Edda Wiersch, Marielle Layher.
Premiere am 20. Oktober 2021
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.staatstheater-darmstadt.de

 

Kritikenrundschau

Von einer "zum Ende hin zähen Aufführung" spricht Björn Hayer in der Deutschen Bühne (21.10.2021) Angesichts der Ambition des Stücks, "uns die Welt seit dem Ende des 19. Jahrhunderts mal zu erklären", fällt Leppers Text aus seiner Sicht mau aus, da es ihr sowohl an hinreichendem Dialoggespür als auch an einer übergreifenden Idee mangele. "Nicht einmal die Regie unter Alia Luque oder gar die großartige Bühneninstallation eines Christoph Rufer wissen noch, über die sich spätestens in der zweiten Hälfte des Abends einstellende Langeweile und inhaltliche Leere hinwegzutäuschen. Es bleibt das Gefühl, ein Stück aus einer vergangenen Zeit gesehen zu haben, das nun als Omas kalte Küche in dem weitaus progressiverem Raumensemble der Kunsthalle neu aufgewärmt wird."

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