Die rechtschaffenen Mörder - Staatsschauspiel Dresden
Rückfahrt in eine fremde Zeit
Dresden, 23. Oktober 2021. Durch die Umbruchzeiten führt Ingo Schulze in seinem Roman "Die rechtschaffenen Mörder" die eigensinnige Hauptfigur des Aniquars Paulini. Claudia Bauers Adaption in Dresden ist nicht minder eigensinnig.
Von Michael Bartsch
Rückfahrt in eine fremde Zeit
von Michael Bartsch
Dresden, 22. Oktober 2021. Die gute Nachricht zuerst: Zahlreiche bemerkenswerte Passagen von Ingo Schulze, die seine Titelfigur Norbert Paulini als Antiquar und Archetyp des Buchlesers mit Bleistift sicherlich angestrichen hätte, kehren in der Bühnenfassung wieder. Meist sogar exponiert und einprägsam deklamiert. Pointiertes über den Literaturbetrieb, den Sieg des Kommerzes über den Geist nach 1990, auch die späte Selbstverneinung Paulinis, man müsse über das Durchgangsstadium Buch zum eigentlichen Leben finden.
Antiquar auf Abwegen
Soweit die Werktreue. Für reichlich Kaugummi und gelegentliche Aha-Effekte bei dieser Dresdner Roman-Adaption aber sorgen die Dramaturgie und die distanzierte Regie Claudia Bauers. Symbolisch aufgeladen bis überladen, verfremdet bis surreal, bietet diese Uraufführung zumindest genügend Reibungsflächen.
Vom Entwicklungsroman, den Schulzes "Die rechtschaffenen Mörder" im ersten Teil darstellt, muss man sich erst einmal verabschieden. Eingeblendete Jahreszahlen sollen die vielen Zeitsprünge erleichtern. Die Inszenierung steigt sozusagen rückwärts ein mit einem späten Verhör Paulinis durch zwei Kriminalbeamte. Deckt der Vater die Neonazi-Umtriebe seines Sohnes Julian am "Führergeburtstag" 20. April? Die gekonnte Doppelbödigkeit des Autors lässt das offen.
Dann erst beginnt die Wegbeschreibung Paulinis, von dem wiederum offen bleibt, ob er eine Erfindung des im zweiten Romanteil auftretenden Schulze-Alter-Egos "Schultze" ist. Das wenig geliebte Halbwaisenkind Norbert Paulini findet seine Erfüllung in der Bücherlektüre sowie früh auch in der antiquarischen Vermittlung des Buchs.
Der Beginn der Allesvielbesserzeit nach 1989 wirft ihn aber aus der Bahn, die Brüder und Schwestern aus dem Westen enteignen fleißig und verspotten den unökonomischen Idealismus der Ossis. Ob der frustrierte Paulini in der jüngsten Vergangenheit wirklich zum Rechtsextremisten mutiert, wie es Rezensenten sahen, behauptet der 2020 erschienene Roman nicht ausdrücklich.
Parodie auf die Dresdner Bohème
"Im Dresdner Stadtteil Blasewitz lebte einst ein Antiquar …" beginnen Bühnen- und Originaltext schließlich. Ist es dieser märchenhafte Einstieg, ist es eine Parodie auf die wilden und barocken Feste der Dresdner Bohème in den 1970er und 80er Jahren? Jedenfalls erscheinen alle Akteure durchgegendert in langen Ballkleidern. Nicht genug, Puppenköpfe mit langen Pinocchio-Nasen machen die Figuren austauschbar. Ihren Text sprechen andere, als habe man damals auch als Kunde des Antiquars nicht gesagt, was man eigentlich sagen wollte.
Ihr zuweilen an Kaspertheater erinnerndes Gehabe lässt sich eigentlich nur als Spott auf die hedonistische und zugleich elitäre Dresdner Szene besonders in den elbnahen Stadtteilen interpretieren. So taucht er bei Schulze gar nicht auf. Der einzige, der sein lächerliches Kleid bis zum Schluss behält, ist Paulini. Ostalgie, Starrsinn oder einfach Wertkonservatismus?
Der zwar holzfarbene, aber nüchterne riesige Bühnenraum vermittelt die gegenteilige Atmosphäre eines intimen Antiquariats. Man sieht auch kein einziges Buch. Der kleine Norbert aber sieht sie, spielt symbolisch verrätselt mit einem Turm aus beweglichen Lichtern, als er die Welt der Lektüre entdeckt.
Autor Schultze im Mittelpunkt
Zur Freiheit der Bühnenfassung gehört die Akzentverschiebung von der Zentralfigur des Antiquars hin zum sich selbst kommentierenden Autor "Schultze". Moritz Kienemann meistert diese Aufgabe ständiger Präsenz mit vehementem Einsatz. Völlig anders als nach der Romanlektüre imaginiert erscheint hingegen Torsten Ranft als Norbert Paulini. Seine Ernsthaftigkeit wird durch alberne Szenen konterkariert, jedenfalls entsteht nicht das Bild eines charismatischen Intellektuellen, und auch Nietzsches viel zitierten "Prinz Vogelfrei" erkennt man kaum. Es scheint, als habe Claudia Bauer auch ihn nicht ernst genommen.
Stringenz ist ohnehin ein Problem, wenn Nebensächlichkeiten wie das Essen mit Stäbchen zur Erheiterung des Publikums überproportional ausgespielt werden. Peinlich geradezu, wie Hauseigentümerin Kate den Enteignungsbescheid westdeutscher Restitutionsgewinner lustig im Suff ertränkt und dabei stirbt. Zur Manie gerät der omnipräsente Videoeinsatz, der in vielen Situationen aufgesetzt und ästhetisch wenig bereichernd erscheint.
Eine Klasse für sich sind die Sänger von AuditivVokal Dresden. Teils in klassischer Harmonik, teils gekonnt dissonant gehen sie eigenständig über filmähnliche akustische Illustration hinaus und schaffen permanent eine schwebende, fragende, unaufgelöste Sphäre.
Suche nach Werten
Von der Bühnenfassung eines Romans erwartet man einen Mehrwert, der einen Vergleich mit dem Original erübrigt. Ingo Schulze schildert im Buch nicht nur einen Modellfall der Resilienz in Umbruchzeiten. Er bietet auf subtile Weise auch eine Erklärung für die besondere Anfälligkeit Ost gegenüber rechten Ideologien auf der Suche nach bleibenden Werten an.
Davon spürt man in Dresden unter aller versuchten Ästhetisierung nichts. Zuweilen drängt sich sogar das Kalkül auf, dass die Spieldauer für etwa 200 der 321 Seiten Romanlektüre ausgereicht und einen höheren Erkenntnisgewinn versprochen hätte.
Die rechtschaffenen Mörder
nach dem Roman von Ingo Schulze
Uraufführung
Regie: Claudia Bauer, Bühne: Andreas Auerbach, Kostüme: Patricia Talacko und Doreen Winkler, Musik: Peer Baierlein, Dramaturgie: Uta Girod.
Mit: Torsten Ranft, Moritz Kienemann, Christine Hoppe, Nadja Stübiger, Eva Hüster, Viktor Tremmel, Richard Feist, Anton Löwe, Marin Blülle.
Und "AuditivVokal Dresden": Anne Stadler, Katharina Salden, Sinah Seim-Olesch, Dorothea Wagner, Alexander Bischoff, Jonas Finger, Philipp Schreyer, Cornelius Uhle, Leitung: Olaf Katzer.
Premiere am 22. Oktober 2021
Spieldauer 2 Stunden 15 Minuten, keine Pause
www.staatsschauspiel-dresden.de
Kritikenrundschau
Es sei "die spannendste unter den Dresdner Ingo-Schulze-Uraufführungen", meint Matthias Schmidt im MDR Kultur (23.10.2021, 15:04 Uhr). Der Roman sei eine Herausforderung für die Bühne: "Angesichts des vielschichtigen Konstrukts, das Ingo Schulze mit diesem Roman geschaffen hat, ist es eine Qualität der Inszenierung, dass sie Eineindeutigkeiten vermeidet" – "und diese Vieldeutigkeit mit Tiefsinn zu ermöglichen und auszuhalten, und das in einer so ansehnlichen und meistenteils kurzweiligen Inszenierung – ist eine theatrale Großtat. Chapeau!"
Regisseurin Claudia Bauer kitzele herrliche Szenen aus ihren Spielern, so Andreas Herrmann von den Dresdner Neuesten Nachrichten (25.10.21). Ihr gelinge ein überaus beachtliches Dresden-Debüt, das man als Ode an ihre Darsteller und den Roman würdigen könne. "Das besondere Verdienst ihrer Inszenierung ist einerseits die sonst bei Romanadaptionen auf dem Theater seltene Erweckung erweiterter Lesenslust. Andererseits erfährt Schulze Genugtuung gegenüber bundesweiter Literaturkritik, die den Roman auf ein bestimmtes Stadtviertel oder gar die akute Zerrissenheit der Lokalgesellschaft samt konkreten Figurenzuschreibungen herunterbrach."
"Die Zuschauer erleben eine anspruchsvolle Aufführung mit märchenhaften, bitteren und komischen Elementen", schreibt Rainer Kasselt in der Sächsischen Zeitung (25.10.2021). Trotz der überbordenden theatralischen Mittel bleibe die Intention des Romans enthalten. Die Regie sei bildstark, das Ensemble spielfreudig. Moritz Kienemann zaubere seinen Schultze "hinreißend, selbstverliebt, überschwänglich und verzweifelt" auf die Bretter.
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