Geschichten vom Verschwinden

Stuttgart, 24. Oktober 2021. In Co-Regie mit Anna Laner inszeniert Thomas Köck fürs Schauspiel Stuttgart seinen Text "Algo Pasó (La Última obra)" – ein Abend übers Verschwinden als ästhetisches Prinzip und als politische Realität der "Desaparecidos" in Mexiko.

Von Verena Großkreutz

Algo Pasó (La Última obra) in Stuttgart © Björn Klein

Geschichten vom Verschwinden

von Verena Großkreutz

Stuttgart, 23. Oktober 2021. Seit 2012 wird jährlich am 30. August weltweit der "Internationale Tag der Verschwundenen" begangen, um jenen Menschen zu gedenken, die in ihren Ländern entführt oder heimlich verhaftet, dann gefoltert und ermordet wurden. In Mexiko etwa verschwinden jährlich tausende Menschen spurlos. Täter sind korrupte staatliche Sicherheitsdienste und Drogenkartelle. "Desaparecidos" nennt man die Verschwundenen. Die Desaparecidos sind Thema des Theaterabends "Algo Pasó (La Última obra)", der jetzt als internationales Kooperationsprojekt im Kammertheater des Staatstheaters Stuttgart Premiere hatte.

In der Geschichte zerfallen, in der Geschichten zerfallen

Zumindest sind sie es indirekt. Denn der Text, den der preisgekrönte österreichische Dramatiker Thomas Köck geschrieben hat, bewegt sich auf abstrakter Ebene. Von persönlichen Schicksalen ist keine Rede. Es geht nicht um die Verschwundenen selbst, sondern um das Verschwinden als ästhetisches Prinzip.

algo pas 600 ua 1 foto bjoern kleinIm Erinnerungsraum: Micaela Gramajo (Video) und Annina Walt © Björn Klein

Köck verweigert sich auf diese Weise jeglichem emotionalen Zugang. Es geht zwar auch um politische Dimensionen, etwa um die Frage, wo die Waffen herkommen, mit denen die Menschen ermordet werden. Anderseits zieht sich durch den Abend ein Diskurs über Formen der Erinnerung. Im Mittelpunkt: das Archiv, in dem Spuren, die verschwundene Menschen im Leben hinterlassen haben, zwar gesammelt, durch die technische Ausrichtung der Archive und ihrem Zwang zur Strukturierung gleichzeitig jedoch wieder vernichtet werden – so wird im Stück argumentiert. Von "diesen ewig und dreitausend gleichen Bildern" ist da die Rede, "die in der Geschichte zerfallen, in denen die Geschichten zerfallen."

Der Archiv-Gedanke prägt auch das Bühnenbild: sehr hohe Metallregale, vollgestopft mit Pappkartons. Darin, darauf, darum agieren vier Schauspieler:innen – je zwei deutsch- und zwei spanischsprachige – gekleidet in knallrote Overalls und weiße Sneaker.

algo pas 600 ua 9 foto bjoern kleinDas Verschwinden (im Schatten) als ästhetisches Prinzip © Björn Klein

Sie streiten um die richtige Form der Erinnerung, die sich nicht in Archiven erfüllen könne, sondern eher im privaten, individuellen Speichern von Material und der kollektiven Zusammenarbeit sich Erinnernder im Netz. Endlos lang disputieren sie über den Sinn des Anfangs und des Endes von Geschichten. Später geht es um Fakten zum weltweit virulenten deutschen Waffenhandel und die schwäbische Firma Heckler & Koch, die führende Herstellerin von Handfeuerwaffen.

Textschlachten, Bildschnipsel

Viel Text jedenfalls in einer ästhetisch recht unbekümmerten Mixtur aus Streitgesprächen, komischen Nummern, Kartonschlachten. Dazwischen schiebt, wuchtet, kippelt das Ensemble große, graue Stelen hin und her, auf die dann allerlei Videoschnipsel gebeamt werden. Während aus dem Off immer wieder das ungefilterte Gelabere eines coronabedingt in Mexiko gestrandeten österreichischen Doku-Filmteams ertönt, das Kontakt zu Waffenhändler:innen aufzunehmen versucht. Die Geschichte wird nicht fertig erzählt, versandet irgendwo in der Wüste.

algo pas 600 ua 6 foto bjoern kleinGekippte Archivregale synonym für zerfallene Geschichten © Björn Klein

Köck ist nicht nur Autor des Abends, sondern auch der Regisseur. Es zeigt sich, dass er wenig Erfahrung mit dem Inszenieren hat: in der fehlenden Stringenz des Ganzen, der wenig schlüssigen szenischen Umsetzung des Textes, dessen Sinn weitgehend unverständlich bleibt. Was gemeint ist, erschließt sich erst nach dem Studium des Programmhefts. Viele Leerstellen werden mit Plattitüden gefüllt. Vieles wirkt willkürlich. So nutzt Teamkollege Andreas Spechtl, zuständig für die Bühnenmusik, offenbar die Gelegenheit, in dieser Inszenierung ein bisschen Werbung für seine Band "Ja, Panik" zu machen. Warum sonst erklingt zweimal an exponierter Stelle ein hipper Pop-Song der neuesten CD? "Drinnen ich / Draußen nichts / Schau mich an / Eine nervöse Gestalt", heißt es darin, hübscher Text, aber was soll er in diesem Kontext sagen?

Drinnen nichts, draußen nichts

Es bleibt am Ende auch die Frage, was diese Produktion – eines der vielen internationalen Kooperationsprojekte, die der Intendant des Hauses, Burkhard C. Kosminski, immer wieder initiiert – eigentlich mit dem Stuttgarter Schauspiel zu tun hat. Aus dem hauseigenen Ensemble, in dem derzeit besonders die jüngeren Schauspieler*innen chronisch unterbeschäftigt sind, ist jedenfalls niemand mit dabei.

 

Algo Pasó (la última obra) [Etwas ist passiert (Das letzte Stück)]
Von Bola de Carne, Thomas Köck, Anna Laner und Andreas Spechtl
Text und Regie: Thomas Köck, Co-Regie und künstlerische Produktionsleitung: Anna Laner, Bühne, Video und Licht: Daniel Primo, Mitarbeit Bühne: Emilio Zurita, Kostüme: Laura Marnezti, Musik und Sounddesign: Andreas Spechtl, Dramaturgie: Carolin Losch.
Mit: Bernardo Gamboa, Micaela Gramajo, Timo Wagner, Annina Walt.
Premiere am 23. Oktober 2021
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause
Eine Koproduktion mit Cultura UNAM y Teatro UNAM, Théâtre National du Luxembourg und dem Goethe-Institut Mexiko.

www.schauspiel-stuttgart.de

Kritikenrundschau

"Thomas Köck, der hier leider auch als Regisseur wirkt, hat eine sehr theoretische Abhandlung über das Verschwinden geschrieben und inszeniert das nun als Performancetheater", so fasst ein merklich genervter Christian Gampert den Abend im Deutschlandfunk (24.10.2021) zusammen. "Immer wenn es persönlich wird, ist der Text stark. Aber indem Köck sich weigert, Geschichten zu erzählen, verfehlt er auch die große Weltgeschichte, die er angeblich im Blick hat. Er bietet uns nur politisch korrekte Welt-Anschauung. Köcks Theater des Verschwindens bringt auch das Theater selber zum Verschwinden."

"Das intellektuelle Angebot dieses hundertminütigen Abends ist zweifellos groß." Da stecke manches drin, über das man erst mal gut nachdenken müsste, schreibt Tim Schleider in der Stuttgarter Zeitung (25.10.2021). Jedoch: "Wohl kaum ein Theaterbesucher wird sich aus diesem Mosaik, das noch dazu teils auf Deutsch und teils auf Spanisch geboten wird, einen Reim machen können." Und weiter: "Zusammengehalten werden all diese Vorlesungsthemen letztlich nur von Theaterrauch, Lichtspots, Bühnengetümmel und zwei Songs der Gruppe Ja, Panik."  Drei, vier sehr berührende Momente zählt der Kritiker an einem Abend, der sich allerdings für ihn nicht fügt, den er im Gegenteil als "ermüdendes Rätsel" beschreibt.

  

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