Warten auf eine Leiche

Wien, 30. Oktober 2021. In Nikolai Robertowitsch Erdmanns Komödie "Der Selbstmörder" erwacht der Protagonist vom harmlosen Leberwursthunger. Prompt wollen diverse Kräfte der Stalin-Diktatur, dass er sich selbst um die Ecke bringt. Peter Jordan und Leonhard Koppelmann inszenieren das Stück mit viel Zuneigung fürs Schwarzhumorige.

Von Andrea Heinz

Leichte Beute: Florian Teichtmeister als Semjon Podsekalnikov © Matthias Horn

Warten auf eine Leiche

von Andrea Heinz

Wien, 29. Oktober 2021. So kann's gehen als Karnivore: Da will man des nächtens einfach nur ein Stückchen Leberwurst, und schon wird man von allerlei Wildfremden freundlich, aber bestimmt zum Selbstmord gedrängt. So geschieht es in Nikolai Erdmans eher selten gespielter Komödie "Der Selbstmörder", die Peter Jordan und Leonhard Koppelmann am Burgtheater inszeniert haben: Der arbeitslose Semjon Podsekalnikov (Florian Teichtmeister) erwacht nachts vom Leberwursthunger, weckt seine Frau Mascha (Lilith Hässle), es kommt zum obligatorischen Ehestreit. Als Semjon daraufhin verschwindet, gerät Mascha in Panik und alarmiert, weil sie befürchtet, er könnte sich umbringen, die Nachbarn.

Nach dem Tod kommt die Wahrheit

Die Aussicht auf eine zukünftige Leiche – das Stück entstand in der frühen Stalinzeit, wir befinden uns hier also nicht in Deutschland, sondern in einer Diktatur – weckt Begehrlichkeiten, ist einem Toten doch vergönnt, wovon die Lebenden nur träumen können: Er kann sagen, was er denkt. Vielleicht sogar die Wahrheit. Priester (Tim Werths), Fleischer (Bardo Böhlefeld), romantische oder eher praktisch veranlagte Frauen (Alexandra Henkel), "die Kunst", allen voran aber die Intelligenzija, vertreten von Aristarch Dominikowitsch Grand-Skubik (Dietmar König), alle wollen, dass Semjon für ihre Sache stirbt. Es ist ein bisschen wie die realsozialistische, sehr schwarzhumorige Version von Kafkas "Urteil".
Selbstmoerder 4 MatthiasHorn uSterben für die "gute" Sache: Bardo Böhlefeld, Tim Werths, Alexandra Henkel, Katharina Pichler, Lilith Häßle, Florian Teichtmeister, Dietmar König, Markus Hering © Matthias Horn

Womit man auch schon gleich bei der Ausstattung (Bühne und Kostüme: Michael Sieberock-Serafimowitsch) der Wiener Inszenierung wäre: Die Bühne, mit zahlreichen Auf- und Abgängen für das Gewusel, das noch folgen wird, hinter deren mit Hammer und Sichel verzierter Rückwand ständig der Zug vorbeifährt, ist in düsterem Industrialschick gehalten. Es ist der Osten, es ist eine Diktatur, wozu Farbe? Also sind auch die Spieler:innen (die großteils mehrere Rollen übernehmen) ganz in Schwarz gekleidet – und sehen dabei, über und über tätowiert, in Netzhemden, Leder und Rüschen, aus wie die Village-People zu Gast auf der Sado-Maso-Party eines Gothic-Motorradclubs. Oder so. Es ist schwer zu erklären, und zu verstehen noch mehr.

Ein Vorbild, ein Titan

Aber gut. Semjon Podsekalnikov hat also einen Greifvogel auf den Oberarm tätowiert, aber keinen Job, er hat ganz offensichtlich ein Problem mit seinem Männlichkeitsbild (weil die Frau das Geld verdient usw.) und ist deshalb leichte Beute für die diversen Lobbygruppen, die mit genderspezifischen Schmeicheleien ("Sie sind ein Vorbild, Podsekalnikov, ein Titan!") vorstellig werden, um ihn zum Selbstmord zu bewegen. Das wird mit einiger Hysterie, viel Aufregung, Geschrei und Gekreische inszeniert, sodass das Ganze bald ein bisschen fad wird (und das Publikum zu tuscheln anfängt).

Das Konzept hat man schnell verstanden, und das Geheische um noch den billigsten Witz (Markus Hering als verwitweter Schießbudenpächter Alexander Petrowitsch Kalabuschkin und seine gar nicht heimliche Geliebte Margarita Iwanowna Pereswetowa, gespielt von Tim Werths, etwa gehen sich in einer Tour an die Wäsche oder tun sonst anzügliche Dinge, hihi) sorgt dafür, dass es das größte Gelächter beinahe für einen mutmaßlichen Fehler gibt, nämlich als Dietmar König fast abgegangen wäre, obwohl er noch Text hat und das dann auch, geistesgegenwärtig in der Rolle bleibend, ausspricht.

Wann geht's in die Kiste?

Wenn der Abend nicht mit Gewalt witzig sein will, wird er zwischendurch ganz ernst. Das hat durchaus einige starke Momente, aber die Tonfälle und Stimmungen passen nicht zusammen, man weiß nicht wirklich, was die Inszenierung eigentlich will, und vielleicht weiß sie es selber nicht. Dabei sind die Spieler:innen toll, allen voran Lilith Häßle und Katharina Pichler als ihre Mutter Serafima Iljinischna. Nur die wunderbare Alexandra Henkel könnte erwiesenermaßen mehr, als dümmlich herumzuquäken, wie sie es in der Rolle der Raissa Filippowna tun muss. Und nicht zuletzt hat der Abend einige Durststrecken, ist mit beinahe drei Stunden entschieden zu lang. Es ist kein gutes Zeichen, wenn man sich wünscht, dass die Hauptfigur doch endlich sterben möge.

 

Der Selbstmörder
von Nikolai Erdman. Deutsch von Thomas Reschke
Regie: Peter Jordan, Leonhard Koppelmann, Bühne und Kostüme: Michael Sieberock-Serafimowitsch, Musik: Peter Kaizar, Licht: Michael Hofer, Dramaturgie Alexander Kerlin.
Mit: Florian Teichtmeister, Lilith Häßle, Katharina Pichler, Markus Hering, Tim Werths, Dietmar König, Bardo Böhlefeld, Alexandra Henkel.
Premiere am 29. Oktober 2021
Dauer: 2 Stunden 50 Minuten, eine Pause

www.burgtheater.at

 

Kritikenrundschau

Nikolai Erdmans Komödie erleide am Burgtheater "– trotz Kürzungen – eine schwerwiegende Zerdehnung, unter der Pointen und Wendungen ausgebremst werden", berichtet Margarete Affenzeller im Standard (30.10.2021). Das Regieduo "verzettelt" sich; die "Slapsticknummern am Weg zum hinausgezögerten Nicht-Selbstmord halten der Last von zwei Stunden fünfundvierzig nicht stand".

Kommentare  
Selbstmörder, Wien: Fehler auf der Bühne?
Es war kein Fehler ;-)
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