Unsentimentale Reise

Dortmund, 31. Oktober 2021. Wer kann seinen Platz halten im gesellschaftlichen Stellungsspiel? Mit Annie Ernaux' "Der Platz" bringt Intendantin Julia Wissert am Schauspiel Dortmund einen Gründungstext der französischen autobiographisch-soziologischen Literatur auf die Bühne.

Von Max Florian Kühlem

 

Alle an ihrem Platz: Raphael Westermeier, Mervan Ürkmez, Antje Prust, Lola Fuchs, Marlena Keil, Linda Elsner

Unsentimentale Reise

von Max Florian Kühlem

Dortmund, 30. Oktober 2021. Seit 2016 Didier Eribons "Rückkehr nach Reims" auf Deutsch erschienen ist, sind die französischen Vertreter:innen der autobiographisch-soziologischen Literatur auch in Deutschland Stars. Die Bücher von Eribon und seinem Schüler Édouard Louis wurden schon oft für die Bühne adaptiert. Etwas im Schatten steht dabei Annie Ernaux, die bereits 1983 mit "Der Platz" von der eigenen Geschichte ausgehend die soziale Wirklichkeit der westeuropäischen Klassengesellschaft seziert hat. Eribon sagt: "Eine lebensverändernde Lektüre." Die irgendwie immer noch neue Dortmunder Intendantin Julia Wissert hat den tollen Text jetzt auf sechs Mitglieder ihres Ensembles aufgeteilt.

Vertrauen auf die Schauspieler:innen und den Text

Julia Wissert, als junge Person of Colour eine erfrischende Erscheinung in der deutschen Theaterlandschaft, trat in Dortmund leider mitten in der Corona-Krise in die großen Fußstapfen von Kay Voges. Außer mit dem Stadt-Stationen-Stück "2170" hatte sie deshalb so recht noch keine Möglichkeit, sich zu zeigen – "Der Platz" ist ihre erste Arbeit auf der Schauspielbühne. Ihr Stil erinnert dabei an den von Johan Simons, an dessen Bochumer Schauspielhaus sie noch vor dem Antritt der eigenen Intendanz im Ruhrgebiet inszeniert hat: In einem kargen Bühnenbild vertraut sie mit starken Schauspieler:innen auf einen starken Text. Der Fokus des Abends liegt klar auf den messerscharfen Sätzen, mit denen Annie Ernaux ihre Erinnerungen abklopft, auf der gesellschaftlichen Stellung ihrer Eltern und wie die sich angefühlt hat.

Bis auf die schrillen Kostüme von Mascha Mihoa Bischoff ist an dieser Inszenierung nichts vordergründig. Die Darsteller:innen sprechen den Text abwechselnd, nicht chorisch, nicht mit überschießenden Emotionen. Sogar der Tod des Vaters wird eher nüchtern, mit der Routine einer eingeübten Handlung, erzählt. Wenn der Text eindringlich wirkt, dann aus sich selbst heraus. Julia Wissert setzt Annie Ernaux' Sound um, wie man ihn hört, wenn man ihre Bücher liest. Er ist knapp und präzise, nicht kühl, auch nicht unbedingt unpersönlich, aber eher analytisch als emotional.

Prekäres Stellungsspiel

Würde man nur das Stellungsspiel des Ensembles betrachten, könnte man meinen, die Regisseurin habe das Buch "Die Jahre" inszeniert, mit dem die mittlerweile 81-jährige Autorin 2017 in Deutschland bekannt wurde: Darin betrachtet sie sich selbst auf alten Fotos, erzählt aber nicht (ausschließlich) von sich selbst, sondern eine kollektive Autobiographie. Die Schauspieler:innen stehen oft sehr dicht zusammen wie ein Kollektiv, nah aneinander gedrängt wie zum Gruppenfoto aufgestellt. Ernste Gesichter, verkrampfte Posen.

Platz 1 BirgitHupfeld uGruppenbild mit blauem Haus: Linda Elsner, Antje Prust, Raphael Westermeier, Lola Fuchs, Marlena Keil, Mervan Ürkmez © Birgit Hupfeld

Antje Proust hält in einer Szene minutenlang eine wackelige Ballettpose auf Zehenspitzen. Und irgendwie wirken alle ständig, als wollten sie eine Stellung halten, die sie noch nicht genügend eingeübt haben, in einem unsicheren Stand mit aller Kraft nicht einknicken. "Er wollte seinen Platz halten als Ladenbesitzer, nicht als Arbeiter", schreibt Ernaux in "Der Platz" über ihren Vater. Immer wieder überkommt ihn eine Scham, weil er glaubt, diesem Platz in Sprache, Geschmacksfragen, im gesamten Habitus nicht zu genügen. Als habe die Gesellschaft eigentlich einen anderen für ihn vorgesehen.

Dinge, die den Aufstieg belegen

Julia Wisserts Ensemble erinnert so manchmal auch an eine verschworene Religionsgemeinschaft, die das kleine blaue Haus, das als einziges Element auf der komplett offenen, schwarzen Bühne steht, wie eine Reliquie anbetet. Lola Fuchs, die die ersten Seiten von Ernaux' Text sprechen darf (sie tut das mit großer Selbstverständlichkeit, berückend intensiv), wirkt mit schimmerndem Mantel und Perlenkette, Cordhose und Plateau-Schuhen wie eine Konfirmandin – allerdings eine Hipster-Ghetto-Konfirmandin. Irgendwann wird das Haus, das Status-Symbol, auch zum Reliquien-Schrein, aus dem die Schauspieler:innen vorsichtig die Dinge der Erinnerung holen, die die Geschichte vom kleinen Aufstieg der Eltern von einfachen Arbeitern zu Laden- und Kneipenbesitzern in Gang setzen und ausschmücken.

Technisch und stimmlich brillant, aber etwas unverbunden neben dem Ensemble agiert die Berliner Musikerin Houaïda. Und beim freundlichen bis begeisterten Schlussapplaus fragt man sich dann doch, was hier eigentlich in erster Linie durch den Abend getragen hat: Eine fokussierte Inszenierung mit gut austariertem Stellungsspiel und musikalischen Akzenten oder ein extrem starker Text, klug gekürzt und von großartigen Sprecher:innen strukturiert.

 

Der Platz
von Annie Ernaux
Regie: Julia Wissert, Bühne: För Künkel, Kostüm: Mascha Mihoa-Bischoff, Musik: Houaïda, Dramaturgie: Hannah Saar, Licht: Henning Streck, Ton: Christoph Waßenberg.
Mit. Mervan Ürkmez, Raphael Westermeier, Linda Elsner, Lola Fuchs, Antje Prust, Marlena Keil, Houaïda.
Premiere am 30. Oktober 2021
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.theaterdo.de


Kritikenrundschau

Für Detlev Baur von der Deutschen Bühne online (31.10.2021) ist der Abend "ein sehr ernster, aber dann doch noch schlüssiger Start einer ambitionierten Intendanz im Schauspielhaus". Der Kritiker erhebt aber auch Einwände: "Die Integration der Musikerin ins Spiel wirkt wenig konsequent, die Choreographie der Akteurinnen und Akteure setzt neben die nüchternen, abwechselnd vorgetragenen Textpartien seltsam künstliche Choreographien (Choreografie: Belendjwa Peter). Im ersten Drittel der 90 Minuten läuft die Inszenierung mit langatmigen Erzählungen und bedeutungsschweren Gesten ins Leere. Doch zunehmend schaffen es Ensemble und Text, die Figur des Vaters und seinen 'Platz' in Familie und Gesellschaft plastischer zu machen."

Elisabeth Luft sagt in Fazit auf Deutschlandfunk Kultur (30.10.2021): Regisseurin Wissert bleibe sehr nahe am Text. Die Darsteller wirkten wie "unterschiedliche Anteile von Annie", die sich frage, wie nah sie ihrem Vater sein wolle. Die Inszenierung zeige, wie schwer es ist, theoretisch tun und lassen zu können, aber gleichzeitig freiwillig oder unfreiwillig an Familie und Herkunft gebunden zu bleiben. Der Versuch, dabei den richtigen Weg für einen persönlich zu finden, sei durch die unterschiedlichen Darsteller*innen auf der Bühne deutlich geworden.

Sven Westernstroer schreibt in der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (31.10.2021), die Erwartungen an die Arbeit seien hoch gewesen, das Ergebnis "allerdings ernüchternd". Wissert und ihre Dramaturgin täten sich schwer, für die "stille Geschichte szenisch schlüssige Lösungen" zu finden, die über ein "bloßes Nacherzählen der Handlung" hinausgingen. Alles geschehe entschleunigt, "wie in Trance". Wer nicht gerade die Geschichte weitererzähle, vertreibe sich die Zeit mit "langsam kreisenden Tanzbewegungen". Die eingesetzte Musik sei zudem in ihrer Süße völlig unpassend.

Alexander Menden schreibt in der Süddeutschen Zeitung (online 1.11.2021, 15:29 Uhr), er betrachte "Der Platz" als Julia Wisserts "eigentliche Einstandsinszenierung". Die Dramatisierung von Ernaux' "autofiktionalen" Erinnerungen enthalte "thematisch viel von dem, was Wissert zu zeigen sich vorgenommen habe. Das "postindustrielle Dortmund" sei auch nicht der "schlechteste Ort", um über "die Sollbruchstellen zwischen Arbeiter- und Bürgerschicht nachzudenken". Alles sei "sehr konzentriert gespielt", das Ensemble agiere "exakt, als Einheit". Trotzdem stelle sich die Frage, "warum angesichts der Vorlage überhaupt mehr als eine Darstellerin nötig" sei. Ernauxs Buch sei ein "Konzentrat", das weder "dramatische Ergänzungen noch Vielstimmigkeit" bedürfe. Letztlich mangele es an "zwingender inszenatorischer Bindung" an "einen Text, der sich mehr nach innen" kehre.

Isabella Stier sagte auf Deutschlandfunk in Kultur heute (1.11.2021), Julia Wissert bringe die "Zerrissenheit, dieses Schwanken zwischen zwei Welten", zwischen Arbeiterklasse und Kleinbürgertum in Dortmund mit sechs Darsteller*innen auf die Bühne. Sie alle seien Annie Ernaux und sprächen "abwechselnd Passagen aus dem Roman". Der "Rest der Gruppe" reagiere "körperlich auf die Geschichte, mal in Ekstase zuckend, mal mit kleinen Bewegungen". So erscheine Annie Ernaux wie "eine Marionette, die gegen äußere Strippenzieher*innen ankämpft". "Textliche Bezüge zur Gegenwart" gebe es nicht. "Das Haus und die Anziehungskraft,
das es auf die Darsteller*innen ausübt, kann aber durchaus als Referenz zum bürgerlichen Streben nach einem glücklichen Leben in einem Einfamilienhaus gelesen werden." Beeindruckend zeige Wissert, dass "pures, klassisches Sprechtheater" auch ohne "übliches Video und externe Texteinflüsse" funktioniere und mitreiße.

 

 

Kommentare  
Der Platz, Dortmund: ohne Kunstwillen
Es war schlicht und ergreifend: langweilig. Ohne auch nur den Hauch künstlerischen Willens oder einen erkennbaren Willen den Inhalt auf das Theatermedium zu übertragen... schade, traurig und wahr.
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