Sind Sie Teil der weißen Unterdrückung?

31. Oktober 2021. Ein Stoff aus dem langen Schatten der Apartheid in Südafrika, erzählt von einem weißen Autor, inszeniert mit einem deutschen Stadttheater-Ensemble. Wie soll das gehen? Oliver Frljić packt alle Probleme rund um seine Adaption des Romans von J. M. Coetzee auf die Bühne und löst Tumulte aus.

Von Sarah Heppekausen

"Schande" in Bochum © Marcel Urlaub

Sind Sie Teil der weißen Unterdrückung?

von Sarah Heppekausen

Bochum, 30. Oktober 2021. Am Ende dieses Abends, beim Schlussapplaus, ist unter den Schauspieler:innen vor allem Erleichterung zu spüren. Erleichterung vermutlich darüber, dass sie diese Premiere, die vorangegangenen Proben und die dort geführten Diskussionen gemeinsam irgendwie auf und über die Bühne gebracht haben. Schmerzfrei lief dieser Prozess wohl nicht ab.

Zerwürfnisse im Ensemble

Worum es geht: Regisseur Oliver Frljić hat – zum ersten Mal am Bochumer Schauspielhaus aktiv – J. M. Coetzees Roman "Schande" ("Disgrace" im Original) inszeniert. Der bekannteste Roman des südafrikanischen Schriftstellers und Literaturnobelpreisträgers erzählt den Abstieg des weißen Literaturprofessors David Lurie, der nach einer Affäre und "unerwünschtem" Sex mit einer Studentin vom Universitätsdienst in Kapstadt suspendiert wird. Er zieht sich zu seiner Tochter Lucy zurück, aufs Land, wo sie eine kleine Farm und eine Hundepension betreibt. Sie werden überfallen, von Schwarzen, Lucy wird vergewaltigt. Anzeigen oder nicht – darüber sind die beiden sich nicht einig. Das Buch erschien etwa fünf Jahre nach dem offiziellen Ende der Apartheid in Südafrika (im Jahr 2000 auf Deutsch), wurde reichlich gelobt. Einige der Themen: Machtverlust und Vergangenheitsbewältigung, Täter- und Opfersein.

Schande 1 MarcelUrlaub uEingezwängt in Hundekäfigen im Bühnenbild von Igor Pauška © Marcel Urlaub

Aber heute? Rassismus und Sexismus ausschließlich aus der Perspektive des weißen, alternden Mannes erzählen zu lassen und zu reproduzieren, ist mindestens anmaßend und zu wenig. Sie hätten heftig über die Besetzung diskutiert, nur vier von sieben Schauspieler:innen seien geblieben. Darunter Amina Eisner. Als schwarze, freischaffende Schauspielerin sei sie auf die Gage angewiesen. Offenlegung und die (nicht immer eindeutige) Trennung von Rolle und Realität sind Konzept dieser Inszenierung. Vermutlich der einzige gangbare Weg für das Ensemble.

Diskussion mit dem Publikum

In einer Pause zwischen den gespielten Szenen sprechen die vier Darstellenden direkt das – überwiegend weiße – Publikum an: Fühlen Sie sich verantwortlich für die weiße Unterdrückung, sind Sie ein Teil davon? Und wider Erwarten flammt nach kurzer Stille eine Diskussion im erleuchteten Saal auf. Ein weißer Mann hat Coetzees Buch nicht gelesen und findet die Herleitung schwierig. Ein anderer schimpft: "Macht doch nicht eure Probleme zu unseren. Spielt doch einfach, ihr werdet doch dafür bezahlt." Eine Person of Color meint, über das Thema Besetzung müsse unbedingt gesprochen werden: "Es ist nicht alles piccobello hinter der Bühne." Ein anderer fragt, warum dieses Buch überhaupt gespielt werde, um über Postkolonialismus und Rassismus zu sprechen. Es gebe doch genügend Stücke schwarzer Autoren. Das Theater als Raum für gesellschaftlich relevante Debatten, immerhin, im Ansatz.

 

Ansonsten ist der Abend geprägt von dieser Unsicherheit, von der Sorge des Scheiterns. Auf der Bühne von Igor Pauška bestimmt eine Unmenge kleiner (Hunde-)Käfige das Bild, visuell wie akustisch höchst aufgeladen. In ihrer Wut über Ausweg- und Hilflosigkeit scheppern die Figuren nervend die Metallkisten gegeneinander. Sie stapeln sie zur Mauer, obenauf das Buch wie eine Monstranz, angestrahlt als Heiligtum. Wir alle Gefangene unseres Denkens und vermeintlichen Wissens. Und in diesem Käfig wird der Mensch zum Tier. Degradiert zum Ackergaul zieht Lurie mit einem Strick um den Hals seine Tochter übers Feld.

Bilder aus dem #BlackLivesMatter-Kosmos

Frljić will mit Bildern beeindrucken. Auf dem Bühnenboden stellen die Schauspielenden Bücher aus, von Zadie Smith und Jasmina Kuhnke zum Beispiel. Zuschauer:innen werden gefilmt und im Porträt groß auf der Leinwand gezeigt. Während James Baldwin, Ikone der #blacklivesmatter-Bewegung, zu hören ist. Baldwin und Beethoven, ja, sie sind beeindruckend. Aber in der Inszenierung sind sie bloß Teil einer wirkungsbewussten Sammlung.

Schande 4 MarcelUrlaub uParcours durch die Trophäensammlung: Marius Huth inmitten rassismuskritischer Literatur © Marcel Urlaub

David Lurie wird gespielt von drei recht jungen Schauspielern, dominierend-überheblich von Dominik Dos-Reis, nervös-emotional von Victor IJdens und bei Marius Huth zeigt er auch Schwäche und Verletzlichkeit. Auch falls sich diese Rollenaufteilung aus der Not heraus, aus Mangel an Schauspielern ergeben haben sollte, ist sie gelungen. Die Figur verliert an zentraler Macht und gewinnt Facettenreichtum. Weniger bedrohlich ist sie dadurch nicht.

Amina Eisner spielt die Studentin Melanie, Tochter Lucy und Farmmitarbeiter Petrus. Und sich selbst. Als Alibi-Besetzung für einen Regisseur, der ein rassistisches Buch inszenieren möchte. So sage es der Regisseur. Und ihre (vermeintlich) eigenen Worte: "Ich lebe in ständiger Existenzangst. Weil ich denke, dass euch Rassismus als Thema bald nicht mehr interessiert. Und ihr mich anders auf der Bühne nicht sehen wollt." Ja, über Rollenbesetzung im Theater muss gesprochen werden – ob mit oder ohne Coetzee.

 

Schande
nach dem gleichnamigen Roman von J. M. Coetzee
Regie: Oliver Frljić; Bühne: Igor Pauška; Kostüm: Nicole Timm; Musik: Daniel Regenberg; Lichtdesign: Wolfgang Macher; Dramaturgie: Angela Obst, Dorothea Neweling.
Mit: Amina Eisner, Dominik Dos-Reis, Marius Huth, Victor IJdens.
Premiere am 30. Oktober 2021
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten, keine Pause

www.schauspielhausbochum.de

Kritikenrundschau

Jens Dirksen schreibt in der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (1.11.2021): es handele sich um eine Inszenierung mit "höchster Dringlichkeit", mit "genialen Bildern und Effekten". ,Sie durchdringe die "ungeheure Vielschichtigkeit von Rassismus" mit Hilfe des Buchs, das selbst als rassistisch verdächtigt werde. Zugleich spiele sie mit "allen Mitteln", die das Theater des 21. Jahrhunderts biete. Allein was sich im Bühnenhintergrund zeitweilig an Bildern ereigne, sei "große Kunst". Zwischendurch würden die Zuschauer in einen "Reflexions-Dialog mit den Mimen hineingezogen", ohne dass es ein Ergebnis geben könne. Dann gehe das Spiel weiter, intensiv – und wieder mit doppelten Böden, auch wenn man meint, durch die Gitter der Käfige hindurchsehen zu können. Amina Eisner spreche am Ende darüber, dass sie nur ein Alibi sei. "Dass es den Weißen, die solche Theaterstücke produzieren und anschauen, darum zu tun ist, sich gut oder sogar besser zu fühlen: 'Es geht gar nicht um uns, es geht um Euch!'" Der Effekt, auch des gesamten Stücks: eine Ahnung von "der Dimension des Problems, Verunsicherung, Verwirrung. Aber auf eine ungemein berührende, produktive Weise." So werde Theater wirklich zum "Erfahrungs-, zum (Herzens-)Bildungsraum. Unbedingt hingehen!"

Kommentare  
Schande, Bochum: Gibt es eine Lösung?
Was könnte denn da eine Lösung sein? Was schlagen denn da schwarze Schauspieler*innen selbst vor? Welche Rollen wollen sie denn spielen? Sie wollen also nicht in Stücken vorkommen, die Rassismus thematisieren und sie wollen auch keine schwarzen Figuren spielen, sofern diese von weißen Autoren geschrieben oder von weißen Regisseuren inszeniert wurden. Wie genau sollen also schwarze Schauspieler*innen im deutschsprachigen Theater vorkommen?
Schande, Bochum: Wie wäre es als ...
@Jelena: Wie wäre es als Faust? Oder Gretchen? Als Hamlet, Ophelia? In Tschick oder in Frau Müller muss weg? In einfach allen Stücken!
Schande, Bochum: Ertappt
Was mir in den Kritiken über diese Aufführung eindeutig zu kurz kommt, ist die Perspektive des Zuschauers. Vorweg: meines Erachtens ist der rasche Szenen- und Rollenwechsel ein, vielleicht das Highlight der diesjährigen Spielzeit am Schauspielhaus. Das Stück gewinnt an Tempo und Facettenreichtum. Insgesamt ist die Inszenierung eine großartige Ausreizung im Sinne eines Brechtschen Theaters im neuen Jahrtausend. Der scheinbare Bruch, der offene Dialog mit dem Publikum, ist aber der wahre Kern der Aufführung. Warum? Weil ich ertappt wurde. Ja, ich empfand es zunächst spontan als unangenehm. Die Äußerungen der Zuschauer:Innen verstärkten dieses Gefühl noch: intellektuell gefärbte inhaltslose Worthülsen, echte Betroffenheit, Ablehnung, Überheblichkeit. Ich hätte schreien können, aber ich schwieg. Das Gefühl des Unwohlsein verminderte sich auch am Ende der Inszenierung nicht, als zahlreiche Zuschauer:Innen in Großaufnahme auf die Bühnenleinwand projiziert wurden. Und genau so muss es sein. Die Auseinandersetzung mit Rassismus und Sexismus kann nicht angenehm sein, vor allem, wenn man sich doch sicher ist, auf der richtigen Seite zu stehen. Rassismus lässt den Betroffenen keine Wahl. Und genau das hat dieser Abend eindrucksvoll gezeigt. Nein, es war nicht angenehm, aber es war wahrhaftig und richtig. Dafür ein Lob an das gesamte Team und in besonderer Form an den Regisseur!
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