Die Vision macht sich nicht klein

1. November 2021. In ihrer Poetikvorlesung ICH BIN DA UND FANGE JETZT AN spricht die Dramatikerin Miroslava Svolikova an der Hamburger Theaterakademie über das Schreiben fürs Theater diesseits des Digitalen.

Von Miroslava Svolikova

ICH BIN DA UND ICH FANGE JETZT AN

von Miroslava Svolikova

1. November 2021. Ihre Poetikvorlesung "ICH BIN DA UND ICH FANGE JETZT AN" hielt Miroslava Svolikova am 30. Oktober 20201an der Theaterakademie der Hochschule für Musik und Theater Hamburg. nachtkritik.de bringt sie hier in Erstveröffentlichung und dokumentiert den Auftritt im kurzen Videoausschnitt und im Podcast mit der vollständigen Rede. Die Poetikvorlesung ist eine Veranstaltung der Hamburger Theaterakademie / Hochschule für Musik und Theater, kuratiert von Eva-Maria Voigtländer, gefördert von der Rusch-Stiftung Hamburg mit Unterstützung der Holger und Mara Cassens Stiftung. In den vergangenen Jahren wurden die Hamburger Poetikvorlesungen von Ivna ŽicWolfram LotzFerdinand Schmalz und Thomas Köck gehalten.

 

Miroslava Svolikova bei der Hamburger Poetikvorlesung
Kamera: HfMT Webcast, Schnitt: Laura Gericke


Podcast

 

 

 

ICH BIN DA UND ICH FANGE JETZT AN

Hamburger Poetikvorlesung 2020

von Miroslava Svolikova

 

ich packe meinen rucksack, was kommt hinein? das theater, das sprechen, der körper, das absurde, das reale, der rucksack ist schon ganz schwer, die ganze gegenwart muss auch noch rein, verdammt; die figuren, die klettern immer gleich wieder raus, die ganzen träume noch reinstopfen irgendwie, mein gott, wie bekomm ich den jetzt noch zu. aber es geht, es geht immer irgendwie.

der rucksack ist jetzt zu.

ich bin jetzt da. ich bin jetzt da und ich fange jetzt an. im rucksack ist alles drin, es ist gut.

haben alle ihre körper mit? sitzen sie bequem?

theater / gemeinschaft / körper

die aufführung wird nicht ohne die zuschauer stattfinden. ohne die physische anwesenheit der zuschauer gibt es keinen theaterabend. die darbietung lebt von der aufmerksamkeit der zuschauer, von der stimmung im raum, vom applaus am ende der vorstellung. man tritt in den saal: man bildet eine kurze gemeinschaft.

der theatersaal denkt die körper der zuschauer mit. die körper im saal sind traurig oder erregt, müde oder amüsiert, sie husten, lachen oder verlassen den saal. es gibt eine reaktion, die sich durch den körper niederschlägt, durch unruhe, anspannung, ausgelassenheit. durch angespannte aufmerksamkeit, indifferenz oder heiterkeit. die vielen körper erzeugen etwas, das nur für die dauer der vorstellung existiert.

das theater ist anachronistisch: es ist nicht teil der digitalen zeit, es ist teil jeder zeit. oder könnte es nicht so sein? wenn wir auch jeden inhalt digital bekommen könnten, den körper nehmen wir zum digitalen inhalt nicht mit. der digitale inhalt bedenkt die körper der zuschauer nicht mit. der digitale inhalt zirkuliert unabhängig von der physischen präsenz. er genügt sich selbst, er bildet einen zweiten raum. ein raum in dem der körper keinen zutritt hat. anachronistisch und temporär, verweigert sich das theater inhärent der digitalität, der verbreitung. beziehungsstatus: es ist kompliziert.

der theatersaal ist gerne ein temporärer container für die körper der zuschauer. die vielen körper partizipieren an einer stimmung. die stimmung entsteht in und durch eine information. die information besteht aus eindrücken, stimmen, inhalten und bildern, aus utopie, zumutung, darbietung und applaus.

die informationen werden vom kopf aufgenommen und vom körper, in kurzer gemeinschaft, mit allen, die gleichzeitig derselben information ausgesetzt sind, demselben raum.

das theater ist teil des diskurses einer gesellschaft über sich selbst, ein renitenter teil vielleicht, ein abgeschlossener. es spannt einen bogen, der weit genug ist, um intellektuelle und mythische, visuelle und emotionale eindrücke zu umfassen, mit genug platz für pathos und ironie und alles dazwischen auch. all diese möglichkeiten wohnen dem theater inne, grundsätzlich.

das theater kann aber auch ein karussel sein, das sich so schnell dreht, dass man von außen gar nicht mehr reinsehen kann, oder vielleicht hab ich nur nicht genau genug hingeschaut?

grundsätzlich wohnt dem theater eine möglichkeit inne: das bedürfnis nach ganzheit zu denken, zu decken, die nicht erreichbare ganzheit von informationen, durch sprache, bild und ton, durch raum und stimmung; von gestern und heute; von kollektiv und individuum, von allgemeingültigkeit und konkreter verankerung. verkopft und verkörpert: im theater berühren sich tendenziell zeitlosigkeit und aktualität, flüchtigkeit und wiederholung: zeitloses durch die haut der vergänglichkeit, ephemeres durch die haut der institution. so schöne worte. das theater mag archaisch oder visionär, allgemeingültig oder verstaubt, aktuell oder zeitlos, poetisch oder reaktionär, schlecht oder großartig, elitär oder einfach nur der kanal einer volksneurose sein; potentiell ist es all diese dinge, potentiell lässt sich so vieles sagen.

vielleicht ist kultur ein spiegel, in dem menschliche wesen sich durch empfänglichkeit selbst erblicken. vielleicht ist auch kultur ein spielfeld für das menschliche ego, wie jede bühne. vielleicht ist theater ein medium, das den gegensätzen, in denen das wesen mensch gefangen ist, eine ausdrucksform bieten kann. vielleicht ist es auch nur eine abendunterhaltung für das erschlossene publikum.

vielleicht, vielleicht, vielleicht. mir wern kan richter brauchn.

vielleicht ist theater ein medium, das den gegensätzen, zwischen denen wir pendeln, eine bühne bieten kann. vielleicht umarmt der mensch sich selbst durch die kunst, und fühlt sich durch die kunst selbst umarmt. vielleicht ist das ein einstieg, ein aufstieg in lyrische höhen, in den hohen bereich des sprechens, oder den niedrigen, in den äther der sprache, die sich ins papier frisst, sich festsetzt; gesprochen, gehört, gelesen, wahrgenommen werden will. ach, die sprache.

 

sprechen / sprache / traum

das theater besteht ja zu nicht unwesentlichen teilen aus sprache, das theater, also das sprechtheater. was ist das sprechen im sprechtheater?

die verbindung und trennung und vermittlung und einbildung und ausbildung, also alles mögliche und überhaupt ganz vieles.
oder auch vorstellung: sprache ist verhandlung und vorstellung. oder anders, sprache ist nicht nur sprache, sprechen ist nicht nur sprechen. im sprechen ist auch schon ein ort und eine position. sprechen ist immer schon verhandeln. verhandeln ist schon sein. wir sind immer schon da. frage ist, wer ist da, wer spricht, tatutata.

der text greift immer über sich hinaus. der text greift immer aus sich heraus, greift in die welt hinein. der text zieht einen immer in einen selber hinein. in einem selber drinnen ist es nicht immer angenehm, aber manchen würds guttun, trotzdem vielleicht einmal reinzuschaun in sich?

in der sprache greift man auch an das unbegriffene, sprache analysiert, kommuniziert und erklärt, aber sprache versucht auch zu fassen, was unsagbar ist, was sich nicht sehen und fassen und nicht hören lässt und doch gedacht werden will.

oder nochmal anders, die ist ja nur im kopf. die ist ja gar nicht richtig da. ja wo ist sie denn? putt putt putt. ja wo ist sie denn, die sprache? im schüsselchen, im tellerchen? im zimmerchen? hat sie in meinem bettchen geschlafen und meinen overall angezogen? ist sie wieder rausgeschlichen in der nacht, um vergiftete äpfel zu essen? um in fremden schlössern zu schlafen? um geschichten zu erfinden, oder kraut und rüben zu zitieren?

die sprache hat ausgang, hat freigang, hat immer narrenfreiheit. die braucht auch nichts. die ist immer da, ist immer abrufbereit. die kann man immer hernehmen, muss man aber nicht. die transportiert immer irgendwas, macht irgendetwas auf, wenn man will. ich kann sie ignorieren, aber nie ersticken, am ende zirkulieren die ideen doch herum, am ende, oder auch, in der mitte, am anfang, jederzeit.

also letztlich, ist nicht die sprache das abstrakteste aller künstlerischen medien, oder gibt es sonst ein medium, das so abstrakt ist, das so viel mitarbeit erfordert, das eine solche aktualisierung im rezipienten erfordert, wie sprache, ein medium, das zugleich so viel transportieren kann, weil so wenig vorgegeben ist. weil eigentlich nichts da ist, weil alles da ist. nur, wo ist es denn? was auch immer es ist, es ist jetzt da, können sies sehen? vor dem geistigen auge, da wars doch grad.

sprache, das ist vielleicht so abstrakt, dass es ein ganzes theater braucht, einen text umzusetzen. dass man den text immer neu umsetzen kann. der text ist ohnehin nicht da. wenn ich ihn nicht lese und nicht aktualisiere, dann ist er einfach nicht da. das geht von einem zum anderen und eigentlich ist nichts da und dann ist doch was da, wie geht das, man weiß es nicht, aber wir denken gerade darüber nach, also scheint es zu gehen. es spaziert, es stolziert, es schreitet. es ist einfach da, das unsichtbare, die sprache, der text, der ganze transport, die ganze aktualisierung, der ganze prozess, die ganze unsichtbarkeit.

in der sprache sind die bilder, die sie erzeugt, der humor, der sich immer schon überal versteckt, der rhythmus, die formbarkeit, das ist alles schon drin, oder tun wir es erst rein. die sprache ist kein endzweck für sich, sondern ein träger, ein präziser träger von menschlichen zuständen, emotionen und bedingtheiten, von existenzieller absurdität, und was sich damit überschneidet, sozialen bedingtheiten.

im sprechen ist eine vorstellung drinnen, ein thema, im sprechen ist eine verhandlung drinnen, eine vorstellung, ein thema, ich packe meinen koffer, im sprechen sind schon die figuren drinnen, die sich selbst verhandeln, im sprechen kann alles drinnen sein, da kann ein ganzes leben drinnen sein, oder die vorstellung von einem leben, im sprechen kann sich eine ganze gesellschaft verhandeln, im sprechen verhandeln wir uns täglich alle selbst, in der endlosen sprache –
ich packe meinen rucksack. oder wars ein koffer. was ist da noch alles drin. im sprechen ist das thema drinnen und seine form. im sprechen sind die vorstellungen drinnen und das thema und die form und die figuren und die situation.
im sprechen vom sprechtheater. im koffer.

das sprechen, sich entäußern, das sich verbinden, das kommunizieren, das sprechen ist wie ein ätherisches band, das uns durchschüttelt und einlullt, das uns beutelt und ausspeibt, uns manipuliert und erweckt, das durchfließt durch uns und aus uns heraus, das nicht endet, das nicht aufhört, das sich aufdrängt, das abgewürgt werden will und verändert und bezwungen und verwendet, ein band, das uns ausmacht, verbindet –

sprache umschließt ja vieles in ihren ätherischen händen. sie teilt worte und vorstellungen aus, sie gibt menschen ein verständnis, sich selbst zu artikulieren und sich zu verändern. (oder, wenn man möchte, zu bleiben, wer man ist und war.) sie gibt die gabe der verortung, die verortung, wo man ist, und wo man hinwill, wo man war, und wo man nicht hinwill, als gesellschaft, als einzelner –

das sprechen ist lebendig, es lebt, es murmelt vor sich hin, immer schon, es murmelt aus sich heraus, vor sich hin, in die welt hinein und aus der welt heraus, oder nicht?

die welt murmelt ohne unterbrechung zurück.

das universum murmelt vor sich hin, sendet kleine schallwellen, sendet endlose schallwellen in den äther, in den raum, in die zeit. das gehirn schläft nicht, die globale welt, der bildschirm, unser denken: es wird nicht geschlafen. es wird nicht mehr geschlafen: niemand schläft. der schlaf hat ein ende. und wenn doch, wenn doch einer schläft –

im schlaf redet das unterbewusste weiter, das unbewusste, das kollektive gedächtnis. keiner schläft, keiner entkommt, nichts ist stumm. das sprechen hat kein ende, das sprechen muss nicht zum leben erweckt werden, das sprechen braucht keine reanimation:
das sprechen braucht eine kollaboration, im besten sinne, im besten sinne: eine fröhliche vereinigung aller möglichkeiten.
kommunikation in alle richtungen, kommunikation aller medien.
kommunikation mit den körpern, kommunikation mit den zuschauern, mit den möglichkeiten, den unmöglichkeiten, dem vorhandenen, dem möglichen, dem unmöglichen. und mit den zuschauern natürlich auch!

die sprache des sprechtheaters sind nicht nur worte, die einem sprecher aus dem mund und auf den boden tropfen, oder die sich die figuren auf der bühne zuschieben, auch nicht das material, das sich die figuren auf einer bühne zuwerfen, und nicht das textmaterial, das jemand einer regie zuwirft.

 

die inszenierung / das reale / das politische

das theater ist auch nicht der einzige ort, an dem inszenierung stattfindet.

die ganze welt ist eine bühne, ich würde meinen, im digitalen zeitalter ist sie es noch viel mehr. mehr als jemals zuvor und zwar ohne unterbrechung, ohne entkommen.
ich weiß nicht wie es anderen da geht, aber ich schalte die nachrichten ein, ich sehe eine bühne, schlage die zeitung auf, digital meinetwegen, eine bühne, social media, endlose bühne, ich sehe überall und überhaupt nur noch bühne, bühne und bühnen, es bühnt, da bühnts, da bühnts ganz schön.

wer spricht wo in welchen bildschirm hinein und erzählt welche geschichte?
welche erzählung gilt, welche geschichte wollen wir glauben, welche geschichte holt uns ab, welche emotionen kanalisieren wir denn heute, welche geschichte kanalisieren wir denn heute wem rein.

über wen reden wir drüber, wen reden wir drüber, wen reden wir in grund und boden, über welche leben fährt man drüber mit seinen reden, mit seinen beschlüssen, zum beispiel.
welche lieder werden gesungen und waren nicht bekannt, welche gedichte werden geschrieben und waren nicht so gemeint, welche bilder werden zerschnitten und keiner wars, welche geschäfte abgewickelt im strandhaus, welche chats werden geschreddert, irgendwas wird ja immer geschreddert im kanzleramt, wessen narrativ gilt, wessen vision: wer erzählt wessen wovon und wem.

die inszenierung hält sich immer für die realität.
na moment, sagt die realität, ich gehör aber allen, ich gehör allen, sagt die realität. ich gehör nicht nur denen, die es sich leisten können.

ich auch, sagt der traum, ich auch, ich gehör auch allen, oder nicht?

wer inszeniert wen und wo? horte der möglichkeiten, orte des möglichen? räume, um das gegenwärtige zu beherbergen, schutzherrin dieser verbindungen zu sein, dieser möglichkeiten. offen, in alle richtungen zu kommunizieren, fröhliche vereinigungen zu bilden, mit medien, körpern, gedanken, mit jedem, der sich darin verfängt, multiplizität der orte des gegenwärtigen. das theater. auch so ein raum?

wer bleibt ungehört? wer wird nicht gesehen?

sich auch einzulassen auf die ungewöhnlichen blickwinkel, auf das ungehörte, auf das politische von einer art humanismus heraus und nicht aus einer konkreten politischen ideologie. die politische ideologie verortet sich immer in einer gruppe, aber sind wir nicht alle eine gruppe qua mensch, und nicht potentiell immer vom verschwinden bedroht, von der auslöschung, vom tod, von angst und ohnmacht? wüssten wir denn, was mitgefühl ist, wenn es nicht teil der menschlichen erfahrung wäre, grundsätzlich verletzbar zu sein, und nicht unbezwingbar.

jetzt werde ich einmal konkret. in meinen stücken geht es immer um ein sammelsurium an "figuren", die übriggeblieben zu sein scheinen, sich selbst nicht finden, verlorene sind, eingenäht in ihre rolle, figuren, die sich selber nicht artikulieren, oder sich eben verzweifelt die ganze zeit artikulieren, weil es nicht selbstverständlich ist, sich zu haben, sich auszudrücken, in fester gewissheit zu sein. die welt wird immer nur gelesen, interpretiert und gestaltet von denen, die sich haben dürfen, für die es ein sicheres plätzchen gibt. ist es nicht genauso wichtig, einen platz frei zu halten, im gedanken, für die, die sich den platz selber nicht nehmen können. wäre das nicht die radikalste aufgabe für die welt, dass es für jede und jeden ein plätzchen gibt, dass jede und jeder seine stimme und die eigene existenz haben darf, vor der ganzen welt: ich habe mich. ich lebe mein vollstes potential, ich bin frei von den ketten und schatten sozialer bedingtheiten, intergenerationaler verstrickungen, von dem ganzen kollektiven mist, der die freiheit des einzelnen verdunkelt.

zeitaktualität / das absurde

das politische ist für mich immer auch existenziell. was hält die dinge zusammen, was hält die gesellschaft zusammen. was hält das stück zusammen, was hält dich zusammen und was mich? was ist eine identität? was ist ein moment, und entschuldigung, was war eigentlich nochmal die frage?

was ist der größere kontext? der größtmögliche kontext, der größtmögliche gedanke? was ist bedeutung, was identität und was sprechen, was unterscheidet unsinn von sinn, mich von dir, uns von euch, was ist kohärenz, bedeutung und identität, was bedeutet das alles? wo sind die grenzen. darf es einmal um sprache, identität und bedeutung gehen, und darf es einmal komisch sein, bitte, muss man nicht lachen in so einer welt, oder was war der plan, ich habs vergessen, da ist immer so viel –

oder ich gehe noch einmal einen schritt zurück, zum theater. das zeitgenössische im theater will sich auch in der sprache, in den themen, in der form reflektieren.

das zeitgenössische muss aktuell sein und darf es nicht zu sehr sein wollen. das aktuelle darf nicht in der reinen zeitaktualität ersticken, zumindest nicht in der reinen aktualität, die so eng ist, dass sie morgen schon nicht mehr aktuell ist. das aktuelle muss immer auch ein stückweit schon über sich hinaussehen, über sich hinausgehen, einen blick weiter sein. die reflexion hat ein drittes auge, das schaut weiter, das schaut hinaus, das ist sich selbst voraus, vielleicht.

es braucht einen blick, der sich daraus speist, wo er steht, der sich selbst verorten kann, der die eigenen gegenwart sieht, der nach vor blicken kann, aber auch zurück, der auch zurückblicken kann, ein stückweit.

ist kultur nicht immer auch eine auseinandersetzung mit dem, was schon war, was einen konstituiert, mit dem alten? sieht eine gesellschaft sich nicht, in der eigenen geschichte, im kanon zb., im alten sediment?

sieht man den umriss der fläche, kann man den umriss der fläche sehen, auf den man selber gerade steht, während man sich umdreht, zur eigenen geschichte hin? sieht man sich selbst, sobald man sich umdreht, kann man den eigenen weg sehen, den eigenen schatten? vielleicht sieht man sich aber auch schon nicht mehr so genau, im umdrehen. vielleicht sieht man sich ja selber gar nicht so gut mit verrenktem hals? wenn man sich ständig umdrehen muss.

vielleicht will ich mich als frau gar nicht sehen, in diesem umriss, irgendwo da hinten, da winkt irgendeine traurige nebengestalt, eine dümmliche gedemütigte nebenfigur, geschwängert, entehrt, vertrieben und ermordet, einmal so und einmal so, ach gretchen, lulu, ach lottchen, du süßes mädel, deren namen ich nicht kenn, ach ach –
manchmal stranguliert sie ihre kinder, weil sie es satt hat, manchmal darf sie hysterisch sein, fast immer dumm, fast immer unbedeutend, fast immer mit dem aufwischen beschäftigt, mit der aufbereitung des bodens, auf dem die hauptfiguren dann ihr drama ausbreiten, die wirklichen menschen, die echten heroen –

die figuren bleiben gefangen in ihrer zeit. wer holt sie heraus? die sprache? die welt? wir?

über alte tapeten kann man drüberstreichen, aber auch nur so oft, irgendwann kann man sie noch ausstellen, aber irgendwann hat man es auch schon satt, immer die alten tapeten zu sehen, irgendwann muss man sie runterreißen, vielleicht sollte man einfach das ganze haus abreißen, das ganze haus einreißen und anzünden, warum nicht. zünden wir alles an! oder nur sprechen, auch gut. reden wir einfach. reden wir über das aktuelle, über das zeitgenössische sprechen, über die zeitgenossenschaft im theater. ist auch ok.

ein sprechen, das nicht im eigenen moment erstickt – das nicht zu nah an sich selbst ist, das ist nicht die tageszeitung hier, kleiner reminder, ist nicht die kommentarspalte, falls das jemand erwartet. im ständigen sich umdrehen wollen wir aber auch nicht stecken bleiben, also wie jetzt?

wie aktuell kann das denn alles sein? wie schnell dreht sich das karussel? hallo? hallo? hallo? sagt jemand auf der bühne. ha! da ist eine figur, da ist jemand, oder? endlich!

Was ist eine Figur?

eine figur ist doch jemand oder etwas, das spricht. eine figur ist bei mir alles und jedes, das spricht. die entäußerung eines konzepts, einer haltung. ein ding oder symbol, eine berufsbezeichnung, ein tier, ein zitat. alles und jedes darf sprechen, das ist ganz demokratisch. die figuren äußern immer nur ihre jeweilige wahrheit, das heißt, man muss ihnen nicht glauben. wie praktisch. jeder darf sprechen und nichts ist unbedingt wahr. am ende ist alles ironie, am ende darf man niemandem glauben. aber moment, am ende gibt es immer einen kern, in den man sich hineinfühlen kann, nämlich in das bedürfnis, sich zu äußern selbst. das bedürfnis, sich zu äußern, seine geschichte zu erzählen, sinn zu erzeugen, verbindung zu suchen, das eigene da sein zu verstehen. wohlmöglich im scheitern dieser versuche, in der wiederholung, im missverständnis, in der absurdität.

das absurde ist auch bestimmt von einer abwesenheit der mitte, der hauptgeschichte, des haupterzählstrang. eine abwesenheit von helden. die helden sind nicht mehr da, oder jeder ist sein eigener held. jeder packt seinen eigenen koffer. es gibt keine hauptfigur, es gibt keinen haupterzählstrang, alles fällt sich ins wort. vielleicht wird ein humor frei, wenn der referenzrahmen nicht mehr eindeutig ist, wenn jeder seinen eigenen bewusstseinsstand hat, seine eigene wahrheit hält, sein eigenes süppchen kocht. dann kommt plötzlich das absurde daher, die verwirrung. wenn die referenzsysteme nicht mehr stimmen, wird es nicht nur chaotisch, es wird auch unberechenbar, da ist auch etwas abgründiges, da ist auch ein abgrund, der lauert, im menschlichen, allzumenschlichen, weiß das denn keiner?

das publikum bekommt eine zeuginnenrolle zugewiesen, die figuren sprechen ja nur, weil das publikum ihnen zuhört. weil es über die geständnisse, nöte, über die wut und verwirrung der figuren zeugt. das publikum muss nichts weiter tun, es ist qua anwesenheit schon in das stück eingebunden. es ist qua menschsein schon an die figuren und ihre nöte gebunden. gleichzeitig bekommt das publikum symbolisch wechselnde rollen zugesprochen und wird so teil der inszenierung, ihr müsst nichts machen, aber ihr steht jetzt hierfür, "das ist alles nur symbolisch", aber wir sind jetzt wirklich hier. das sprechen wird performativ, das sprechen von der bühne wird performativ, das sprechen von der bühne ist performativ. wenn das einhorn sagt, es ist das letzte seiner art, das verletzte, dann steht plötzlich die einsamkeit im raum und ist da und verlangt, dass wir uns dazu verhalten, und verlangt, auch einmal da zu sein. und weil wir alle menschen sind, wissen wir, was gemeint ist, weil jeder alles schon einmal erlebt hat, weil wir gemeinsame wurzeln haben in der existenziellen verfasstheit des menschsein, aus der tatsache menschlicher verbundenheit und verletzbarkeit heraus, oder nicht? oder nicht?

wirklich nicht?

kunst

im endeffekt, jetzt nochmal größer, so wie ich es sehe, ist im kern die kunst immer eine auseinandersetzung mit existenziellen fragen. fragen nach gesellschaftlichen möglichkeiten, nach der eigenen wahrnehmung, nach subjektivität, emotion und durchlässigkeit, nach der welt. der künstler bleibt auch mal stehen und ist sperrig und bockig wie ein alter esel. der künstler dreht sich um und sieht auch mal den eigenen tod und winkt auch mal dem tod zu. also die künstlerin. der künstler ist nicht reibungslos, sondern eine reibe, und das tut weh. der künstler, also ich meine die künstlerin, ist nicht nur ein label, die angebliche aalglatte perfektion der neuen selbstständigkeit. dem künstler pfuscht alles in die effizienz rein, der eigene körper, die unwägbarkeiten des eigenen ich, die welt, die immer nicht so will, die sich immer erst bitten und überzeugen lassen muss, die zeit, die immer so kurz ist, die existenz, die man hat, die nie mehr ist, als immer zu wenig.

wenn die kunst nicht am wahn dran ist, nicht am traum dranhängt, dann weiß ich nicht. wenn das wesen der kunst nicht das traumhafte, tiefe rumbohren ist im unwägbaren, im wahn, in den schichten des menschlichen, des denkens und der vorstellung, dann weiß ich nicht. wenn kunst nicht auch vision ist, dann weiß ich nicht. wenn man die vision nicht von geschäftstüchtigkeit unterscheiden kann, dann ist schon alles egal. der vision eigen ist, dass nur der visionseigner sie sieht. wer wiederum seine visionen nicht umsetzen kann, bleibt im sumpf der eigenen visionen stecken. wer zieht sich selber aus dem sumpf, dem sumpf der möglichkeiten, was man alles machen könnte, was alles möglich wäre. ziehen wir uns gegenseitig heraus. machen wir etwas möglich –

das absurde als stilmittel

ich packe meinen koffer. ich packe gerne viele schichten in ein bild: bildverdichtung. ich überbrücke gegensätze gern, verbinde sie. ich packe meinen koffer. es soll tragisch und lustig zugleich sein. es ist absurd, also lacht man, zugleich ist das absurde größer als man selbst und eigentlich nicht zum lachen. da schwimmt immer etwas unheimliches mit.

nur ganz kurz, ist das wirklich mein koffer, steh ich wirklich da und überlege mir: was kommt da jetzt hinein? wohl kaum. darüber kann ich ja gar nicht entscheiden. das ist ein ganz großes missverständnis. es ist immer von handwerk und arbeit und entscheidung die rede, von setzung, von der ratio, vom durchdenken, alles ist wille und setzung und bewusstsein, oder noch schlimmer: recherche. aber das geht natürlich am wesen jeder kunst vorbei, am wesen jeder vision, am grundcharakter des einfalls: der einfall fällt mir ein. die idee fällt mir zu.

die vision ist einfach da.

so wie der mensch einfach da ist, ist die idee auch einfach da.

das ist schön, wenn man sich trifft. das ist schön, wenn das aufeinandertrifft. ich bin ein koffer, dem die ideen zufliegen, natürlich schlichte ich den koffer ein, ich habe den koffer perfekt eingeschlichtet, das ist mein koffer. trotzdem ist mir alles zugefallen. der zufall ist der mindestanspruch der kunst. der zufall lässt sich nicht wegrationalisieren, wenn alles nur mehr entscheidung und wille und arbeit und verwertbarkeit ist, dann ist die effizienzmaschinerie ohnehin schon längst über jede künstlerische eigenständigkeit drübergefahren, dann ist es schon zu spät, bitte, wozu stehn wir dann hier.

ich stell mich trotzdem hin und sage es in zukunft jedem, der es nicht wissen kann oder nicht hören will: die kunst ist ein zufall, die kunst ist ein einfall, ist eine vision, ist das offensein und die medialität, das durchlässigsein für das geflüster der welt. natürlich muss man dann damit etwas machen, muss man daraus auch erst einmal etwas machen. aber wir sind es schon gewohnt, der vision mit der sprache der wirtschaft drüberzufahren, viel spaß. die vision steht hinter dir und lacht. ihr kriegt mich nicht klein, mit dieser beschissenen wirtschaftssprache, mit dieser willenssprache, mit dieser männersprache, kontrolle und dem ganzen marketing. ich mach was ich will. die vision macht sich nicht klein. die kunst sollte sich auch nicht ständig klein machen. außerdem beginnt alles große klein, alles große setzt sich aus kleinem zusammen und außerdem hängt sowieso auch alles zusammen, so viel sei auch noch gesagt.

nächster punkt, es verdichtet sich also symbolisch, überlagert sich, öffnet assoziationsräume, die man parallel abrufen kann, in meinem koffer jetzt? mit so einem konzept an politische themen heranzugehen, sehr wagemutig, aber nicht mal das habe ich mir ausgesucht. ich suche mir ja nicht aus, was mich interessiert, was verhandelt werden will in mir, was zum ausdruck kommt. aber hier, schau mal, ich kann themen von teilnahme, ausschluss, gemeinschaft, perspektive und narration behandeln und dabei sehr abstrakt bleiben, während es trotzdem identifikationsmöglichkeiten für das publikum und so etwas wie biografien, situationen und schicksale auf der bühne gibt? passt, nehm ich! das wär doch gelacht, wenn nicht.

das lachen dreht sich immer um, es kommt immer zurück. wer lacht über wen, die figuren über das publikum oder das publikum über die figuren. der koffer lacht sich schon tot. am ende brennt die welt, am ende schwappt die zukunft über alles drüber, am ende fressen europa ihre kinder, am ende versteckt man die leichen hinter dem vorhang, am ende war gar kein könig, am ende brennt der ganze ort, am ende fällt der der letzte schuss, am ende ist auch nichts heil, am ende ist auch nichts gut. am ende wird geschossen, ganz am ende wird immer applaudiert.

am ende haben die kategorien von mensch, tier und symbol keine rolle gespielt. am ende haben die kategorien generell keine rolle gespielt. am ende sind die schubladen zu geblieben. die schubladen, wo man sonst immer alles reinstopfen will.
am ende haben verletzte figuren eine verletzte welt erklärt, und sind sicher gescheitert, am ende wurde das absurde mit absurden mitteln behandelt, kann sich jemand erinnern?
am ende sind alle positionen relativ geblieben, am ende gab es keine moral von der geschicht, am ende wurde auch noch sehr viel gesagt, immer noch irgendwas nachgeschoben.
am ende ist es schön gewesen, hat mich sehr gefreut.

und doch müssen die zuschauer nicht genauso verletzt sein wie diese figuren, um hineinfühlen zu können, um eine verbindung herzustellen, die stellt sich qua sentient being her, qua existenziellem da sein. fühlen geht immer.

im mittelalter gab es die vorstellung, dass die welt eine scheibe ist, in deren man abgrund man fällt, wenn man hinausgeht über ihren rand, wenn man weitergeht und darüber hinaus. wo die scheibe endet, da sind die ungeheuer. das ist ein sinnbild für den rand, für den rand von sinn und zusammenhalt. am rande von sinn und zusammenhalt ist nur noch der abgrund, deshalb müssen wir diesen sinn ständig neu erschaffen, diesen zusammenhalt ständig aktualisieren, einen platz halten dafür, als gesellschaft.

das einhorn ist ein mittelalterliches fabelwesen, ursprünglich ein monster, man hielt die stoßzähne des narwals für sein horn und schrieb ihnen magische wirkungen zu. in RAND steht das einhorn am rand, weil es das letzte ist und gejagt wird. die kakerlaken harren ihrer vernichtung, der priester sucht in jedem zuschauer seinen gott, polizei rettung feuerwehr suchen ständig zu erinnern, welcher der drei sie eigentlich sind. umkreist von verlorenen astronauten und tetrissteinen, die sich ständig ineinanderschieben, um nicht zu verschwinden, um fortzubestehen. europa stolpert durch ihre tableaus, der stern der europaunion steht allein vor einer leeren flagge, ohne die anderen sterne. jens, der letzte mensch hält lange reden und der bus fährt immer im kreis, den ort entlang, während der regenbogen sich auflöst, der terrorist die zuschauer bedroht, das hologram durch das museum führt, das einmal die europäische union war, während die hockenden mit dem boden verwachsen. gott ist jetzt drei frauen, ein stein schiebt einen anderen stein vor sich her.

im absurden löst sich auch etwas auf, die ordnung, sicherheiten und gewissheiten des alltags. der rand ist auch der rand der gewissheit, der rand des bewusstseins, der vorhersehbarkeit. das ist im prinzip der rand, wo man nicht runterfallen will. der rand von dem, wo alles schön zusammenpasst und schön ordentlich ist. wir wollen ja, dass die welt schön ordentlich ist, dass man sich auskennt, verdammt nochmal. wir arbeiten ständig an der ordnung, an der lesbarkeit der welt, oder nicht.

konstitutiert das sprechen die identität, oder umgekehrt. ermöglicht die identität erst das sprechen? sprache und identität, sprechen und selbstverständis hat miteinander zu tun, weil leben selbstentäußerung ist. sprechen bedeutet, aus seinem zentrum heraus sich mitzuteilen. verletzung und chaos bedingt, dass es kein zentrum gibt. den verletzten figuren ist die orientierung abhanden gekommen, sie versuchen, sich selbst zu konstituieren, durch das sprechen und gehört werden, durch den auftritt im raum der absurdität. zwei bauern streifen ihr leben über. dann ist da noch europa als allegorie einer kontinentalgemeinschaft, sie ist auf der suche nach dem gemeinsamen, nach der eigenen vergangenheit, zukunft oder identität. anders als im mythos tötet sie den stier, bewirft die ballgäste mit kuchen (sollen sie doch kuchen essen), die gäste werfen mit brot zurück. sie hebt ihr kleid hoch, wie bei artemis ist der rumpf ist übersäht mit zitzen. putt putt putt, es ist genug für alle da, sagt sie. die tetrissteine sind auf der suche nach dem sinn des lebens. drei kleine könige laufen im kreis und halten ihr schwert hoch. am rand stehn die schwester der zeit und schneiden und vermessen den faden. einigen von euch hängt schon der faden raus, rufen sie dem publikum zu.

wenn die figuren wie situationen eher so etwas wie metaphern, allegorien und verdichtungen sind, dann lassen sich assoziative bezüge zu realen und mythologischen personen herstellen. gleichzeitig gibt es immer das ambivalente, in den figuren selbst, in ihrem verhältnis zum publikum, wie wir die figuren wahrnehmen, ein in der schwebe bleiben, das aufmerksamkeit will und einlöst.

ist nicht jeder sinn erst etabliert. ist es nicht eine kulturleistung, sinn zu etablieren, ordnung und sinn zu gewährleisten, dass man sich auskennt, daran haben wir doch so lange gearbeitet als gesellschaft. dass man weiß, wo oben und unten ist. dass alles seinen platz hat. dann kommt dieses jetzt und beginnt alles umzukippen. dann kommt diese gegenwart und stellt das alles in frage, dann kommt das jetzt und bewegt sich so schnell, man kommt kaum noch mit und es wird immer noch schneller, das jetzt wird immer noch schneller, haben sies gesehen? sieht man fast gar nichts mehr, so schnell ist das, wenn sich das mal dreht.

dann kommt die welt und stülpt sich um und eiert herum und sind wir nicht zeugen, sind wir nicht zeugen dieser zeit, in der alles bricht, umbricht, in der kein stein auf dem anderen bleibt, die sich in astralgeschwindigkeit bewegt, wo waren wir, wo sind wir, mir dreht sich der kopf.

im kopf, die figuren, die fallen über mich her, mir fällt einfach ständig irgendwas ein, irgendwelche figuren, dir mir ins wort fallen, die mir ins sprechen fallen, gib uns eine stimme. gib der stimmlosigkeit eine stimme. gib stimme. sei stimme. sei stimme um zu zeigen, dass nicht jeder stimme hat. dass die stimme nichts selbstverständliches ist. dass stimme und selbstverortung zu haben nichts selbstverständliches ist. wir glauben, die revolution ist ökonomisch, wir glauben, wenn das ökonomische geklärt ist, ist alles geklärt. wenn alle genug materielles haben. das ist aber nur der anfang, die revolution, die wirkliche revolution, die radikalste revolution ist, wenn alle wirklich sich selber haben, nicht die einen mehr von sich selber haben als die anderen, wenn dadurch nicht mehr der glaube besteht, die einen seien wichtiger als die anderen.

zeitgenössische dramatik

das aktuelle zu verhandeln in der dramatik: was ist nochmal das neue, oder wie genau sieht das aus, wie sieht es aus, so ein sprechen – das sprechen, in dem alles schon drin sein kann: wie sieht das aus, oder wird man das erst im rückblick gesehen haben?

oder suchen wir das alle, ist es vielleicht gerade und ständig dabei, sich selber zu suchen. im großen, im ganzen, im ganz kleinen, im ephemeren, und überall dazwischen auch?

wer sind wir, wer bin ich, und die da hinten, was gehört dazu, reflexionen dessen, was eine gesellschaft über sich selber weiß, in all den formen, in denen sie über sich nachdenken kann und muss, bezug des ichs zur welt, des wir zum ich, des ich zum du, das du, du du, das wir, und die dort erst, da hinten, und wir hier vorne, alle, auf den seiten, verzeihung, darf ich mal durch, ich, du, wir, sie, sie auch, du auch, du auch oder was? brutus? wer ist noch da, usw. das ist kaum zu überblicken.

das ist eigentlich schön, wenn das nicht so einfach zu überblicken ist, wenn das nicht immer zu überblicken ist, im großen und ganzen, wenn das immer ein versuch bleibt. wenn hin und wieder dann doch immer wieder draufgeblickt wird. schön, dass wir draufblicken, draufgeblickt haben.

bildende kunst und bildhaftes verhandeln

das bühnengeschehen. die figuren sind direkt im raum, und ihre handlungen in diesem abstrakten raum, dem theaterraum, die rolle, die sie verkörpern, dass das performativ veräußert wird, das exisitert alles vor meinem inneren auge, beim schreiben, die bilder sind essentieller bestandteil dieser arbeit, niedergeschrieben in text.

der kakerlakenpriester räuchert zwischen den zuschauerreihen die ränder aus, verteilt seine telefonnummer, da muss ich jetzt ausholen, moment. der kakerlakenpriester räuchert zwischen den zuschauerreihen die ränder aus, das publikum wird symbolisch zum rand, oder zur mitte, die genau weiß, dass sie ja genau nicht der rand ist. es ist alles nur ein spiel, das ist nicht die wirklichkeit. in der wirklichkeit muss man kein ticket lösen, man ist darin, ob man will oder nicht, falls jemand nicht weiß, was der unterschied ist.

der letzte stern, der aus der europaflagge gefallen ist und wegen seiner zacken niemanden umarmen kann, die soziologin, die erklärt, dass der einzelne mensch sie nicht interessiert, veranstaltet ein gemetzel unter ihren männlichen kollegen. der kakerlakenchor, die zweite armee, die droht mit ihrer baldigen ankunft, waffen werden verteilt. am ende ergießt sich der speichel auf die bühne, eine wutrede der vergessenen. am ende streifen die figuren ihre kostüme ab und lassen sie liegt, sie suchen den moment, sie binden die zuschauer mit ein, am ende kommt die zukunft kommt und schwappt über alles drüber

der kammerjäger kippt sein gift in die zuschauerreihen, ausräuchern, heilen, die großen antworten drübergießen. lear sucht seine tochter, oder ist er nur senil und will jeden abend nicht sterben, schlafenszeit. die souffleuse fährt einen karren zettel vor sich her. am ende meldet sich die ganze erde zu wort: ich hab nur noch so wenig zeit.

die geschichte ist ein karneval, alles ein großes spiel, auch im sinne von parodie und rollentausch, und genau aus diesem durcheinander aus wer ist wer und als was verkleidet, wer taucht auf und muss auch noch was sagen, genau daraus lassen sich diskursive blöcke anreißen, als bild auf die bühne schmeißen, wie ein kracher, und warten, bis es explodiert. bumm!

wie stehn sie zur vorstellung, dass die bilder der autoren nicht wichtig sind. frage an mich? das ist der eigentliche ausgangspunkt des regietheaters, das sonst nur tote verhandelt: die bilder stimmen auf gar keinen fall. wie steh ich dazu? da halt ich aber gar nichts davon. wir zeitgenössischen leben im hier und jetzt. hallo. für mich zumindest steht das bildhafte ausverhandeln im zentrum meiner stücke, und die bilder sind richtig. sie funktionieren, wenn sie von der regie übernommen werden, mitgenommen, mitgedacht. mitgehangen mitgefangen, die ideen wollen feiern.

wir können streiten, was wie notiert und umgesetzt wird. was richtig und was falsch ist, aber ist das wichtig? oder sind das die regelhaftigkeiten des theaterbetriebes, tut mir leid, da kann ich nicht mitreden, das ist nicht meine aufgabe, das interessiert mich eigentlich nicht einmal, ich sage da gar nichts dazu. ich schreibe die visuellen ideen nieder, wenn jemand interesse hat, ich hab meine inszenierung im kopf, es steht alles da. das bildhafte ausverhandeln ist kein netter zusatz, es steht im zentrum, das kann ich als bildende künstlerin gar nicht abstellen. wenn europa mit kuchen um sich schmeißt, dann ist das eine bildverdichtung aus zitaten (sollen sie doch kuchen essen), historischen und mythologischen figuren, aktuellen fragestellungen und bühnengeschehen. wenn das böse auf die bühne kommt und dann von "gott ist drei frauen" zu den anderen sternen geschmissen wird, um dann wieder zurückgeholt zu werden, damit sich das leben weiterdreht, dann muss das theater damit einen umgang finden, aber die ganze szene funktioniert über ein bild.

das vermag der text zu tragen.

der text vermag bilder zu tragen, oder überhaupt eine notierte inszenierung zu sein, und dann trotzdem immer anders inszeniert zu werden. das reich der ideen ist fluide und es gibt genug platz.

ich schreibe jetzt gegen dieses bild an, sie merken es schon, das sei doch, das ist doch diese textfläche, dann kommt doch die regie und macht erst etwas damit, da ist doch diese weibliche ungestalte materie, da kommt doch erst der männliche geist, der einfahren muss, in den lehm, der geist, der über den wassern schwebt, da muss doch erst michelangelo kommen und den david aus dem stein befreien, mir steigt die galle hoch! es muss nichts befreit werden. es braucht kein erste hilfe team zur wiederbelebung, das stück ist ja nicht am krepieren. da gibt es eine klarheit der bilder und ideen, die für sich selber einstehen, alles klar? die verteidigen sich selber, die stehen für sich selber ein.

die sprache ist keine masse, die der regie hingeworfen wird, bitte machen sie einen abend daraus. die inszenierung ist keine erste hilfe, der text muss nicht zum leben erweckt werden, er atmet genug. die regie formt nicht den abend aus einem toten stein, vielmehr stellt die aufführung eine facette aller möglichkeiten da, die sich schöpfen und finden lassen im text, deshalb besteht das theater auch darin, immer anders zu wiederholen, und eben nicht zu wiederholen. (wiederholen und nicht wiederholen: theater.) es muss nicht erst ein geist einfahren in die tote materie, der text hat schon eine klare idee von sich selbst, mein text hat schon eine form, danke, der funktioniert auf jeden fall, wenn man ihn lässt, bitte.

das werf ich jetzt so in den raum, die kann man nehmen, eins zu eins, die bilder, wenn man will, oder auch nicht, sie sind jedenfalls da, und funktionieren tun sie auch. der geist ist schon in mich eingefahren, überraschung, in diesem körper ist ein gehirn drinnen, glaubt man nicht. kann man sich gar nicht vorstellen, hab ich mir auch nicht ausgesucht, ist aber so. wienerisch, du schaust ma nicht so aus, ja, du mir auch nicht, wiederschaun.

oder anders, nochmal, wie sehen wir denn aus? wienerisch, wie schauts aus? diese energien, die durch mich hindurchfließen, die mich ausmachen, die gibts ja nicht nur bei mir allein. was ich bei dieser figur da auf der bühne verdamme, sehe oder bewundere, das ist doch auch in mir, sonst würde ich es gar nicht erkennen, sonst würde es mich doch gar nicht berühren. das ist ja alles in uns auch, was darstellbar ist. da muss doch begegnung möglich sein auf dieser basis, da geht doch noch mehr.

da ist ein weiter geist versteckt irgendwo in jedem von uns, da findet die begegnung statt, wenn man die ganzen schubladen mal ausgeräumt hat, den ganzen dreck mal weggeräumt hat, den man voraussetzt immer, das alles mal freischaufelt, dann die schubladen schreddert und den ganzen kasten anzündet, sich freikämpft von dem ganzen mist, da ist so viel mehr, da ist so viel drin, machen wir uns an die arbeit. begegnen wir uns, einander, ziehn wir an einem strang, gibt ja ohnehin nur eine welt, wenn das schon mal wem aufgefallen ist, nur eine für alle und alle für eine, und nur ein jetzt, nur eines, und das ist auch schon wieder vorbeigezogen, jetzt gerade, haben sies gesehen? wie es winkt, da hinten? schön war das, dieser moment, der jetzt winkt, danke, vielen dank!

 

Svolikova Screenshot PoetikvorlesungHHMiroslava Svolikova, geboren 1986, ist Dramatikerin. Sie studierte Philosophie in Wien und Paris und ist Absolventin der Akademie der bildenden Künste Wien. Von 2016 bis 2018 besuchte sie einen Lehrgang für szenisches Schreiben beim Dramaforum Graz. Für ihre Stücke gewann sie ua. den Nachspielpreis des Heidelberger Stückemarkts 2019 und den Nestroy-Autorenpreis 2021. Ihre Stücke wurden am Wiener Burgtheater, am Schauspielhaus Wien, am Staatstheater Karlsruhe, am Landestheater Marburg und am Schauspiel Leipzig gezeigt. Außerdem verfasste sie eine Neuübersetzung von "König Lear", zu sehen im Schauspielhaus Bochum, am Staatsschauspiel Dresden und am Luzerner Theater.

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