Hamlet im Halb-Liter-Becher

7. November 2021. Alles so schön bunt hier im Staatstheater und heutig und auch gleich kritisch kommentiert. "Prince of Denmark" von Tue Biering heißt nicht nur nach einer Zigarettenmarke, es sieht auch so aus.

Von Leopold Lippert

In der Hotelanlage reichlich Champagner, Cola und Tiefkühl-Pizza © Nils Heck

Darmstadt, 6. November 2021. Ach, Hamlet, was soll man dazu überhaupt noch sagen. Der dänische Regisseur Tue Biering nennt ihn "Prince of Denmark" und lässt ihn in den Kammerspielen des Staatstheater Darmstadt von Morten Burian spielen, einem dänischen Schauspieler mit sehr akzentigem Deutsch, weil das nun mal "die beste Repräsentation von Hamlet" sei, wie dem Publikum gleich anfangs erklärt wird. Und dieses Dänemark, so erfährt man weiter, sei gar nicht so toll und gemütlich und sozial wie alle glauben, die Dänen wollen nämlich Geflüchtete auf eine eigene Insel wegsperren, wie die Nazis die Juden auf Madagaskar. Es ist also, wie soll man es auch anders sagen, etwas faul im Staate Dänemark.

Kunstrasen, Popcorn und Pizza

Ja, und nachdem wir nun alle bilateralen Missverständnisse ausgeräumt haben, beginnt auch schon das lustige, äh, tragische Herumgeturne vor trashig-witzigem Bühnenhintergrund: Johan Kølkjær hat zwei Rollen Kunstrasen verlegt und ein Planschbecken aufgeblasen, denn dieser Hamlet spielt in einer seelenlosen Hotelanlage mit reichlich Champagner im Kühlschrank. Getrunken wird aber doch meistens Cola aus der Dose, und die passt gut zu Popcorn und Pizza. Überhaupt ist dieser Hofstaat eher prollig ausgestattet: Leopardentops, Glanzleggings, Cowboyhüte, Basketballfantrikot, Glitzersteinchen.

Prince of Denmark 1 C Nils Heck 1Mit E-Gitarre und auch sonst laut: Hamlet © Nils Heck

Derart kostümiert haben die Schauspieler*innen auch sichtlich Freude daran, ihre Figuren als komische Abziehbildchen durch diesen neu bearbeiteten "Prince of Denmark" zu hetzen: der dauerworkoutmachende Laertes (Stefan Schuster), die Möchtegern-MILF Gertrude (Katharina Abt), der neoliberale Phrasen dreschende Claudius (Mathias Znidarec), die genervt-feministische Ophelia (Marielle Layher), der adrett-artige Güldenstern / Rosenkranz (Béla Milan Uhrlau), der augenrollend-besserwisserische Horatio (Daniel Scholz) und schließlich der oberschlau-servile Polonius (Thorsten Loeb), der seinen großen Moment als Leiche im Rollrasen hat, den Kopf mit jeder Umdrehung erneut hart auf den Bühnenboden aufschlagend. Aua. Nur Morten Burian ist ein sehr spezieller Hamlet, sehr körperlich, sehr laut, kein Melancholiker sondern ein brachialer Provokateur, der gerne mal sein Zumpferl herzeigt und trotz Sprachbarriere mit maskuliner Selbstsicherheit durch den ganz und gar nicht selbstsicheren Sein-oder-Nichtsein-Monolog stolziert.

Comic-Prop mit echtem Leninisten

Das alles hat phänomenales Tempo und ist scharf auf Pointe gespielt, aber wozu man dafür eigentlich die Shakespeare-Vorlage braucht, bleibt unklar. Denn Bierings "Prince of Denmark" ist postmoderner Agitprop, in dem irgendwie Hamlet-inspirierte Assoziationen durch den Theaterraum geworfen werden, ohne dass sich die Inszenierung wirklich auf das Spiel der Zeichen einließe: von Kapitalismus zu Corona, zur Naturzerstörung, zu "patriarchaler Kackscheiße", zu sexistischen Frauenrollen im Theater, zu neoliberalen "selbst schuld"-Narrativen, zur Festung Europa, zur sogenannten "Flüchtlingswelle", zur Bruno Ganz-Verarsche, zum doch-nicht-so-tollen dänischen Sozialstaat, bis hin zum Kommunistischen Manifest. Dazu gibt’s Motto-Shirts, eine E-Gitarre, Plastikpalmen, Live-Kamera, und sogar einen echten Kommunisten, Henrik Kordes nämlich von der hessischen MLPD, der den ermordeten Vater als Geist spielt, ein Gespenst geht nämlich um in Europa, naja, Sie wissen schon. Und irgendwann schließt Horatio (ein beleidigter Daniel Scholz, weil eigentlich lieber er den Hamlet gespielt hätte) den bunten Referenzenreigen und sagt sowas wie "Motto-Shirts? Echt jetzt? Das ist so Neunziger!"

Prince of Denmark 4 C Nils Heck© Nils Heck

Und Neunziger, das ist das alles wirklich, ein völlig unironischer Zugriff auf die ironischen Verrenkungen der Neunziger, unheimlich aus der Zeit gefallen, aber dass die Zeit aus den Fugen ist, das steht ja schließlich auch in der Textvorlage. Immerhin bekommt das Darmstädter Premierenpublikum, das, wie die anfängliche Handheberunde zeigt, mehrheitlich den Hamlet noch nie im Theater gesehen hat, den Klassiker sehr bekömmlich erklärt, nach Akt und Szene aufbereitet, alles schön heutig und auch gleich kritisch kommentiert, wie so ein study guide für Erstsemester, auch weil die zentralen Passagen dann doch immer wortgetreu gebracht werden, könnte ja wichtig für die Klausur sein.

Unterm Pop-Gewand: Alles beim Alten

Und so ist Bierings Zugang letztlich ein ästhetisch und im Grunde auch politisch konservativer: Man nehme einen Klassiker, bringe damit die Leute ins Theater, klopfe ihn diskursiv ab auf zeitgenössische Politikfelder, führe damit selbstgefällig seine Unzulänglichkeiten vor, markiere Kritik daran wiederum als bloße Pose für weißes Elitenpublikum, während man auf der Ebene der Körper alles beim Alten lässt, die Frauen sexualisiert und den Herren den Weg freiräumt fürs ach-so-wichtige Probleme wälzen oder fürs ach-so-ohrenbetäubende ins Mikro rotzen, und schließlich mit diesem peinlichen Aktivismus-Maskulinismus, den Burian seinem Hamlet überstülpt, sogar noch eins draufsetzt auf den zaudernden Shakespeareschen Melancholiker. Andererseits, nimmt man das Schlussbild mit Leichen als Argument, hilft einem Melancholie ja auch nicht wirklich weiter.

 

Prince of Denmark
von Tue Biering nach William Shakespeare
Regie und Text: Tue Biering, Bühne und Kostüm: Johan Kølkjær, Musik: Nanna-Karina Schleimann, Licht: Thomas Gabler, Dramaturgie und Übersetzung: Maximilian Löwenstein, Monolog Ophelia: Marielle Layher.
Mit: Katharina Abt, Morten Burian, Henrik Kordes, Mariella Layher, Thorsten Loeb, Daniel Scholz, Stefan Schuster, Maximilian Siegling/Max Scherer, Béla Milan Uhrlau, Mathias Znidarec.
Dauer: 2 Stunden, keine Pause.
Premiere am 6. November 2021 im Hessischen Staatstheater Darmstadt

www.staatstheater-darmstadt.de

Kritikenrundschau

"Die Frage, ob es oberflächlich ist, Ernst & Melancholie in 'Hamlet' 115 Minuten lang so weitgehend beiseite zu schieben, erübrigt sich. Es ist oberflächlich, aber die Oberfläche reflektiert", schreibt Judith von Sternburg in der Frankfurter Rundschau (8.11.2021). Der Abend habe "einen eigenen Schwung und einen eigenen, ziemlich fein abgestuften Umgang mit Authentizitäts- und Identitätsfragen, mit Unernst und dem Übergang zum Triftigeren, mit dem Theater als Mittel zum Zweck, zum Klamauk und zur gesellschaftspolitischen Aussage".

"Eine flippige, völlig überladene Hamlet-Uberschreibung", sah Bettina Boyens (Darmstädter Echo, 9.11.2021). Greifbare Tiefe und Ernsthaftigkeit entstehe zum erstem Mal, wenn Ophelia im Wut-Monolog explodiere in diesem quietschbunten, scheinbar so munter selbstreferenziellen Hamlet-Turbo, "inmitten all der prolligen Popcorn und Cola-Exzesse, trotz Mucki-Bude, Pizzaduft und Glitzer-Cowboy-Hüten." Davor und danach werden lustvoll grelle Überzeichnungen des Tragödienpersonals durchdekliniert.

Die Vermischung aus Theatertext und echter Meinung funktioniert an manchen Stellen so gut, dass Teile des Publikums Szenenapplaus spenden, so Matthias Bischoff in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (11.11.2021). Ebenso tempo- wie pointenreich mische das Stück achtsame Stuhlkreissprache mit herausgebrüllten Agitprop-Attacken. mache sich über das Gendern genauso lustig wie über Altherrenpanik vor der Power junger Frauen. "Jede Position wird zugleich ernstgenommen und relativiert."

 

Kommentare  
Prince of Denmark, Darmstadt: höflich
Danke für den treffenden, wenn auch noch etwas zu höflichen Verriss eines Likes-heischenden Affentheaters, das durch alle aktuellen sowie längst durchgenudelten politischen Themenfelder wischt, ohne auch nur im Ansatz zu reflektieren, ob mehr heutzutage überhaupt noch drin und zumutbar ist.
Prince of Denmark, Darmstadt: Chronist:innenpflicht?
Lieber Leopold Lippert,
was war denn da los? Ihre Kritik liest sich ja wie ein Auffahrunfall. Was hat Sie so wütend gemacht? Irgendwie beschleicht mich der Eindruck, dass Ihre Schlußpointe, die Inszenierung wäre aus Ihrer Sicht konservativ sehr viel mehr über das aussagt, was Sie aus Ekel nur ausspucken mögen, als darüber was Sie gesehen haben. Ich habe die Aufführung als politisch ambivalent erlebt, aber das ist eigentlich unerheblich. Haltungsnoten nach projezierten Zugehörigkeiten zu politischen Lagern zu vergeben ist mir wirklich suspekt. Ihre Argumentation dahin empfinde ich einfach auch viel zu schwach und zu ungenau. Könnte es vielleicht sein, dass Sie vor Ihrem Laptop ein bißchen zu sehr geschäumt haben und nicht mehr journalistisch arbeiten wollten? Gibt es so etwas wie eine Chronist:innenpflicht oder ist im Netz einfach rein emotionaler content besser?
Nur beispielsweise:
Wie hat es dem Publikum gefallen?
Was war das für ein Monolog von Ophelia, den Sie überhaupt nicht erwähnen wollen, der aber in allen anderen Kritiken als bemerkenswert besprochen wird?
Wie kommen Sie zu der Einschätzung mit dem Study guide wenn ca. 30 Zeilen Originaltext gesprochen werden?
Was macht Sie glauben, dass Texte wie "Sein oder Nichtsein" nur auf eine Art zu sprechen sind? Ist das nicht erzreaktionär?
Wie stehen Sie dazu, dass ein männlich gelesener Schauspieler mit einem von ihnen attestierten männlich gelesenen "Aktivismus-Maskulinismus" vielleicht auch einen ironischen Blick auf eine Figur ermöglicht? Wieso liest sich überhaupt alles was Sie über Morten Burian schreiben fast so, als hätte er Ihnen persönlich etwas getan? Inklusive seines Akzents möchte man fast böswillig vermuten.
Wieso fällt es Ihnen überhaupt so schwer die Leistung der Schauspielenden zu würdigen? Wieso wollen Sie einfach alles so zurechtstutzen, auf dass Ihr rant konsistent wirkt? Ist dieses Niederkartätschen, nicht vielleicht genau das Gegenteil von dem, was Sie gut finden auf Bühnen? So deute ich zumindest Ihre Mängelliste, die ich grundsätzlich total verständlich finde.
Es ist doch gut und richtig scharfe Kritik zu üben, aber wenn Sie die Arbeit ihrer Kolleg:innen von Frankfurter Rundschau und Deutscher Bühne zum Vergleich nehmen, geht das doch auch ein bißchen argumentativer und "klassisch-journalistischer". Schönen Gruß aus der Bidirektionalität des Webs.
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