Von schlechten Eltern - Bühnen Bern
Nächtliche Fahrgäste
7. November 2021. Um dem Tageslicht zu entgehen, arbeitet ein Mann als Nachtchauffeur, fährt Ausländer kreuz und quer durch die Schweiz und begegnet in Halluzinationen seiner verstorbenen Frau. "Von schlechten Eltern" heißt Tom Kummers autobiografischer Roman, den Tilmann Köhler an den Bühnen Bern inszeniert hat und die Uhren ticken lässt.
Von Valeria Heintges

Bern, 6. November 2021. Gnadenlos blinken die Sekundenpunkte auf der Digitaluhr. Die beherrscht die ganze Bühne, eckig und weiß strahlen ihre Zahlen in die Dunkelheit. Sie geben Licht in die Schwärze der Vidmarhalle 1 der Bühnen Bern. Einer nach dem anderen nehmen die drei Schauspieler Kilian Land, Jonathan Loosli und Jan Maak einen Leuchtstab, rudern damit durch die Dunkelheit. Sie sind alle drei Tom Kummer, sie sind alle drei nach dem Tod von Kummers Frau Nina von Trauer gezeichnet, versinken alle drei im Meer der Melancholie.
Sie meiden das Tageslicht, können nur in der Nacht existieren. Und sind auch sonst mehr auf Seiten des Todes als auf der des Lebens. Frauen kommen in dieser Welt nicht mehr vor, die Männer sind mehr als hilflos.
"Von schlechten Eltern" hat Tom Kummer seinen stark autobiographischen Roman genannt, der in Bern den Weg auf die Bühne findet. Und damit findet auch der Roman seinen Weg zurück. Darin beschreibt Kummer, wie er nach dem Tod seiner Frau Nina aus der gemeinsamen Wahlheimat Los Angeles in die gemeinsame Heimat Bern zurückkehrt. Die Zeit, in der Kummer für "Tages-Anzeiger", "Süddeutsche Zeitung" oder "Spiegel" Interviews mit Super-Prominenten fälschte, liegt da schon hinter ihm. Ohnehin wäre ihm eine regelmäßige Arbeit bei Tag nicht möglich, zu fest hat ihn die Trauer im Griff.
Alles bei Nacht
Um dem Tageslicht zu entgehen, arbeitet er als Nachtchauffeur, fährt Ausländer in der Mercedes-Luxuslimousine kreuz und quer durch die nächtliche, morbide Schweiz. Die Nacht verhüllt die touristischen Heidi-Seiten und zeigt die Kehrseite des Wohlstands, die Randständigen und natürlich die Todessüchtigen. Gerade rechtzeitig kehrt der Vater am Morgen nach Bern zurück, um seinem Sohn Vincent vorzugaukeln, er habe die ganze Nacht neben ihm gelegen. Dass Vincent selbst in Worten, Taten, Gedanken und Filmen im Reich der Toten lebt, merkt der Vater nicht. Sein Romantitel "Von schlechten Eltern" kommentiert das deutlich.
Auf der Schaukel durch die Dunkelheit in Tilmann Köhlers Inszenierung in Bern © Iko Freese
Tilmann Köhler, Weggefährte des neuen Berner Schauspieldirektors Roger Vontobel seit gemeinsamen Zeiten am Dresdner Staatsschauspiel, macht aus Kummers Selbstbetrachtung einen Dreiklang über den Tod, die Trauer und die dunklen Seiten der Schweiz. Ausgang für all das ist das Spiel von Nacht und Tag, von Dunkelheit und Licht.
Immer wieder nutzen die drei Akteure die Leuchtstäbe der Digitaluhr. Sie sind Charons Ruder, der in der griechischen Mythologie die Toten über den Styx ins Totenreich Hades fährt, oder Schwerter von Schattenkriegern, erscheint Kummer doch Frau Nina immer wieder in Träumen, in Halluzinationen, kämpft auch er mit Schatten und Chimären und Monstern. Die Zeit wird regelrecht demontiert, außer Kraft gesetzt; die Stäbe mal ausgelegt wie eine Begrenzung, mal wie eine Flugzeug-Landepiste, wenn Sohn Vincent zu seinem Bruder Frank fliegen soll, der in den USA geblieben ist. Zu Licht und Dunkelheit kommt der Nebel, der die Realität umwabert und eine Begegnung von Lebenden und Toten möglich macht.
Leben im modernen Schattenreich
Es ist nicht leicht, einen literarisch starken Text, der fast ausschließlich vom Innenleben des Protagonisten getrieben wird, spannend und abwechslungsreich darzustellen. Selbst die Dialoge wirken zuweilen wie Monologe, haben doch auch Toms Gespräche mit seinen Fahrgästen den Tod zum Thema, wenn die ihm entweder Tipps geben, wie er mit der Trauer umgehen könnte, oder gleich selbst einen guten Platz zum Sterben suchen.
Köhler ist in der Wahl seiner Mittel sehr erfinderisch. Er lässt die drei im Chor, versetzt und gegeneinander sprechen, lässt sie singen, flüstern und schreien und alles dazwischen. Er gruppiert sie immer wieder neu, lässt sie wie Magnete aufeinanderprallen und sich abstoßen. Sie greifen zu Musikinstrumenten oder bewegen sich – vom Bohrertakt geführt – wie Roboter. Am Ende dürfen sie sogar alle drei schaukeln. Doch weist der Abend inhaltliche Längen und Wiederholungsschleifen auf, die im deutlich differenzierteren Originaltext, der auch mit viel mehr Rückblenden durchsetzt ist, weniger zutage treten.
Die Schauspieler wirken – meist ohne feste Rollen – wie ein gut eingespieltes Jazz-Trio, das zu einer Jam-Session zusammengefunden hat. Sie lassen einander Raum und Zeit und Entfaltungsmöglichkeiten. In den Solopassagen zeigt sich, dass es Jan Maak am besten gelingt, feine, differenzierte Töne auszuspielen und doch im Ausdruck stark zu bleiben. Maak hat auch den größten Part, wenn er in Dialogen Kummer selbst übernimmt. Kilian Land legt dann den Sohn Vincent deutlich weniger kindlich an als er im Buch gezeigt wird. Während Jonathan Loosli als Frank in der Schluss-Szene viel abgeklärter ist und sich ansonsten vor allem mit Schweizerdeutschen Passagen abhebt. Am Ende gibt es übrigens so etwas wie Hoffnung. Man kann es fast nicht glauben.
Von schlechten Eltern
nach dem Roman von Tom Kummer in der Fassung von Tilmann Köhler und Felicitas Zürcher
Regie: Tilmann Köhler, Bühne: Karoly Risz, Kostüm: Susanne Uhl, Musik: Jacob Suske, Dramaturgie: Felicitas Zürcher, Licht: Hanspeter Liechti.
Mit: Kilian Land, Jonathan Loosli, Jan Maak.
Premiere am 6. November 2021
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause
www.buehnenbern.ch
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