Choreografie der Egopuppen

von Christian Rakow

Bochum, 24. Mai 2007. Ein Theaterrätsel: Ein zarter Bruder, dreiundzwanzigjährig, kuschelt sich im Schlafanzug von hinten an seine unwesentlich jüngere Schwester, die barbusig – ein Hauch von einem Kleid herabgezogen bis auf die Hüften – auf dem Bühnenboden hockt. Und doch ist das kein Inzest.

Was ist es dann? Es ist das surrealistisch informierte, doch dabei komplett enterotisierte Puppenspiel, als das Armin Holz soeben Arthur Schnitzlers Künstler- und Familiendrama "Der einsame Weg" am Schauspielhaus Bochum aufgeführt hat.

Wie eine Traumfantasie beginnt es. In einem betont formbewussten, weißen Bühnenraum (von Andrea Schmidt-Futterer und Armin Holz), der sich irgendwo nah bei René Magritte und Salvador Dali ansiedelt, zwischen einer geschwungenen, bronzierten Wand und einem fliehenden, kahlweißen Baum tanzt Johanna, die Tochter des Kunstprofessors Wegrat. Während von einem schwarzen Flügel unentwegt impressionistische Klangkunst herüberweht, entflammen drei Feuerstöße das blattlose Bäumchen. Märchenhaftes Theater. Der alternde Schriftsteller Stephan von Sala tritt hinzu, Johanna umspielt ihn leicht. Das ist der Auftakt einer Romanze, die tragisch enden wird. Sala ist todkrank, Johanna opferbereit. Als ihre Trennung ansteht, nimmt sie den Weg ins Wasser. Ein jung verblühtes Leben. Eines mehr auf Salas einsamem Lebensweg.

Am Mittelpunkt der Welt

Mit seinem 1904 uraufgeführten Fünfakter hat Schnitzler die Selbstzweifel der in die Jahre gekommenen Bohémiens eingefangen. Während Sala ein letztes frisches Abenteuer sucht, sehnt sich sein alter ego, der Kunstmaler Julian Fichtner, erstmals nach fester Bindung. Fichtner will seinen unehelichen Sohn Felix für sich gewinnen, der die Frucht einer Affäre mit Gabriele Wegrat, der Frau des Kunstprofessors, ist. Doch als sich Fichtner seinem Sohn nach dem Tod der Mutter offenbart, weicht dieser zurück und bekennt sich lieber zum nichts ahnenden Ziehvater: "Vater! Mein Vater!" Und Wegrat, geknickt von Hiobsleid (Frau tot, Tochter tot), sagt einen der ergreifendsten Schlusssätze der Theatergeschichte: "Müssen solche Dinge geschehen, dass mir dieses Wort klingt, als hört’ ich’s zum ersten Mal…?"

Solche Momente der Intimität, sentimentalisch und gebrochen wie sie sind, fallen in Armin Holz' Bochumer Inszenierung gänzlich aus. Denn Holz verortet den archimedischen Punkt im Narzissmus der Figuren. "Wenn Sie im Mittelpunkt der Erde wohnten, wüssten Sie, dass alle Dinge gleich schwer sind. Und schwebten Sie im Mittelpunkt der Welt, dann ahnten Sie, dass alle Dinge gleich wichtig sind", referiert Herr von Sala, und dazu drehen sich die übrigen Figuren bedeutungsvoll um ihre eigene Achse. Tatsächlich steckt an diesem Abend jeder an seinem eigenen Mittelpunkt fest, was eine dreieinviertel Stunden währende Serie von Soloeinlagen nach sich zieht.

Mit tränenfeuchten Augen und randvoll gefüllt mit Gesichten und Visionen lässt Claude De Demo ihre Johanna durch den Raum schweben. Der Wallungsfaktor ist hoch, wird aber noch übertroffen, wenn sich Nikolai Kinski als Felix mit Inbrunst in den Bühnenboden krallt: "Die Lüge bin ich selbst!" Weil aber die beiden so durchweg großäugig entrückt erscheinen, bleibt selbst der Griff nach der schwesterlichen nackten Brust noch keusch und unverdächtig.

Einfälle tröpfeln wie ein Sommerregen

Dabei zeigt Regisseur Holz an diesem Abend eine Vorliebe für zweideutige Angebote. Zwischen den Künstlergranden Sala (Markus Boysen), im weißen Dreiteiler, und Fichtner (August Zirner), im weißen halboffenen Morgenmantel, entspannt sich eingangs etwas Homoerotik. Doch knistert nichts, weshalb der Gedanke auch im Ansatz stecken bleibt. Am Mittelpunkt der Welt ist alles gleich wichtig und gleich unwichtig. Die Regieeinfälle tröpfeln wie ein Sommerregen.

Das Elegische findet die Aufführung vor allem an der Rampe. Dort kommt Markus Boysens Herr von Sala ganz zur Entfaltung. Der Mann mit der Deutungshoheit – "Den Weg hinab gehen wir alle allein" – spaziert über die Szene wie ein grimmiger Genießer, der seinem Hobbyweinkeller einen nachmittäglichen Besuch abstattet. Ein gelegentlicher Ausfallschritt und tiefe Augenringe bezeugen den baldigen Krebstod. Was wohl der Grund dafür ist, dass dieser Sala, stets begleitet vom flirrenden Spiel seiner Finger, ein jedes Wort kostet als sei es das letzte.

Inmitten zahlreicher gestischer Momente und Kleinstchoreografien, die nach Bedarf die schier endlosen Distanzen zwischen den Holz'schen Egopuppen überbrücken helfen, finden wir den einzig lebendigen Moment und gleichsam einen unfreiwilligen Kommentar auf den Abend im Auftritt der Schauspielerin a.D., Irene Herms. Mit virtuosem, keckem Jungmädchengehabe, mit einem Augenrollen, das sich einen frivolen Glanz aus dem Strom der Zeit zu retten wusste, zeigt Ilse Ritter ihre Schauspielerin Herms. Eine Brise Morgenluft. "Die bejahrten Fächer liegen mir nicht", sagt sie. Die sich dem bejahrten Spiel verweigert, hat, wenngleich auf einsamem Weg, für diese Nacht das Schauspiel gefunden.

 

Der einsame Weg
von Arthur Schnitzler
Regie: Armin Holz, Bühne: Andrea Schmidt-Futterer und Armin Holz.
Mit: Ilse Ritter, Marcus Boysen, August Zirner, Nikolai Kinski, Claude De Demo, u.a.

www.schauspielhausbochum.de

 

Kritikenrundschau

Auf Spiegel online (25.5.2007) beschreibt Wolfgang Höbel wie üblicherweise mit Schnitzlers "Der einsame Weg" regisseurseits verfahren wird: "Die meisten Regisseure, die Schnitzlers Stück spielen ... nüchtern es aus. Sie ... verwandeln Schnitzlers fiebrige Altherrenwehmut in kalte Resignation. Nicht so der tollkühne, dreiste, stolz eigenbrötlerische und naturgemäß auch ein bisschen verrückte Regisseur Armin Holz ...". Der nämlich treibe seine Schauspieler "in surrealistische Ausdruckskämpfe", mit Hecheln, Röcheln, Schluchzen, jähem Niederstürzen und wildem Händeflattern. ... "Trotzdem kippt Armin Holz' Inszenierung im Laufe von dreieinviertel Aufführungsstunden ganz allmählich in eine betriebsame Lähmung. Und die hängt damit zusammen, dass sich gerade die Sensationen maximaler Hysterie auf Dauer schlimm erschöpfen ... überhaupt herrscht mehr und mehr ein kaum mehr motiviertes Zittern und Zagen und Verglühen auf der Bühne, so dass man als Zuschauer fast erlöst das schaurige Ende des Stücks begrüsst."

Werner Streletz in der WAZ (25.5.2007) hat schon größere Bedenken. Holz zelebriere das Stück "als manirierten Totentanz, also geziert, zerrüttet, mit Oberflächenglanz: menschliche Katastrophen in makellosem Design." Er ist an expressionistische Stummfilme erinnert und von "Überästhetisierung mit ihrem Hang zu einem eigenartigen Pathos" befremdet. Gleichwohl und aha: "Das Publikum applaudierte begeistert der Bochumer Abschieds-Inszenierung von Armin Holz, der mit dem Ende der Saison das Schauspielhaus Richtung Berlin verlassen wird. Wie zu hören ist, nicht ganz im Frieden mit dem Bochumer Intendanten Elmar Goerden."

In der Frankfurter Rundschau (26.5.2007) schreibt Stefan Keim indessen: "Die Aufführung hat Längen, verlangt Konzentration, aber Holz schafft ein radikal persönliches Theater mit Nachwirkung. Man mag seinen Stil hassen oder lieben, auf jeden Fall ist er einzigartig." Den Löwenanteil seiner Besprechung widmet Keim den Schauspielern. Im hochkarätigen Ensemble ist ihm vor allem einer aufgefallen: "Die Besetzung von Felix ist ein Coup: Nikolai Kinski, Sohn Klaus Kinskis, gibt sein Debüt auf einer größeren Bühne. Erst vor vier Jahren hat der in den USA aufgewachsene Schauspieler Deutsch gelernt ... Die Verwandtschaft ist auch auf der Bühne unverkennbar: die hohe Stimme, die lyrisch wispern und sich ins Exaltierte steigern kann, die manisch flackernden Augen. Aber Nikolai Kinski legt es nicht darauf an, dem Vater zu ähneln. Er spielt mit Konzentration und Hingabe und im Gegensatz zu den Kollegen weitgehend ironiefrei."

Auf Arnold Hohmann von der Westfälischen Rundschau (26.5.2007) wirkte die Inszenierung wie ein "gedehntes, dreistündiges Begräbnis". Die "todtraurige" Musik, die Art, wie sich die Schauspieler "umschleichen" – ´Und wenn uns ein Zug von Bacchanten begleitet, den Weg nach unten gehen wir alle allein´, formuliert der kranke Sala das Grundthema des Stückes." Zudem werde schlecht und schwer verständlich gesprochen. "Für eine bejubelte Premiere hat das Verständnis dann wohl doch gereicht."

Gerhard Stadelmaier schließlich fand den Anlass offenbar überhaupt unter jeder Kritik und rubrizierte seine Kurzbesprechung in in der FAZ (26.5.2007) lieber  als "Glosse". Armin Holz, dessen "Dona Rosita" vom letzten Jahr er durchaus geschätzt habe, "drückt dem Schnitzler seinen Kunstwillen auf, der zwar jedem Wort treu scheint, aber unter Gewolltem kein Gelebtes zeigt, nur Durchgeknalltes. Stil tötet Theater." Im Gegensatz dazu leuchtet ihm noch Steins "Wallenstein" in der Erinnerung, und er schließt: "Alles Theater ist Regietheater (auch das von Stein, natürlich). Es kommt auf den Regisseur an."

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