Sind wir vielleicht eine Lüge?

von Anne Peter

Berlin, 13. November 2008. Am Ende sitzen wir stumm. Die Andacht vorm Applaus. Nicht wissend, wie reagieren. Und auf was eigentlich? Auf einen Theaterabend? Auf eine Abschiedsvorstellung? Christoph Schlingensief nennt es "Der Zwischenstand der Dinge". Ein Zwischenstand nur kann es sein, weil das, wovon dieser Abend ausgeht, ein ganz realer Prozess ist: eine Krankheit, Krebs, und der ist noch nicht ausgestanden. Ist es vielleicht nie.

Das macht der kurze Selbstauftritt Schlingensiefs schmerzlich bewusst. Am Anfang tritt er ans Rednerpult, unter den Augen dunkle Schatten. Er erzählt kurz von der Metamorphose dieses Projektes aus "Splittern", das im Juli 2008 zuerst im Studio des Maxim Gorki Theaters im privaten Kreis gezeigt wurde. Damals steckte er noch mitten in der Chemotherapie, das alles für ihn "eine völlige Überforderung".

Dann feierte er im September auf der Ruhrtriennale in seiner "Kirche der Angst vor dem Fremden in mir", eine – wie die Rezensenten berichten – bewegende, irritierende, auch blasphemische Messe. Jetzt kehrt der Abend aus dem großen Raum der Gebläsehalle Duisburg Nord an seine Berliner Anfangsstätte, in einen viel kleineren, intimeren Raum zurück. Die Geburt der Kunst aus dem hemmungslos Persönlichen.

Ein neuer Befund, der ziemlich scheiße ist

Schlingensief spricht davon, wie seltsam es sei, sich in diesem Projekt selbst zuzuhören, wo es doch seit heute einen neuen Stand gebe, "der ziemlich scheiße ist". Wie der Befund lautet, sagt er nicht. Gleichwohl erhöht diese unfrohe Botschaft, dieser unvorhergesehene Einbruch der Wirklichkeit, die Authentizitäts-Aura des Abends noch. Denn das hier ist kein postdramatisches Spiel um Fiktion und Wahrheit, Spiel und Wirklichkeit. Die Frage, ob es nun das eine oder andere sei, drängt sich hier eigentlich gar nicht auf. Vorbedingung ist vielmehr die Grundannahme, dass hier wahr gesprochen wird. Vom echten Leid eines echten Menschen.

Die Schauspielerin Mira Partecke, im weißen Brautkleid, bombardiert den Arzt "Dr. Binder", der sich selbst als einen "geistig behinderten Nervenkranken" vorstellt, mit Fragen (aus der Feder Salvador Elizondos): "Sind wir vielleicht eine Lüge? Sind wir vielleicht ein Film, ein Film, der kaum einen Augenblick lang dauert? Sind wir die Gedanken eines Wahnsinnigen?" "Nein – nein – nein", wirft Dr. Binder dazwischen. Auf der Leinwand hinter ihm sieht man zu Beginn den kleinen Christoph im Doppel-8-Film, spielend am Strand, mit seinen Eltern. Momente des Glücks womöglich. Momente, deretwegen man unbedingt nicht sterben will. Das ist der Abend nämlich auch: leidenschaftliche Lebensumklammerung.

Schwarz-Weiß-Film-Projektionen als Erinnerungs-Streaming. Ulrike Bindert-Eidinger singt Schönberg, es erklingen Passagen aus "Tristan und Isolde". Dazwischen wütende Anklagen gegen eine Mutter, die ihren kranken Sohn nicht besucht hat. Ein Behinderten-Chor, der "Glaube Liebe Hoffnung" skandiert. Bisweilen wird die Leinwand hochgehängt, dahinter Glasscheibe und Gaze vor einem Krankenzimmer inklusive Klavier und goldverziertem Spiegel. Dr. Binder sagt zu allen Fragen des Kollegen nach der weiteren Behandlungsweise "ja" und legt sich – Hilflosigkeit der Wissenschaft – schließlich zu der Patientin ins Bett.

In Afrika abhängen oder vom Hochhaus springen?

Wie "Kirche der Angst" basiert auch "Der Zwischenstand" auf Texten verschiedener Autoren, deren Zentrum jene selbstanalytischen Verzweiflungsbruchstücke bilden, die Schlingensief im Krankenhaus ins Diktiergerät sprach, auch aus selbsttherapeutischen Zwecken. Man hört sie vom Band aus dem Off oder gelesen von den Schauspielerinnen. Das löst die Texte vom individuellen Schlingensief-Schicksal ab und macht dieses zum Muster des allgemeinen Sterblichkeits-Schocks, der uns alle früher oder später erreicht. Kaum möglich, sich das von der Zuschauerseele zu halten.

Von Schlingensief verbalisiert wird die Angst vor diesem Sterben, das Nachdenken darüber, ob man den Rest der Zeit, die einem noch bleibt, mit vielen Büchern in Afrika abhängen sollte oder dem Ganzen auf der Stelle ein Ende macht, darüber, ob man lieber von einem Hochhaus springt oder sich eine Kugel in den Kopf jagt. Und warum gibt es eigentlich keine Guillotine für zu Hause?

Er erzählt, wie der Arzt ihm empfohlen hat, jeden Tag zu leben, als sei es sein letzter. Dass es wichtig sei, die Freunde zu informieren, nicht damit sie einen "mit Mitleid zuballern", aber doch "wissen, dass man jetzt ein bisschen anders ist". Schlingensief weint aus dem Off. Es kann passieren, dass man mitweinen muss. Aber ist das überhaupt ein Mitweinen? Ist es Mitleid? Was einen beim Zuschauen befällt, ist doch vor allem die eigene Angst vor dem Sterben. Gibt es das überhaupt, ein Mitleid, das nicht selbstbezüglich ist? Das sind Fragen, die einen noch umtreiben, wenn man das Theater längst verlassen hat.

 

Der Zwischenstand der Dinge
Ein Projekt von Christoph Schlingensief
Regie: Christoph Schlingensief, Regie-Mitarbeit: Anna Heesen, Aino Laberenz, Leonard Schattenschneider, Bühne: Kathrin Frosch, Aino Laberenz, Kostüme: Aino Laberenz, Video: Meika Dresenkamp, Musik: Timo Kreuser.
Mit: Michael Binder, Margit Carstensen, Hanna Eichel, Wanda Fritzsche, Kerstin Grassmann, Norbert Müller, Achim von Paczensky, Helga von Paczensky, Mira Partecke, Gunnar Teuber, Angela Winkler, Eva Zander.Gesang: Ulrike Bindert-Eidinger.

www.gorki.de

 

Hier lesen Sie die Beiträge zur Aufführung von Christoph Schlingensiefs Kirche der Angst vor dem Fremden in mir im September 2008 in Duisburg.



Kritikenrundschau

Für Rüdiger Schaper im Berliner Tagesspiegel (15.11.) kommt mit dieser Studio-Produktion die Kunst an eine Grenze, sogar die Kunst eines Christoph Schlingensief. Schon die Intimität der Bühne schafft für Schaper eine kaum erträgliche Intensität: "als säße man in Schlingensiefs Wohnung". Das Material des Abends stellt aus seiner Sicht den Kern der Duisburger "Krebs-Oper" "Eine Kirche der Angst" dar. Doch während die überwältigende Duisburger Produktion ein Gemälde gewesen sei, das Kraft und Glaube verströmt habe, besitze "Der Zwischenstand der Dinge" Härte und Eindeutigkeit einer Schwarz-Weiß-Zeichnung. Am Ende geht Schaper hinaus und sorgt sich um Schlingensief.

"Wir sitzen, nicht vergessen, im Theater", mahnt Reinhard Wengierek in der Tageszeitung Die Welt (15.11.). Doch auch er bleibt nicht unbeeindruckt von dieser "rückhaltlos offene(n), zugleich geheimnisvoll spinnerte(n), verrückt ins Fantastische treibende(n) und doch immer wieder hellsichtig die Todesangst umkreisende(n) Schnipsel-Paraphrase" aus Video, Musik, Patiententagebuch, Memoiren und Kabarettistischem. Ein Abend, den er als "Reflexion einer grauenvollen Lebenssituation in eisiger Einsamkeit" aber auch als "tief ins Allgemeinmenschliche ragenden szenischen Skizze" empfand.

"Das schwankt zwischen Kunst, Kitsch und Exhibitionismus", schreibt Hans Peter Göpfert in der Berliner Morgenpost (15.11.), der sich oft weniger als Zuschauer denn als Voyeur empfand und sich in dieser Rolle nicht ganz wohlgefühlt hat. Der Abend wirkte auf ihn insgesamt "leiser und zurückgenommen", zumal unter der Berücksichtigung der Tatsache, "wie unzimperlich Schlingensief in seinen Performance-Spektakeln Behinderte und auch Schwerstkranke" instrumentalisiert habe. Schlingensief kreiere hier einen "'erweiterten Krankenbegriff' – eine Variation des erweiterten Kunstbegriffs von Joseph Beuys." Doch spüre man auch "die selbsttherapeutische Absicht dieser Inszenierung", die sich für Göpfert daher herkömmlichen Rezensionskriterien entzieht.

Mit weichen Knien hat dagegen Dirk Pilz das Theater verlassen, der sich das Stück für die Berliner Zeitung (15.11.) angesehen hat. Und wie schon bei Schlingensiefs "Eine Kirche der Angst" fiel es ihm auch diesmal schwer zu entscheiden, "ob das Echte der Schlingensief-Krankheit die Inszenierung nobilitiert oder sie einfach unangreifbar macht", ob der Abend "Leiden ausdrückt oder Mitleiden einfordert". "Ist das noch Theater?" fragt er also, und "wenn ja, welches?" Und: spielten diese Fragen überhaupt eine Rolle? Denn Schlingensief habe den Krebs zu seinem Kunstbesitz erklärt, "er inszeniert, bearbeitet ihn, macht sein Sterben, seine Angst, seinen Jammer zur Bühne für jedermann." Er mache sie auf diesem Weg sowohl für sich selbst als auch für den Zuschauer zu einem Ort "zur Einübung in die größte aller Künste: die Überlebenskunst."

 

 

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