Wind der Veränderung

28. November 2021. Regisseur Poutiaire Lionel Somé lässt ein rein weibliches Ensemble Shakespeares "Der Sturm" mit Aimé Césaires "Ein Sturm" kreuzen. Eine frische Brise: Kolonialismus-Kritik und eine Meeresgöttin herrschen. Und auch sonst läuft hier einiges jenseits der altbekannten Inszenierungspfade.

Von Max Florian Kühlem

Oh, Göttin! Marlena Keil, Sarah Yawa Quarshie (Projektion) © Birgit Hupfeld

28. November 2021. Shakespeares Prospero als weißer, europäischer Kolonialherr, der den Ureinwohnern der Insel, auf die er verbannt wird, ihre Identität raubt und sie versklavt: Diese Deutung drängt sich in der deutschsprachigen Theaterlandschaft, in der postkoloniale Diskurse aktuell stark sind, geradezu auf. Am Schauspiel Dortmund hat sie jetzt Regisseur Poutiaire Lionel Somé in einer Kreuzung zweier Stoffe durchexerziert. "Zwischen zwei Stürmen" basiert auf Shakespeares "Der Sturm" und Aimé Césaires "Ein Sturm" und lässt von Shakespeare genau noch so viel übrig, dass die Zuschauer:innen wissen, was hier dekonstruiert werden soll.

Mutter der Menschheit

Nur eine gute Stunde weht der Wind der Veränderung über die Dortmunder Bühne, den man schon im Foyer spürt. Für die Rolle der Sycorax, die bei Shakespeare bloß als verstorbene Mutter des Caliban erwähnt wird (und als Hexe bezeichnet), hat Poutiaire Lionel Somé die Schwarze Spoken-Word-Artistin Bernice Lysania Ekoula Akouala aus Essen engagiert, deren lokaler Berühmtheit in bestimmten Communitys möglicherweise zu verdanken ist, dass tatsächlich mal nicht in erster Linie das Standard-Stadttheater-Publikum gekommen ist, sondern eine von Alter, Hautfarbe und Geschlecht (und Geschlechtsidentität) her diverse Menschen-Mischung.

Auf der Bühne geht das weiter: Im Bühnenbild von Marion Schindler mit seinem aufgestellten runden Boden, der Insel, Weltenrund oder auch Schiffsdeck sein könnte, und den Gaze-Vorhängen für Videobilder würde sich zwar problemlos auch eine klassische Shakespeare-Aufführung abspulen lassen. Und wenn Marlena Keil als Prospero dem Luftgeist Ariel befiehlt, einen Sturm zu entfachen, dann könnte das auch der Anfang genau einer solchen sein. Aber vorher gab es ja noch eine andere Szene, eine Art Prolog, in dem Sarah Yawa Quarshie als Caliban Yemaya anruft, die in der afrikanischen Yoruba-Religion Fluss- oder Meeresgöttin und die Mutter der gesamten Menschheit ist.

Die Hexe schnipst

Wohl Kraft dieser Yemaya kommt dann irgendwie Sycorax ins Spiel, erst als Video-Einspielung und am Ende auch leibhaftig auf der Bühne. Bernice Lysania Ekoula Akouala lässt sie die Geschichte ihrer Verschleppung und Versklavung erzählen und wie der Begriff "Hexe" im Mund des algerischen Seefahrers, der sie als sein Eigentum betrachtete, plötzlich "mit Schande befleckt wurde". An einer Stelle schnippst die Spoken-Word-Artistin mit den Fingern und ein paar Zuschauer:innen schnipsen mit – als würde sich kurz ein geheimes Zeichen der Zustimmung oder ein Signal von Körpern, die eine gemeinsame, kollektive Erfahrung teilen, im Raum manifestieren.

Zwischen zwei Stuermen 1 BirgitHupfeld uEinen Sturm entfachen: Nika Mišković, Marlena Keil, Valentina Schüler (Projektion) © Birgit Hupfeld

Auf der Bühne stehen ausschließlich weibliche Körper, einige davon People of Colour, eine, die Deutsch mit Akzent spricht. Der Regisseur stammt aus Burkina Faso, hat in der Hauptstadt Ouagadougou mit Christoph Schlingensief zusammengearbeitet. Trotz aller Diversitäts-Diskurse oder -Programme ist ein so ein Ensemble im Rahmen eines deutschen Stadttheaters immer noch eine Ausnahme-Erscheinung und es ist äußerst erfrischend, zu erleben, mit welcher Selbstverständlichkeit, Coolness und auch Momenten von Schlingensiefscher Albernheit es hier Raum greift.

Karikatur des Kolonialherren

Prospero wird in dieser Inszenierung zunehmend zur keifenden Karikatur des weißen Kolonialherren, der irgendwie akzeptieren muss, dass sich auch seine Tochter nur noch zum Schein seiner Macht und seinem Zauber unterwirft, um ihre eigenen Ziele zu verfolgen und sich mit den Ureinwohnern des Landes zu verbinden, das er sich gern nehmen will. Er muss akzeptieren, dass Caliban ihm vorwirft, sein Land mit der Geste des Eroberers zu betreten, zu plündern und zu besudeln. Dass er ihm erklärt, beschlossen zu haben, in Zukunft nicht mehr Caliban zu sein: "Jedesmal, wenn du mich rufst, wird dich das an die grundlegende Tatsache erinnern, dass du mir und uns alles bis hin zur Identität gestohlen hast."

Dass auch Shakespeares Original-"Sturm" schon als Kolonialkritik gedeutet wurde – für so viel Differenzierung bleibt in dieser knappen Inszenierung, die schnell und durchaus unterhaltsam vorbei weht, keine Zeit. Die Figuren, von denen man nur vier ungefähr so bei Shakespeare findet, reihen sich am Ende auf der Bühne auf und prophezeien einen Sturm des Wandels, in dem die "Wolkenkratzer" und "Prunkpaläste" sich auflösen. Sie bestärken sich gegenseitig: "Wir sind aus demselben Stoff, aus dem auch Träume gemacht werden. Wir sind auf dem Weg!" Und es klingt vielleicht ein bisschen kitschig und grob, was hier neu geschnitzt werden soll aus dem Plankenholz des alten Schlachtschiffs Europa. Aber irgendwie liegt in dieser Einfachheit auch eine Kraft.

Zwischen zwei Stürmen
Nach "Der Sturm" von William Shakespeare und "Ein Sturm" von Aimé Césaire
Regie & Video: Poutiaire Lionel Somé, Bühne: Marion Schindler, Kostüme: Julia Simmen, Musik: Abdoul Kader Traoré, Co-Autorin / Storytelling: Bernice Lysania Ekoula Akouala, Dramaturgie: Christopher-Fares Köhler, Sabine Reich, Video: Daniela Sülwold, Licht: Sibylle Stuck, Ton: Gertfried Lammersdorf, Christoph Waßenberg.
Mit: Bernice Lysania Ekoula Akouala, Marlena Keil, Miranda Nika Mišković, Sarah Yawa Quarshie, Valentina Schüler.
Premiere am 27. November 2021
Dauer: 1 Stunde 5 Minuten, keine Pause

www.theaterdo.de

Kritikenrundschau

"'Zwischen den Stürmen' bietet ein fantasie- und humorvolles Zaubertheater, eine nachdenklich machende Handlung und kommt nur manchmal in seinen Zielen etwas überdeutlich daher", schreibt Bettina Jäger in den Ruhr Nachrichten (29.11.2021).

Ein "gewaltiges Fest der Bilder" sah Jens Dirksen und schreibt in der WAZ (29.11.2021): "Es geht um Selbstermächtigung und es geht um festes Vertrauen in die Metaphysik."

Christoph Ohrem von WDR5 Scala (29.11.2021) lobt, die Geschichte werde "sehr knapp und zackig erzählt". Marlena Keil schöpfe als Prospero aus dem Vollen. Die ausschließlich weibliche Besetzung des Stücks begrüßt der Kritiker.

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