Die Zehnte, unvollendet

3. Dezember 2021. Ein Meteorit knallt im Werk von Autorenstar Moritz Rinke, Regisseur Mathias Schönsee und dem Trickster Orchestra in die Berliner Philharmonie. Er landet auch mitten im musikalischen Kosmos Beethovens. Und der auferstandene Maestro kommentiert die Gegenwart.

Von Frauke Adrians

Beethoven, der Freiheitsverfechter © Matthias Heyde

3. Dezember 2021. Die betonstaubbedeckten Philharmoniker sind genötigt, fürderhin draußen im Park zu proben. Und was proben sie? Beethovens Zehnte; ausgerechnet das von künstlicher Intelligenz aus verschiedenen Komponenten komponierte Etwas auf Basis recht weniger Notizen Beethovens, das viel mit künstlich, weniger mit Intelligenz und wohl noch weniger mit Beethoven zu tun hat. Folgerichtig, dass so viel musikalische Verirrung den wahren Urheber neun wahrer Symphonien auf den Plan ruft: (Theater-)Autor Moritz Rinke und Regisseur Mathias Schönsee lassen Beethoven auf der Bühne der Neuköllner Oper wieder auferstehen.

Pult-Despot mit Menschlichkeit

Wäre ihr Stück nur durchgehend so konsequent. Doch "Der Mann, der sich Beethoven nannte" hat hauptsächlich alte Klischees in der Partitur, und selbst die neueren sind schon so ausgeleiert, dass man beim Zuschauen eher Unwillen empfindet als Sympathie oder gar geistige Anregung. Es geht um alte weiße Männer und junge Aktivistinnen of Color, um faule Beamtenärsche in Berufsorchestern und um einen Maestro, der – gähn! – arrogant in den Sphären der "Hochkultur" schwebt und jeden Ansatz zu Musikangeboten für die weniger Begüterten, weniger Gebildeten, weniger Weißen mit Verachtung straft. Zum Glück für das Stück wird der Part des Dirigenten in dieser Uraufführung vor dem allzu plumpen Stereotyp gerettet – von niemand Geringerem als Hansa Czypionka, der dem alten weißen Pult-Despoten dann doch noch Witz, Finesse, wohldosierten Sarkasmus, sprich: Menschlichkeit einhaucht.

Schauspielerin, Sängerin, Aktivistin

Beethoven hingegen ist für seinen Darsteller Christian Kerepeszki nicht so leicht zu beleben, was auch daran liegt, dass der Wiederauferstandene einerseits weltfremder Zausel, andererseits wortgewaltiger Kunst- und Freiheitsprediger sein muss. Zu allem Überfluss ist er auch noch mit einem faden Running Gag geschlagen: Jedes Mal, wenn das Wort "Ärzte" fällt, rastet der zu Lebzeiten von allerlei mehr oder minder fähigen Medizinern gepeinigte Patient Beethoven aus.
Hauptrolle Nr. 3 fällt der soeben wegen ihres sozialen Engagements gefeuerten Philharmonikerin Clara zu ("Sie sind auch Musikerin?" – "Nee, Bratschistin"); gespielt wird sie von Maya Alban-Zapata, die im Programmheft als "Schauspielerin, Sängerin und Aktivistin" vorgestellt wird und sich offenbar entschieden hat, den Part der Clara als Aktivistin zu spielen. Man kann es ihr nicht mal vorwerfen. Denn es ist wirklich nicht zu erkennen, was die Autoren wollen: Kritik an überholten "Hochkultur"-Ritualen loswerden oder allgemeine Gesellschaftskritik? Sympathie für diesen oder jeden Aktivismus äußern oder sich darüber gerade lustig machen? Oder, Gipfel der Beliebigkeit, von allem etwas?

DerMannDerSichBeethoven4 805 MatthiasHeyde Disput mit dem zauseligen Genie © Matthias Heyde 

Hätten alle Darsteller bei dieser Uraufführung Hansa Czypionkas Format, wäre es ein wesentlich stärkerer Schauspielabend; könnten alle auf der Bühne so singen, wie es die gelegentlichen Kurzausflüge Richtung Musical eigentlich verlangen, könnte man mit mehr Berechtigung von einem Musiktheaterabend sprechen. Aber das Semi-Laienhafte passt wiederum zu dem eigenartig unausgegoren wirkenden Stück.

Faszinierende Verfremdung

Das einzig Vollendete ist der Part des Trickster Orchestra unter Leitung von Cymin Samawatie. Was die Musiker auf Flügel und Kontrabass, chinesischer Mundorgel Sheng und japanischer Zither Koto, auf Percussion, E-Gitarre, Bassklarinette und Live-Electronics spielen, ist eine faszinierende, klangfarbenreiche Beethoven-Verfremdung. Komponierend haben sich Cymin Samawatie, Ketan Bhatti und Niko Meinhold vor allem die Fünfte anverwandelt, aber auch die Neunte scheint gelegentlich auf, und wer sich von Tonartabschweifungen und E-Verzerrer nicht verwirren lässt, entdeckt noch einiges mehr; ja, doch, sogar "Für Elise". Ob man zwingend beim raffinierten Crossover-Sound des Trickster Orchestra ankommt, wenn man Beethoven in Gedanken ins 21. Jahrhundert verpflanzt, sei dahingestellt. Dass die Musiker sich die Freiheit nehmen, Beethoven neu zu denken – das ist ihr Recht und der Gewinn des Publikums.

Der Mann, der sich Beethoven nannte
von Moritz Rinke / Mathias Schönsee (Text) und Cymin Samawatie / Ketan Bhatti / Niko Meinhold / Trickster Orchestra (Musik)
Regie: Mathias Schönsee, musikalische Leitung: Cymin Samawatie, Ausstattung und Video: Rebecca Raue, Dramaturgie: Bernhard Glocksin und Änne-Marthe Kühn.
Mit: Maya Alban-Zapata, Hansa Czypionka, Christian Kerepeszki, Cymin Samawatie sowie den Musikerinnen und Musikern des Trickster Orchestra Naoko Kikuchi, Sabrina Ma, Niko Meinhold, Ralf Schwarz, Milian Vogel, Wu Wie.
Premiere am 2. Dezember 2021
Dauer: 85 Minuten, keine Pause

www.neukoellneroper.de


Kritikenrundschau

Das Stück von Moritz Rinke und Matthias Schönsee könne sich "mit bedeutend mehr Herz, Witz und Geist sehen und hören lassen als die von Künstlicher Intelligenz zur 'Zehnten' zusammengestoppelten Notizen des Meisters", schreibt Isabel Herzfeld im Tagesspiegel (4.12.2021). "Ein Kulturbetrieb, der es ermöglicht, dies als 'Beethoven' wahrzunehmen, kriegt hier sein Fett weg." Matthias Schönsee entwickele mit den Schauspielern "ein natürliches, überzeugendes, temporeiches Spiel". Gewitzt stelle sich das Trickster Orchestra Fragen, wie Beethoven heute komponieren oder wie seine Musik in anderen Kulturkreisen klingen würde. "Mit exotischen Instrumenten wie Scheng – der chinesischen Mundorgel – der japanischen Zither Koto, aber auch mit Elektronik und einem fulminanten Schlagzeug entsteht ein farbiger Soundtrack, dem Beethovensche Motive ganz natürlich, nicht anbiedernd oder aufgesetzt, eingewebt sind."

"Eine Kammerkomödie, in der doch schweres Geschütz aufgefahren wird" sah Clemens Haustein und schreibt in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (6.12.2021): "Das Bild des Orchesters, dessen Name hier herhalten muss, ist so grotesk weltfremd wie die Anstrengungen, das Bild einer Hochkultur im Elfenbeinturm zu zeichnen, die in verkrusteten Strukturen vor sich hin versauert. Man merkt schnell: Rinkes Urteile über die 'Hochkultur' stehen fest und sind durch Tatsachen nicht zu erschüttern. Oder anders gesagt: Seine Ressentiments sind so ranzig, dass sie bis ins Weltall stinken."

Kommentare  
Beethoven, Berlin: Tolle Idee
Quatsch, das war schönes AgitProp-Theater! Mir hat´s gefallen. Und Beethoven verfremdet mit ausgefallenen Instrumenten zu spielen - tolle Idee!
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