Nie das Handtuch werfen

4. Dezember 2021. Der sambisch-malawische Regisseur Mbene Mwambene und die italienische Performerin Ivana Di Salvo haben in Bern einen Abend entworfen, der wie beiäufig über Globalisierung, Flucht, Ausbeutung und Rassismus spricht. Weltgeschehen vollzieht sich im Biographischen – und gleichzeitig fliegen die Fäuste.

Von Julia Nehmiz

Sprung in die Welt: "Mawazo" am Schlachthaus Theater Bern © Yoshiko Kusano

4. Dezember 2021. 16 Runden hat dieser Boxkampf. Einen Sieger gibt es nicht. Antworten auch nicht. Dafür viele Fragen. Und Geschichten. Der Boxring ist die Bühne, angedeutet durch zwei Seile. Die Runden haben Namen, "Bus", "Angst", "Sturm", "Kämpfen", auf Papptafeln werden sie durch den Ring getragen. Runde 6 heißt "Tanz". Auf dem weißen Tuch, das vor der Rückwand herabhängt, eine Videoprojektion. Braun zerfressene Landschaft, eine Wunde in der Natur, riesig lange Förderbänder führen ins Industriegebiet, das mitten in die Wildnis gepresst wurde. Vor den wuchtigen Bildern der Zerstörung ein Tänzer, übergroß sein Schatten, er scheint sich auf den Maschinen zu drehen. Was ist der Mensch gegen die zerstörerische Kraft der Ausbeutung? 

Schwere Themen, leichte Atmosphäre

Es ist ein kleiner, poetischer Abend, den Mbene Mwambene und Ivana Di Salvo erschufen. "Mawazo" heißt ihre Performance, uraufgeführt am Schlachthaus Theater Bern. Das Kiswahili-Wort "Mawazo" bedeutet Gedanken. Schwere Gedanken, die ermüden, aber auch leichte Gedanken, die beflügeln. Mwambene, seit seinem Studium in Bern lebend, ist sambisch-malawischer Schauspieler, Regisseur, Dramatiker, Tänzer, Journalist. In Europa machte er mit seinem Theatersolo "Die Geschichte einer Tigerin" (Dario Fo) von sich reden.

Mwambene und Ivana Di Salvo, italienische Schauspielerin, Performerin und Autorin, haben vor drei Jahren erste Textskizzen entworfen. Entstanden ist eine leichte, leise Erzählung. Über fünf Menschen, ihre Träume, Hoffnungen, Erinnerungen. Sie verknüpfen (vielleicht nur vermeintlich) Biografisches mit Globalisierung, Kapitalismus, Zerstörung, Ausbeutung, Flucht, Rassismus, Sexismus das, was Afrika und die Welt umtreibt, klingt an, ohne anzuklagen. Schwere Themen, große Themen, manchmal fast zu groß und zu viel. Oft bleibt nur Raum, um oberflächlich etwas ankratzen zu können. Trotzdem ist die Atmosphäre leicht.

Mwambene und Di Salvo, Boxerin Lulu G. Kayage (Tansania), Tänzer und Choreograf Aloyce M. Makonde (Tansania), Musikerin und Sängerin Mrs Nobody aka Nongoma Ndlovu (Zürich, Simbabwe, Südafrika), jeder spricht in seiner Sprache. Englisch, Kiswahili, Italienisch, Ichibemba, Schweizerdeutsch. Auf dem weißen Hänger werden Übertitel eingeblendet. Poetische Erzählungen, fast wie Gedichte. Kluge Gedanken blitzen auf, brutale Erinnerungen, wundersame Träume. Erzähltheater, bebildert mit reduziertem Spiel. Mrs Nobody untermalt live mit Afro-Fusion-Soul.

Weltgeschehen im Persönlichen

Mwambene und Di Salvo brechen die großen Themen ins Kleine herunter. Im Persönlichen widerspiegelt sich das große Weltgeschehen. Wenige Sätze reißen eine Tragödie auf, ohne sie auszusprechen. Durch die Montage der Erzählungen werden Erwartungen und Sehweisen hinterfragt. Wie beiläufig wird einmal erwähnt, dass nur Fingerbrechen hilft, wenn sich ein Ertrinkender an dir festklammert und du nicht auch ertrinken willst.

Mawazo 1 YoshikoKusano u16 Runden, noch mehr Geschichten: "Mawazo" in Bern © Yoshiko Kusano

Tänzer Aloyce M. Makonde berichtet, wie er als Fünfjähriger im Wald beschnitten wird, grell sein Schrei. Boxerin Lulu G. Kayage, wie ein Feuer Hab und Gut und Erinnerungen vernichtete. Di Salvo, wie sie heimatlos wanderte, Hongkong, Deutschland, Schweiz, Reisen sind Vulkanausbruch, ein rollender Stein, der kein Moos ansetzt. Nongoma Ndlovu, wie die beißenden Chemikalien der Kupfermine den Vater vergifteten und den ganzen Landstrich. Mbene Mwambene, wie er sich vom Vater löst und vom Glauben, halleluja. Lulu G. Kayage, wie sie abhaute, zum Boxen fand, wie sie weiterkämpft. Wie alle kämpfen, für ihre Träume, gegen Ängste, auch das Schöne hat eine bedrohliche Seite – Aloyce M. Makonde tanzt auf dem roten Boxsack, als schwimme er durch alle Ängste hindurch.

Ein gemeinsamer Schrei

Mwambene und Di Salvo erhöhen Boxen zum übergeordneten Motto, die altbekannte Metapher auf das Leben bekommt etwas viel Raum. Gleichgewicht halten, sonst schlägt das Gegenüber zu. Jede Hürde im Leben wie im Boxring nehmen. Durch Boxerin Lulu G. Kayages starke Präsenz wirkt es trotzdem lebendig.

Sie seien fünf Künstler, verloren in Fragen, nach Antworten suchend, sagt Mbene Mwambene einmal, wendet sich direkt ans Publikum. Doch er habe keine Antworten. In der zentralen Szene macht er klar: Theater muss keine Antworten liefern, Theater stellt Fragen. "Mawazo" umfasst eben alles, alle Gedanken, schwere und federleichte, hoffnungsfrohe und zerstörende.

Ein gemeinsamer Schrei, panisch und erleichtert zugleich. "Mawazo", ruft eine. Produzieren, reagieren, sein, Dinge machen, sich sorgen – antworten die anderen. Gedanken können alles sein. Aber nur, wenn man sie sich macht.

 

Mawazo
von Mbene Mwambene und Ivana Di Salvo
Regie: Mbene Mwambene, Ivana Di Salvo, Choreographie: Aloyce M. Makonde, Musik: Mrs Nobody, Œil extérieur: Ntando Cele, Ausstattung: Renate Wünsch, Übersetzung: Maximilian Pahl.
Mit: Ivana Di Salvo, Aloyce M. Makonde, Lulu G. Kayage, Mbene Mwambene, Mrs Nobody.
Premiere am 3. Dezember 2021
Dauer: 1 Stunde 10 Minuten, keine Pause

www.schlachthaus.ch

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