Kaputte Automaten

4. Dezember 2021. Mit Recherchestücken über schmutzige Finanzgeschäfte machte der Regisseur Helge Schmidt zuletzt von sich reden. Jetzt steigt er mit Gerhart Hauptmanns Revolutionsstück hinab zu jenen, die keine Geschäfte mehr machen: Den Schmuddelkindern, an denen der große Jahrmarkt immer nur hell erleuchtet vorbeizieht.

Von Georg Kasch

Griff nach dem Automaten-Glück: "Die Weber:innen" © Silke Winkler

4. Dezember 2021. Wie viel Vermögen besitzen die reichsten Deutschen? Um das zu zeigen, hat Christina Berger, die eben noch den Hauslehrer Weinhold spielte, ein A4-Blatt mit einer Grafik mitgebracht. Sie zeigt in einer erst länger flachen, anfangs sogar unterhalb der Vermögenslinie verlaufenden (das sind die Schuldner), dann steil ansteigenden Kurve das Eigentum von 95 Prozent der Bundesbürger. Um die restlichen fünf Prozent mit derselben Grafik darzustellen, erklärt Berger, bräuchte man viel mehr Platz. Sehr viel mehr: Das Vermögen der reichsten Deutschen, der Familie Reimann, liegt 6,6 Kilometer über dem Boden.

Angeln nach dem Glücksversprechen

Es ist der stärkste Moment in Helge Schmidts Schweriner "Die Weber:innen"-Inszenierung, frei nach Gerhart Hauptmanns großem naturalistischen Drama (von 1892) über die Ausbeutung der schlesischen Weber, ihre sich anstauende Wut und Verzweiflung, ihren Auf- und Widerstand 1844. Hier ist alles da: ein prägendes Bild, eine schlüssige Erzählung, Emotionen. Und sogar Ironie: Vincent Heppner, der gerade den machttreuen Pastor Kittelhaus spielt, ätzt von der Seite "Fremdtextfoul!". Recht hat er. Denn die Fremdtexte – schon vorher etwa hatte Weinhold seinem Zögling, einem Sohn des Fabrikanten Dreißiger, aus dem "Atlas der Versklavung" der Rosa-Luxemburg-Stiftung vorgetragen – sind kraftvoll, verständlich, eindringlich. So, wie man das von Schmidt gewohnt ist, etwa von seinen äußerst unterhaltsamen und zugleich hochinformativen Abenden zum Cum-Ex-Skandal.

Der Mensch, ein Duracell-Hase

Wenn aber Hauptmann zu Wort kommt (und er kommt oft zu Wort), will der Funke nicht recht überspringen. Anika Marquardt hat auf die Bühne des Schweriner E-Werks drei jener Greifautomaten gestellt, wie man sie auf Jahrmärkten findet. Hier angeln die Menschen nicht nach Kuscheltieren, sondern nach denselben kaum zu packenden Fetzen, die den gesamten Boden bedecken. Ein Glücksversprechen, von dem nicht viel geblieben ist. Auf, um und an den Kästen hocken die krummen Menschlein, pickern und klackern mit Metallstückchen den Rhythmus der Webmaschinen wie der Duracell-Hase, der einmal sein Stakkato-Lied der Industrialisierung trommelt, und kommen nicht vom Fleck.

WeberInnen 2 SilkeWinkler uStakkato-Lied der Industrialisierung in der Ausstattung von Anika Marquardt © Silke Winkler

Im Gegensatz zu den fünf Schauspieler:innen, die sich schon deshalb rühren müssen, um sich – Bauch anschnallen, Kittel drüber, fertig – in die nächste Rolle zu stürzen. Drunter tragen sie alle eine Knitterhaut, Zeugnis vermutlich des Raubbaus an der Weber:innen-Gesundheit. Allerdings werden die Figuren selten plastisch, zumal die Spieler:innen nicht nur ständig die Rollen wechseln, sondern im Verlauf des Abends auch noch untereinander tauschen. Während sie am harten schlesischen Dialekt herumkauen, mag sich lange keine Atmosphäre einstellen. Zumal bei diesem Wegzoomen von den einzelnen Figuren hin zum Substrat des Textes oft etwas übrigbleibt, das wirkt wie ein Schlagabtausch zwischen Jungliberalen und jungen Linken.

Kein Infotainment

Es wird viel und gut gesungen an diesem Abend, von Kate Tempest (über Esther, die Pflegekraft in "Europe is lost"), Bertolt Brecht ("Das Lied der müden Empörer" etwa) und Franz Josef Degenhardt ("Spiel nicht mit den Schmuddelkindern"). Hauptmanns "Weberlied", das den Umschlag von Wut und Verzweiflung zur Tat markiert, schält sich überdies als Leitmotiv heraus, von Moritz Krämer mit Autotunes variiert und verzerrt zum möglichen Soundtrack unserer Zeit.

Überhaupt kriegt der Abend gerade im Revolutionspathos tatsächlich Schwung. Nur erlahmt er auch bald wieder. So wenig, wie der Abend mit Hauptmanns Charakterzeichnungen anfangen will, fragt man sich schon, warum Schmidt und sein Team nicht einen weiteren Dokutheater-Abend gebaut haben. Über die wachsende Ungleichheit im Land, über Politik und Klassismus, kurz: über all das, was sich hinter dem Bild von der 6,6 Kilometer langen Vermögenskurve verbirgt, gäbe es viel zu erzählen.

Die Weber:innen
nach Gerhart Hauptmann
in einer Fassung von Helge Schmidt und Katharina Nay
Regie: Helge Schmidt, Ausstattung: Anika Marquardt, Musik: Moritz Krämer, Dramaturgie: Katharina Nay.
Mit: Christina Berger, Christoph Götz, Vincent Heppner, Julia Keiling, Sebastian Reck.
Premiere am 3. Dezember 2021
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause

www.mecklenburgisches-staatstheater.de

Kritikenrundschau

Als "kurzweilig und in vielen Momenten zu Herzen gehend" beschreibt Holger Kankel in der Schweriner Volkszeitung (5.12.21) die Inszenierung. Helge Schmidts Fassung zeichne sich durch eine "rasante Abfolge der Szenen" aus, in der die "Typen" von "opportunistisch-schleimig" bis "gierig scheinmenschlich" klar gekennzeichnet seien. Einwände hat der Kritiker gegen das scheinbare Unvertrauen der Inszenierung "gegenüber einem politisch wachen Publikum": Um die Brisanz des Dramas einzuordnen, würden die Spielenden aus den Rollen steigen und hier und da das Referieren beginnen. Hier möchte man Pubklium in den "kulturellen Hochburgen" gewinnen, mußmaßt der Rezensent.

"Auch in dieser Inszenierung zeigt sich, dass die Beteiligten kaum noch etwas mit der Handlung im Stück anzufangen wissen, je weniger die Figuren bereit sind, sich mit den Gegebenheiten abzufinden", schreibt Erik Zielke im Neuen Deutschland (7.12.2021). Der Abend habe zwar "ein schnelles Tempo" und lasse "Haltungen klarer" werden, doch der Rezensent macht eine Schieflage aus: "Ist die vom Ensemble besungene Pflegekraft nicht denkbar als wirklich kämpfendes Subjekt?" Die Inszenierung stelle sich stattdessen "eher auf die Seite derjenigen, die im vergangenen Jahr vom Balkon aus Applaus 'gespendet' und dabei von Solidarität gesprochen haben". Dass es hierbei um Klassismus gehen solle, wie im Programmheft zu lesen sei, könne nur jemand behaupten, "der, von aktuellen Modediskursen inspiriert, über die Gemachtheit der Verhältnisse nicht reden will, sondern überall nur unverrückbare Identität sieht".

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