Politische Selbstkastration

12. Dezember 2021. Tom Kühnel und Jürgen Kuttner sind die Archäologen des kommunistischen Theaters. Immer wieder bergen sie Stoffe und Archivmaterialien aus den Jahren zwischen leninistischer Elektrifizierung und Endzeit der DDR. 2019 brachten sie den legendären "Hofmeister" in der Fassung von Bertolt Brecht als Standbildfilm mit Live-Hörspiel ins Kino Babylon. Jetzt kommt die Arbeit auf die Bühne.

Von Nikolaus Merck mit Update von Christian Rakow

"Der Hofmeister" als Standbildfilm mit Live-Hörspiel am Deutschen Theater Berlin © Arno Declair

===> Hier geht's zum Update: Premiere am Deutschen Theater Berlin am 11. Dezember 2021

4. Oktober 2019. Am Schönsten, wenn Kathleen Morgeneyer als Gustchen und Lise juchzt und g'schamig dem Hofmeister auf die Pelle rückt. Am Schönsten, wenn Samuel Finzi die Begeisterung des Lehrers Wenzeslaus laut heraus kräht, weil sich der Lehrerkollege Läuffer kastriert hat, um einen Job zu ergattern. Am Schönsten, wenn Peter-René Lüdecke den Sumpf und das Brackwasser vertont, in dem Gustchen sich als-ob ersäufen will.

Einbruch des Punk in die Schlaghosenwelt

"Nicht wundern", sagt Regisseur und Mitspieler Jürgen Kuttner im Kino Babylon am Berliner Rosa-Luxemburg-Platz, schräg gegenüber der Volksbühne, "wenn wir HansAlbersmäßig in die Ferne gucken, der Text wird an die Empore projiziert." HansAlbersmäßig ist dann aber weniger der blaue Blick ins imaginär Weite, als das Verfertigen von Atmosphäre beim Sprechen. Albers war der erste, der im Tonfilm Geräusch-Kehricht zwischen die Sätze streute. Die drei Schauspieler vom Deutschen Theater, die einen aus Standfotos von Brechts "Hofmeister"-Inszenierung am Berliner Ensemble 1950 komponierten Film synchronisieren, tun es ihm mit Herzenswonne quiekend und murrend, krähend und knoddernd, brummend und schnarrend, rumpelnd und schmatzend nach. Das Ganze ist Teil der Versammlung aller frisch restaurierten, digitalisierten, archivierten, komponierten Film-Arbeiten des Bertolt Brecht, die an vier Tagen im traditionsschwersatten Kino Babylon am Berliner Rosa-Luxemburg-Platz gezeigt werden.

Hofmeister korrigiert Brecht Theaterarbeit Die "Hofmeister"-Besetzung vor der Kinoleinwand, von links: Tom Kühnel, Anna Vavilkina, Samuel Finzi, Jürgen Kuttner, Kathleen Morgeneyer, Peter-René Lüdecke  © Babylon

"Der Hofmeister", schreibt Heiner Müller, der alles wusste, "war der Höhepunkt von Brechts Arbeit am Berliner Ensemble." Eine "ganz scharfe, elegante, schöne Aufführung". Mit der Brecht, der Theaterstar, ungeliebt, aber renomeehalber dringend benötigt in der jungen DDR, ganz schön wider die offizielle GoetheundSchillerundMannKulturpolitik der SED aninszenierte. Lenz, den sein Freund Goethe verstieß wegen Unbotmäßigkeit in Weimar, Lenz, bei dem sich der Hauslehrer kastriert und die Soldaten in die Büsche werfen, Lenz versteht man am besten als eine Art Einbruch des Punk in die wohl geordnete Popperwelt von Föhntolle und Schlaghosen.

Bitte ins Repertoire!

Fast 70 Jahre nach der Premiere ist im Babylon von Punk nicht mehr viel zu bemerken. Wenn eine will, mag sie die Exaltiertheiten von Hans Gaugler als Hofmeister (=Privatlehrer) Läuffer beim Menuett und beim Schlittschuhlauf im schwarz-weiß verschwommenen Filmbild als Keimzelle der späteren Energieleistungen an der Castorfschen Volksbühne identifizieren. Aber in Wirklichkeit waren die Regie- und Spielleistungen der Leopold Jessners und Erwin Piscators und ihrer Schauspielagenten in der Weimarer Republik schon weiter gewesen. Auch die brave Bühne von Caspar Neher, die für Arbeiters einige historische Stubenteile zum Wiedererkennen bereithielt, war schon 1950 nicht gerade dernier cri. Aber es war diese Mischung aus Realismus, politischer Scharfzüngigkeit (der deutsche Mann richtet die Waffe lieber gegen sein Geschlecht = Vitalität, "entmannt" sich eher, als gegen die Obrigkeit zu rebellieren) und die schauspielerische Lust, die damals den Welterfolg des "Hofmeister" ausgemacht haben müssen.

Und in dieser Hinsicht schließt das Team vom Deutschen Theater in der Gegenwart leibnah auf. Die Schauspieler*innen haben sichtlich das größte Vergnügen an der Live-Synchro, der Regisseur und Lautsprecher Kuttner (Kollege Kühnel hält sich bedeckt im Parkett) insinuiert eine politische Bedeutung (die es auf alle Fälle gibt, denn was anders als politische Selbstkastration der abhängig Beschäftigten ist die Wahl der AfD?), Anna Vavilkina an der Kino-Orgel rückt das fotografisch-filmische Dokument der Ruth Berlau von 1950 noch einmal um gut 30 Jahre zurück in die totale Stummfilmzeit etwa der Kleinen Strolche, während das Publikum vor Vergnügen ausdauernd giggelt. Ein unendlicher Spaß, den, das sei angeraten, Ulrich Khuon scheunigst eingemeinden sollte in sein Repertoire im Deutschen Theater, wo "Der Hofmeister" am 15. April 1950 auch Premiere gehabt hat.

 

Der Hofmeister
Brecht in echt – Alle originalen Brechtfilme!
vom 3. bis 6. Oktober im Kino Babylon, Berlin

babylonberlin.eu

Das Pathos des Aufsässigen

von Christian Rakow

12. Dezember 2021. Mit dem Wunsch, diesen Brecht'schen "Hofmeister" im Repertoire des Deutschen Theaters Berlin verankert zu sehen, endet die Rezension meines Kollegen Nikolaus Merck 2019 aus dem Kino Babylon. Er ward erhört. Runde zwei Jahre und vier Corona-Wellen später bringen Tom Kühnel und Jürgen Kuttner ihren Standbildfilm mit begleitendem Live-Hörspiel am Ort der einstigen Uraufführung (1950) heraus: in den Kammerspielen des DT.

Von der Crew des Babylon sind noch Peter René Lüdicke (unter anderem als Hofmeister) und Kathleen Morgeneyer (unter anderem als Gustchen, die "Verführte" des Hofmeisters) dabei sowie Co-Regisseur Jürgen Kuttner mit seinem instruktiven Intro zur Werkgeschichte und als Sprecher mancher Rollen und Zwischentexte (der Inszenierung sind auch "Hofmeister"-Notate von Brecht beigefügt). Birgit Unterweger (unter anderem als herrenhäuslich resolute Majorin) und Helmut Mooshammer (als wonnig dozierender Dorfschullehrer Wenzeslaus) sind neu dabei. Matthias Trippner steuert an Tasteninstrumenten und Drums atmosphärische Untermalungen mit Jazz, Cembalo-Klassik oder Debussyartigem Minimalismus für die an sich stumme Filmspur bei.

Hofmeister 2 ArnoDeclair uHalleluja, der Hofmeister hat sich kastriert! Das Ensemble an Mikrophonen, und der Brecht-Film auf der Projektionswand zeigt die Szene nach der Selbst-Entmannung des Titelhelden © Arno Declair

Ganz selten nur nutzen Kühnel/Kuttner die theatralen Möglichkeiten der Verschmelzung von Film und Bühnenwelt, so wenn Kathleen Morgeneyer einmal hinter der halb transparenten Projektionsleinwand auftaucht und passgenau den offenen Türrahmen im Brecht-Film ausfüllt. Der Ton des Abends ist locker, aufgeheitert. Peter René Lüdicke grundiert das expressive Gestenspiel des historischen Hofmeisters (Hans Gaugler) mit lustmolchig schwerem Atmen und gibt im Ganzen eine gehörige Brise Ironie bei. Was dem Unternehmen doch ein wenig Brisanz nimmt.

Seit dem Babylon ist Zeit vergangen. Corona wirft in lange nicht gekannter Radikalität Fragen nach dem Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft auf. Man liest den Konflikt des "Hofmeisters" neu, das Pathos des Aufsässigen, der sich fürs Funktionieren in der Gemeinschaft kastrieren muss. Kühnel/Kuttner haben den gesamten Nebenstrang um den adligen Angetrauten von Gustchen (Fritz) rausgeworfen und damit auch die studentischen Diskussionen um Immanuel Kant und seinen Begriff von Freiheit, die sich im Allgemeinen spiegeln muss, um eine Freiheit, die dort endet, wo sie die Freiheit des Anderen einschränkt. In unseren Tagen der Impfdebatte hätten diese Dispute die Aktualität des Stoffes verstärkt und dem Sittenstrolch Läuffer in seiner emphatischen Unangepasstheit ein Gegengewicht geboten. Das gesellige und fraglos charmante Film-Hörspiel in den Kammerspielen des DT lässt dieses Potenzial nur ansatzweise aufscheinen. Den Abend regiert der Entdeckerstolz, einen kostbaren Diamanten aus alter Zeit geborgen zu haben, ohne genau zu prüfen, wie scharf man damit schneiden kann.

 

Der Hofmeister
von Bertolt Brecht nach Jakob Michael Reinhold Lenz
Regie: Tom Kühnel, Jürgen Kuttner, Bühne: Jo Schramm, Kostüme: Daniela Selig, Musik: Matthias Trippner, Dramaturgie: Claus Caesar.
Mit: Jürgen Kuttner, Peter René Lüdicke, Helmut Mooshammer, Kathleen Morgeneyer, Birgit Unterweger, Live-Musik: Matthias Trippner.
DT-Premiere am 11. Dezember 2021
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.deutschestheater.de

 

Kritikenrundschau

Überzeugend und klug, fand Erik Zielke vom nd (13.12.2021) den Abend, der aber neben den Stärken auch die Schwächen des "Kuttner-Kühnel-Klubs" offenbare: "Den beiden mangelt es nicht an mutiger Bereitschaft, sich in der Geschichte und ihren angeblich ad acta gelegten Kapiteln thematisch zu bedienen. So aufschlussreich das oft auch ist, so ist es ästhetisch weit weniger reizvoll oder bekommt mitunter sogar mitunter den Charakter einer Revue für Bildungsbürger."

All die "kindische Verausgabung" des Ensembles betone nur den Unterschied zu Spielweise wie Darstellung auf den Fotos und zu dem, was man von Brechts epischem Theater weiß, schreibt Irene Bazinger von der FAZ (14.12.2021). Nachgeäfft werde das Spiel des Original-Ensembles, aber nicht getroffen. "Die Distanz zum Stück von Lenz wie zu Brechts Inszenierung bleibt durch die fotografische Definition im Einzelbildgang spürbar, weckt aber Neugier und Anteilnahme. Über Kuttners und Kühnels schwergängigen Reenactment-Versuch lässt sich das leider nicht sagen."

André Mumot von Deutschlandfunk Kultur (11.12.2021) freut sich darüber, mit wie viel Ironie und Hingabe das Ensemble spiele. Sie zeigten eine große Liebe und Faszination für Brecht und sein Inszenierungskonzept, so Mumot.

Doris Meierhenrich von der Berliner Zeitung (13.12.2021) sah und hörte "einen eigenartigen Mix aus Drama und Interpretation: eine Art Stummfilm mit Hörspielunterweisung, was zwar eine nette Spielerei mit Brechts Episierung des Theaters liefert, selbst aber keinerlei reflektierende Kraft freisetzt". Am Ende kastriere die Methode das Emanzipatorische der Geschichte selbst.

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