Als alles noch gut war

12. Dezember 2021. Das Kollektiv punktlive hat ein Theater der Desktops erfunden. Mit der Überschreibung des Tschechow-Klassikers kommt ihre zweite Arbeit raus. Und Nina, Kostja und Co scheinen wie gemacht dafür zu sein, aneinander vorbei zu facetimen und nostalgisch in Foto-Ordnern zu leben.

Von Jan Fischer

Möwe.live: Nirgends ist der Sommerurlaub schöner als auf Social Media © punktlive

12. Dezember 2021. Damals, im Sommer, da gingen sie mit Bier in der Hand über ausgedörrte südfranzösische Feldwege, und da lag eine tote Möwe, aber eigentlich war alles gut. Jedenfalls so gut, wie es halt wird. Der erfolgreiche Videokünstler Boris Trigorin filmt die Szene, hält auf die kleine Gruppe, hält kurz auf das tote Tier, und dann ist alles schon wieder vorbei.

Zeig mir deinen Desktop und ich sag dir, wer du bist

Wie schon in werther.live transportiert das Ensemble punktlive die Handlung der Dramenvorlage "Die Möwe" in "möwe.live" in die Jetztzeit und auf die Rechner der Figuren, dieses Mal in Kooperation mit dem Staatstheater Nürnberg. Im – live gespielten – Stream sieht das Publikum Kostja, seinem Kumpel Mascha und Nina dabei zu, wie sie tippen, Sprachnachrichten verschicken, Fotos sortieren, Notizen löschen, Nachrichten erst tippen und dann doch nicht verschicken, sich gelangweilt durch ihre Instagram-, Twitter- und Facebook-Feeds scrollen.

Moewelive 3 punktliveNina und Kostja als alles noch gut war - war es? © punktlive

Und so entfaltet sich das Tschechowsche Drama: Kostja hasst seine Mutter und ihren Freund Boris, ist aber in Nina verliebt, die Schauspielerin werden will, aber so ganz klappt das nicht, Boris ist irgendwann mit Nina zusammen, schwängert sie, sie treibt ab, Boris ist dann aber schon wieder mit Kostjas Mutter zusammen, während Mascha mit Katja eine Familie gründet, allerdings in Kostja verliebt ist, der sich am Ende wiederum umbringt, nachdem er doch noch erfolgreicher Theaterautor geworden ist, der die Grenzen des digitalen Theaters offenbar stark verschoben hat. So jedenfalls ist es in einem Artikel der – hört man ja allenthalben – ausgezeichnet kundigen Theaterkritik-Webseite nachtkritik.de zu lesen, auf der Kostja im Vorbeiscrollen landet.

Die intimsten Orte

"werther.live" kam zu einem Zeitpunkt, als digitales Theater das einzig mögliche Theater war. Nun, da im Moment Theaterbesuche zumindest an den meisten Orten möglich sind, sollte man meinen, dass der Bildschirm als Theaterort seine Faszination erst einmal verloren hat. Für "möwe.live" gilt das nicht – aus der Lockdownnot ist hier tatsächlich ein Format entstanden, das auch im zweiten Anlauf ganz fantastisch funktioniert. Gerade für diese psychologisch durchwalkten Tschechow’schen Figuren bietet sich die Form von punktlive sehr an, weil die Inszenierung das Publikum an ihre intimsten Orte führt: Ihre Computer, ihre Mailpostfächer, ihre Notiz- und Fotoordner.

Moewelive 1 punktlive Kostja facetimet mit Mascha - und ist eigentlich anderswo © punktlive

Das Format steht und fällt damit, wie glaubhaft all das arrangiert ist. Und darin liegt auch die Stärke der Inszenierung. Zwar gibt es zwischendrin immer mal wieder Videos, die die Ereignisse des Sommers, als alle zusammen im Urlaub in Frankreich waren, zeigen. Es gibt – aus der Geschichte heraus leider nicht motivierte – Videos aus ihrer Gegenwart in ihren jeweiligen Wohnungen. Aber tatsächlich in die Tiefe führt dieses sorgfältig angelegte Ökosystem aus Social-Media-Profilen und Followern, offenen Tabs, Desktop-Hintergründen, verschiedenen WhatsApp-Schreibstilen, dem Scroll- und Schreibverhalten der Figuren. Vieles davon ist das, was zwischen den Figuren ungesagt bleibt: Geschriebene und wieder gelöschte Nachrichten. Nie abgeschickte Mails. Im Tab nebenan verstohlen gegooglete Suchworte. Nach Favoriten sortierte Fotos. Alle diese kleinen, privaten Dinge, die dann am Ende doch nicht so banal sind.

In den Abgrund

Mit "möwe.live" erweitert punktlive ihren digitalen inszenatorischen Raum: Statt wie in "werther.live" – hauptsächlich – auf einem Rechner geht es in "möwe.live" gleich auf drei Rechnern, zwischen denen immer wieder gewechselt wir, rasant in den Abgrund. Ein wenig voyeuristisch fühlt sich das beim Zuschauen an – aber eben auch irrsinnig interessant, weil eine Menge Arbeit in die Details geflossen ist: Auf diesen drei Rechnern stimmt bis hin zu den im Hintergrund abgelegten Ordnern jedes Detail. Und am liebsten möchte man hin und wieder den Stream anhalten, um einfach mal selbst auf den Tschechow-Desktops zu stöbern. Damit gelingt es punktlive einerseits, die altbekannten Geschichten und Figuren im digitalen Live-Screencapture-Format noch einmal neu – und privat-ausschweifender – zu erzählen. Und andererseits den eigenen Raum noch einmal zu erweitern und mit großer Sicherheit ein komplexes Drama auf die Geräte zu Hause zu bringen. Und damit möglicherweise auch ein digitales Format, das bleibt.

 

möwe.live
von punktlive nach Anton Tschechow
Konzept und Regie: Cosmea Spelleken, Technische Konzeption: Leonard Wölfl, Dramaturgie Liveschnitt: Lotta Schweikert, Produktionsleitung: Sofie Anton, Musik: Jonas Rausch.
Mit: Ulrike Arnold, Jonny Hoff, Nils Hohenhövel, Janning Kahnert, Klara Wördemann.
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause

Kooperation von punktlive.de und www.staatstheater-nuernberg.de

Kritikenrunschau

"Wie in den Stücken des großen russischen Dramatikers aus dem 19. Jahrhundert bleibt das Personal von 'möwe.live' eine Menschengruppe voller Sehnsüchte, Hoffnungen, Erfahrungen des Scheiterns, die man sich selbst nicht eingesteht", schreibt Herbert Heinzelmann beim Portal nordbayern.de (12.12.2021). "Theater" werde daraus auch als Digital-Format durch "intensives Schauspiel". Die Spieler:innen agierten "überzeugend in ihren flüchtig virtuellen Auftritten". Da spüre "der alte, analoge Kritiker, dass auch sein Bildschirm auf dem heimischen Schreibtisch Theater kann".

Kommentare  
möwe.live: Tschechows Künstlerblase
Der Kern bleibt gleich: sowohl in der punkt.live-Version wie im russischen Klassiker-Original erleben wir eine neurotisch-selbstgefällige Künstlerblase, die um sich selbst kreist.

Das wird zum zentralen Problem der knapp zweistündigen Live-Stream-Show, die gestern Abend auf der Plattform nachtkritik.plus Premiere feierte: Die Figuren machen keine Entwicklung durch, reden in langen Monologen aufeinander ein und aneinander vorbei. Durch die fancy Tools der digital natives wird das Stück zwar etwas aufgelockert, aber die hübsch arrangierten Nachrichten und Links können nicht wettmachen, dass sich die Figuren im Kreis und um sich selbst drehen.

Eine Stärke der Werther-Inszenierung war es, dass es zwischen den Insta-Kurznachrichten und Sprachanrufen auch immer wieder gelungene Miniaturen gab, in denen sich die Spieler*innen im Video-Chat intensiv begegneten. Bei Tschechows „Möwe“ fehlt dies fast zwangsläufig: die innere Leere des Kunstblasen-Personals, das sich hier in Liebeswirren und Lebenslügen verstrickt, ertrinkt zu oft in Selbstgesprächen und Lamento.

Interessant war, wie sich zwei Spieler*innen aus dem Staatstheater-Ensemble in das punkt.live-Ensemble integrierten: Ulrike Arnold als Arkadina und Janning Kahnert als Grigorin spielen die beiden Etablierten, auf die sich die Sehnsüchte der Jüngeren projizieren, die sich innerhalb der Blase jedoch noch mal abschotten und ungerührt zusehen, wie die Träume der anderen zerschellen.

Die tragische Figur des Stücks ist vor allem Kostja. Ihn spielt Nils Hohenhövel, der bei „werther.live“ noch nicht dabei war und in den vergangenen Jahren Ensemble-Erfahrung am Volkstheater Wien gesammelt hat. Den depressiv-fiebrigen Charakter, der seine Nachrichten ähnlich grüblerisch oft überarbeitet wie Nina (Klara Wördemann), die vergeblich von einer Schauspielkarriere und einer Beziehung zu Grigorin träumt, spielt er überzeugend.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2021/12/11/moewe-live-kritik/
möwe.live: Gotscheff
Ich denke jetzt an Dimiter Gotscheffs hervorragende Inszenierung im Jahre 1993
mit Samuel Finzi als Kostja und Almut Zilcher als Mascha, die den erfolglosen Konstantin vergeblich liebt und den Lehrer Medvedenko heiratet. Diese Gotscheff-Insznierung in Köln war von großer Bedeutung für mich. Seither ist die "Möwe" (Tschaika) für mich das bedeutsamste Theaterstück von Anton Tschechow. Das Stück war mir bis 1993 nur dem Namen nach bekannt gewesen.
Bisher hat noch keine Aufführung oder Film diese Regiearbeit von Gotscheff in den Schatten gestellt - (als wäre alles für mich gemacht (gespielt) gewesen!).
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