Der Urknall

25. Januar 2022. Nicht erst seit Ausbruch der Pandemie werden digitale Theaterformate diskutiert und produziert. Aber wie hat das eigentlich einmal angefangen? Dieser Frage geht die neue Reihe "Performing Internet" nach. Es begann mit dem visionären Medienkunstduo Sherrie Rabinowitz & Kit Galloway und ihrem Projekt "Hole in Space" von 1980 – On Demand weiterhin anschaubar.

Von Martina Leeker und Esther Slevogt

1980 machten Sherrie Rabinowitz & Kit Galloway ein Loch in den Raum und ermöglichten zum ersten mal Live-Kommunikation mit bewegtem Bild via Salellit. © The Rabinowitz & Galloway Archives

Am 25. Januar 2022 wurde mit der Vorstellung der bahnbrechenden Arbeiten der Medienkünstler Sherrie Rabinowitz & Kit Galloway die Reihe "Performing Internet oder: Wie das Theater ins Netz kam. Zu Geschichte und Gegenwart von Theater und Liveness im Internet" eröffnet.

In einer Lecture hat Kit Galloway selbst mit vielem Originalmaterial einen komplexen Überblick über die Arbeit gegeben, die seit der Mitte der 1970er Jahre gemeinsam mit Sherrie Rabinowitz entstand. Im Zentrum stehen die Arbeiten "Satellite Arts Project", "Hole in Space"und "Electronic Café". Die Lecture ist auf nachtkritik.plus weiterhin abrufbar

Dokumentationen der Arbeiten "Satellite Arts Project (1977), "Hole in Space" (1980) + "Electronic Café (1984) stehen ab 25.2. 2022, 20 Uhr für 4 Wochen on Demand auf nachtkritik.plus zur Verfügung.

Hole in Space, 1980

An einem Novemberabend im Jahr 1980 konnten unvorbereitete Passanten, die in New York am Lincoln Center for the Performing Arts und in Los Angeles in einer Shopping Mall am Kaufhaus "The Broadway" vorbeikamen, eine erstaunliche Entdeckung machen. Plötzlich erschienen in den Schaufenstern lebensgroß bewegte Bilder von Menschen, die sich im gleichen Moment an der jeweils gegenüberliegenden Küste der USA befanden. Erst langsam realisierten die Leute, dass sie sich hier "coast to coast" nicht nur sehen, sondern auch hören und miteinander sprechen konnten, als ob sie sich am gleichen Ort befänden. So etwas hatte es bisher noch nicht gegeben. Die Übertragung überwand eine Distanz von 3000 Kilometern und ermöglichte mit Hilfe einer Satellitenübertragung eine Livebegegnung: als träfe man sich auf dem gleichen Bürgersteig.

 HOLE IN SPACE Matched set 300dpi Kopie

Es war eine unerhörte Premiere, die die beiden visionären jungen Medienkünstler Sherrie Rabinowitz (*1950) und Kit Galloway (*1948) mit ihrer "Öffentlichen Kommunikationsskulptur" hier veranstaltet hatten, deren Sensation wir uns in unserer heutigen, total vernetzen Welt mit ihrer allgegenwärtigen Kommunikation und Datenzugänglichkeit kaum noch vorstellen können. Ein Ereignis, das in der Geschichte der Medien vergleichbar ist mit der ersten Filmvorführung der Gebrüder Lumière: als sie 1895 die ersten bewegten Bilder eines in einen Bahnhof einfahrenden Zuges vorführten.

Die halbstündige Dokumentation der drei Tage im November 1980, an denen "Hole in Space" in New York und Los Angeles stattfand, läßt die Sensation noch einmal sehr plastisch werden, die diese Erfahrung für diejenigen bedeutete, die sie damals machten.

Am ersten Tag ist es ein vorsichtiges Erkennen dieses völlig neuartigen Livekanals. Die Vorübergehenden entdeckten, dass die Bilder der Leute, die hier in den "magischen Schaufenstern" erschienen, nicht aufgezeichnet waren, sondern die Menschen tatsächlich live und kopräsent dort über eine Distanz von mehreren tausend Kilometern in Erscheinung traten. Am zweiten Tag hatte sich die Nachricht durch Mund-zu-Mund-Propaganda schnell verbreitet und auch die Massenmedien erreicht. Die Leute begannen, sich telefonisch zwischen New York und Los Angeles vor den Schaufenstern zu verabreden. An Tag drei kam es hier zu geplanten Begegnungen von Menschen, die sich zum Teil seit Jahrezehnten nicht mehr gesehen hatten.

Die Technik kam von der NASA

Es war nicht das erste Mal, dass Sherrie Rabinowitz und Kit Galloway (S&K) sich konventionelle Medien kreativ angeeignet hatten, um mit ihrer Hilfe Raum und Zeit zu überwinden. Mit ihrem "Satellite Arts Project" hatten sie 1977 zum ersten Mal verschiedene Künstler:innen aus verschiedenen Teilen der USA und der Welt über Satellit zusammengebracht, indem sie ihre Bilder und Stimmen zu einem einzigen "Live"-Videobild kombinierten, so dass sich alle im selben virtuellen Bildraum wiederfanden und in der Lage waren, dort gemeinsam zu performen, zu singen, zu tanzen und auf diesem Weg eine neue Art von Weltchoreographie zu erfinden - an einem Ort, den Rabinowitz und Galloway "Das Bild als Ort" ("image as place") definierten und damit zum ersten Mal das Bild als Versammlungsort möglich machten.

Die damals noch unerschwingliche und für die allermeisten Menschen völlig unzugängliche Technologie hatte die US-Weltraumbehörde NASA (National Aeronautics and Space Administration) zur Verfügung gestellt. Rabinowitz und Galloway hatten sich auf eine öffentliche Ausschreibung zur zivilen / künstlerischen Nutzung dieser Technologie beworben. Nam June Paik hat das Verfahren sieben Jahre später unter anderem für Arbeiten mit Merce Cunningham adaptiert und wurde weltberühmt damit. "Wir wollten keine Artefakte fürs Museum oder den Kunstmarkt produzieren", sagt Kit Galloway heute. "Unser Ansatz war gesellschaftspolitisch. Sherrie und ich, wir haben uns gefragt: gibt es noch etwas jenseits von Kunst? Denn genau das wollten wir machen." 

 

Performing Internet oder: Wie das Theater ins Netz kam

#1 Der Urknall: Die Arbeit von Sherrie Rabinowitz & Kit Galloway
Erste Folge der Reihe zu Geschichte und Gegenwart von Theater und Liveness im Internet. Kuratiert von Martina Leeker und Esther Slevogt

www.nachtkritik.plus 

Kommentare  
nachtkritik.plus: Danke
Danke für die Idee zu dieser Reihe an Esther Slevogt und Martina Leeker!
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