Kolumne: Als ich noch ein Kritiker war - Diskriminierung von Ungeimpften
Empathie als Kunst für alle
11. Januar 2022. An den Philosophen Peter Bieri und sein Bildungskonzept muss Kolumnist Wolfgang Behrens denken, wenn er sich den Umgang mit Ungeimpften vergegenwärtigt. Können wir uns nicht mehr vorstellen, dass andere Lebensweisen und Einstellungen zu anderen Entscheidungen führen?
Von Wolfgang Behrens
11. Januar 2022. Als ich noch ein Kritiker war, oder präziser: als ich für zwei Jahre in der Redaktion der Zeitschrift "Theater der Zeit" anheuerte, führte mich mein allererstes Interview zu dem Philosophen Peter Bieri. Im Gespräch entwarf Bieri seinen (positiv besetzten) Begriff von Bildung – ein Konzept, welches nahe an der einst sogenannten "Herzensbildung" angesiedelt ist.
Demnach solle Bildung "ein breites Verständnis der vielen Möglichkeiten vermitteln, ein Mensch zu sein", so Bieri. "Der Gebildete ist jemand, der weiß, dass man ein menschliches Leben […] auf ganz unterschiedliche Weise leben kann, je nachdem, was man glaubt, tut und fühlt. Und wenn einer das ganze Spektrum der Möglichkeiten vor sich sieht, dann wird er auch toleranter." In diesem Konzept fällt der Kunst und nicht zuletzt dem Theater eine wichtige Rolle zu, denn Kunst sei "die Artikulation von Phantasie, und Phantasie ist die Fähigkeit, sich Alternativen, also Möglichkeiten vorzustellen". Im Theater speziell sehe man, "welche Rollen Menschen in der Welt haben können, was sie glauben, was sie verletzt, was sie glücklich macht – und dass das unter Umständen ganz anders ist als bei einem selber".
Empathielosigkeit gegenüber Ungeimpften
Theater als Schule der Empathiefähigkeit – ein schöner Gedanke. Dieser Tage musste ich tatsächlich häufiger an das Gespräch mit Bieri denken. Weil ich mich darüber wundere, mit welcher Empathielosigkeit sogar Menschen aus meinem unmittelbaren Umfeld – also kunst- und theateraffine Leute – auf eine bestimmte Gruppe innerhalb unserer Gesellschaft blicken: auf die Ungeimpften (nennen wir sie mal so, denn die Bezeichnung "Impfgegner" impliziert etwas über das einzelne Subjekt Hinausgreifendes, das Impfungen auch für andere Menschen abzulehnen scheint). Man wünscht den Ungeimpften Pest und Cholera an den Hals (Corona sowieso), man empfindet jede Einschränkung ihres Alltags als nur gerecht, man ruft nach Impfpflicht und Impfzwang und steht anscheinend manchmal kurz davor, die völlige Absonderung der Ungeimpften vom "guten" Teil der Menschheit zu fordern.
Hätte ich mir vor einem Jahr träumen lassen, dass Menschen, denen ich nach wie vor freundschaftlich begegne, sich zu einer derartigen gruppenbezogenen Diskriminierung hinreißen lassen würden? Um aus linksliberalen Mainstream-Kreisen eine entsprechende Ablehnung wie derzeit die Ungeimpften zu erfahren, musste man zuvor schon AfD-Wähler oder Nazi sein. (Wobei ich mich hier allerdings auch deutlich gegen eine in letzter Zeit häufiger geäußerte Gleichsetzung verwahren möchte: Maßnahmen gegen Ungeimpfte sind nicht mit rassistischen Praktiken zu vergleichen, denn die Gruppe der Ungeimpften kann man jederzeit verlassen, eine rassistisch markierte Gruppe dagegen nicht so ohne weiteres.)
Um das klarzustellen: Ich bin geimpft, zweimal, und ich werde voraussichtlich noch in dieser Woche eine Booster-Impfung erhalten. Ich habe mich für die Impfungen aus Gründen entschieden, die ich für rational halte: Ich möchte selbst nicht schwer an Corona erkranken, und ich möchte nicht als Virus-Zwischenträger für gefährliche Ansteckungen verantwortlich sein. Aus diesen Überlegungen heraus wünsche ich mir auch tatsächlich, dass sich möglichst viele Menschen impfen lassen. Aber muss ich mir deshalb auch wünschen, dass Ungeimpfte gegängelt, in ihren Rechten beschnitten und ausgegrenzt werden?
Bildung heißt Balance halten
Ich gestehe, dass ich durchaus Empathie entwickeln kann für Leute, deren Lebensentwurf sie von einer Impfung Abstand nehmen lässt. Ich kann mir Menschen vorstellen, deren religiöse Grundsätze einem schulmedizinischen Eingriff zuwiderlaufen, weil sie vielleicht das Durchlaufen von Krankheit als eine Übung in Demut ansehen. Ich kann mir wissenschaftlich vorgebildete Menschen vorstellen, die trotz der unermüdlichen Versicherungen des Gegenteils von der Ungefährlichkeit eines neuartigen Impfverfahrens (noch) nicht überzeugt sind. Ich kann mir anthroposophisch ausgerichtete oder von philosophischen Überlegungen bestimmte Menschen vorstellen, die nicht wollen, dass die moderne Gesellschaft "den Hain zum Holz, den Tempel zum Stein, das Schöne zum Ding" (Joachim Ritter) und den Körper zum bloßen Gesundheitsträger macht, sprich: die der Rationalität der Gesellschaft das Recht auf ihre blanke, nackte, aber freie Subjektivität entgegenhalten. Und ich kann mir Menschen vorstellen, junge zum Beispiel, die einfach Angst vor einer Impfung haben. Ich kann und will diese Menschen nicht verurteilen. Und ich will sie auch zu nichts zwingen.
Wenn hier an die Geimpften die Aufforderung ergeht, ihre Empathie wiederzuentdecken, so darf das natürlich nicht einseitig bleiben. Auch die Ungeimpften sind angehalten, sich probeweise in die Lage der Geimpften zu versetzen – und dann ihre Schlüsse daraus zu ziehen. Auf beiden Seiten jedenfalls wünsche ich mir: Bildung im Sinne Peter Bieris. Denn "Bildung ist die schwer zu erlernende Kunst, die Balance zu halten zwischen dem Anerkennen des Fremden und dem Bestehen auf der eigenen moralischen Vision. Es gilt, diese Spannung auszuhalten: Bildung verlangt hier Furchtlosigkeit." Zur Schulung dieser Furchtlosigkeit können die Geimpften immerhin noch ins Theater gehen. Die Ungeimpften dürfen nicht einmal mehr das.
Wolfgang Behrens, Jahrgang 1970, ist seit der Spielzeit 2017/18 Dramaturg am Staatstheater Wiesbaden. Zuvor war er Redakteur bei nachtkritik.de. Er studierte Musikwissenschaft, Philosophie und Mathematik in Berlin. Für seine Kolumne "Als ich noch ein Kritiker war" wühlt er unter anderem in seinem reichen Theateranekdotenschatz.
In seiner letzten Kolumne widmete sich Wolfgang Behrens den unterschiedlichen Systemen für die Kurzbewertung eines Theaterabends.
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Dennoch: Dass die Empathie über die Bildungsidee von Peter Bieri funktionieren könnte, beschreibt Wolfgang Behrens charmant und sehr liebevoll. Es klingt spannend. Sollten wir mal ausprobieren. Und dabei nicht vergessen: bei den aktuellen Corona-Protesten auf der Straße kommt im Grundsatz nichts anderes als lebendige Demokratie zum Ausdruck.
Ferner gibt es Geimpfte, die sich noch mit Symptomen in Sicherheit wähnen und weiterhin ihren 2G-Freifahrtsschein nutzen. Jemand, der sich gegen eine Impfung entscheidet, gefährdet nicht automatisch jemand anderen, höchstens sich selbst. Insofern finde ich ihre Aussage undifferenziert und gefährlich. Ihrer Überforderung kann geholfen werden, mit Fakten, Fakten, Fakten!
das ist ja putzig. Sie klingen ja wie Helmut Markwort vom Focus. Es ist zweifelsfrei erwiesen, dass Ungeimpfte durchschnittlich eine höhere Viruslast aufweisen als Geimpfte. Soviel zum relativen Gefähtdungspotential. Und jede*r Geimpfte schützt natürlich Andere mehr, da die Wahrscheinlichkeit symptomfrei unwissentlich zur Gefahr für Andere zu werden signifikant vermindert ist. Das sind so die Fakten. Ihre Vokabel vom "2G-Freifahrtsschein" braucht man wirklich nicht mehr kommentieren in ihrer grotesken Polemik. Wenn Sie den Preis für unsolidarisches Verhalten zu hoch finden, laufen Sie doch auch über zur Seite der "Privilegierten". Wäre besser für alle, glaube ich.
Meine Behauptung, lieber Roland, ist gar nicht die, dass die Ungeimpften schon entrechtet wurden (auch wenn durch das Verbot, Theater und gastronomische Stätten aufzusuchen, oder durch die Tatsache, dass z.B. freie Künstler als Ungeimpfte derzeit kaum auf Gastengagements hoffen dürfen, schon so etwas wie eine Gängelung stattfindet). Ich begegne aber in meinem Umkreis vielen Leuten, die sich förmlich eine Entrechtung wünschen; die Sprüche, die ich von Geimpften über Ungeimpfte gehört habe, möchte ich gar nicht zitieren.
Du sprichst auch von der Gesellschaft, deren Nähe mir nicht schmecken würde. Nun ja, da sehe ich ein weiteres Problem: Jeder Ungeimpfte wird automatisch in die Nähe dieser Gesellschaft gerückt. Als sei jemand, der sich nicht impfen lässt, gleich auch jemand, der AfD wählt und Verschwörungstheorien anhängt. Da wird m.E. starkes Framing betrieben. Heute etwa in der Süddeutschen ein Text von Peter Fahrenholz: http://sz.de/1.5505065 Er beschreibt einige Bekloppte unter den Ungeimpften, Leute, die sich mutwillig anstecken lassen oder in einer Diktatur zu leben glauben. Und das reicht dann als Beweis, um die Gruppe der Ungeimpften in toto zu diskreditieren.
Ich kenne mehrere Ungeimpfte - ich würde mich mit einigen unter ihnen sogar als befreundet bezeichnen -, die in dieses Schema nicht passen wollen. Sie hadern, machen es sich nicht leicht, sehen auch ihre eigene Verantwortung - und haben sich trotzdem gegen die Impfung entschieden. Was bedeutet das für mich? Soll ich sie nun aus meinem Freundeskreis streichen?
Mein Weg ist der, dass ich erst einmal den anderen Standpunkt zu verstehen suche. Ich nehme mir heraus, diesen Freunden (und auch anderen Ungeimpften) gegenüber, empathisch zu bleiben. Die Beschimpfungen und Pauschalverurteilungen, die ich immer wieder höre und lese, halte ich jedenfalls nicht für hilfreich, um noch in irgendeinem Dialog zu bleiben.
Peter Bieri schreibt zur Toleranz gegenüber anderen Lebensentwürfen: "Nicht, dass das immer leicht wäre. Besonders schwierig ist es dann, wenn das Fremde die eigenen moralischen Erwartungen verletzt. Was machen wir mit Grausamkeit, die uns in Rage versetzt, anderswo aber akzeptierter Bestandteil des Lebens ist?" Ja, das ist ein Problem. Und ich wiederhole das Zitat aus der Kolumne: "Bildung ist die schwer zu erlernende Kunst, die Balance zu halten zwischen dem Anerkennen des Fremden und dem Bestehen auf der eigenen moralischen Vision." Ohne diese Bildung aber ist wohl gar kein Gespräch möglich. Ich jedoch bin immer und unbedingt dafür, das Gespräch aufrechtzuerhalten.
danke für diese Sicht und die Worte. Içh finde es grausam, mit welcher Überheblichkeit den Nichtgeimpften von Geimpften und vielen Politikern entgegen getreten wird. Wie können
Geimpfte glauben , die besseren Menschen zu sein?
"Freiheit ist auch die Freiheit der Andersdenkenden" und Handelnden. Ja, Nicht-Geimpfte werden gerade diskriminiert!!!! Um sie zu "bekehren". Schlimm, einfach nur schlimm.
Ich frage mich: Wer gängelt hier wen durch seine persönliche Entscheidung?
Wir erwarten von den Politiker*innen, dass sie in der Bundesrepublik Deutschland in den Formen der parlamentarischen Demokratie die Pandemie bekämpfen.
Dass dabei auch eine Impfpflicht erwogen wird, liegt nahe. da die Impfquote nicht die Höhe erreicht hat, bei der man von einer Wirksamkeit ausgehen kann.
Warum sollte der Staat nicht auch eine Impfpflicht erlassen dürfen, wenn die Mehrheit der Politiker*innen es für richtig erachten. Der Erlass von Ge- und Verboten gehört zum Handwerkszeug der Politik. Selbstverständlich darf die Politik auch ein Tempolimit auf Autobahnen erlassen, wenn eine Mehrheit gefunden wird oder eine Gurtpflicht einführen. Man muss sich, wenn man zur unterlegenen Minderheit gehört, deswegen nicht gleich einen umfunktionierten Judenstern an den Mantel heften. Natürlich darf man auch dagegen sein, aber man kann, wenn man zur Minderheit gehört, überstimmt werden. In der Diskussion mit dem Argument der Freiheit zu kommen, halte ich persönlich für fragwürdig. Das Argument der hohen Risiken, die Geimpfte eingehen schon eher.
Aber Risiko ist in erster Linie ein statistischer Begriff. Insofern ist die Feststellung richtig, dass impfen ein geringeres Risiko birgt, als nicht-impfen, ganz im Sinne des Kommentars #4.
Und die Individuelle Ebene? Unsere Empathie sollte den Menschen gehören, die sich nicht durch eine Impfung schützen können. Sei es aus gesundheitlichen Gründen, sei es aus ökonomischen Gründen. (Es gibt tatsächlich Menschen, die nicht das Privileg genießen, in der reichen BRD geboren zu sein), oder ähnliches.
Dazu gehört Bildung, um nicht zu sagen "Herzensbildung", ihn diesem Sinne hat Herr Bieri vollkommen recht.
Da durch eine Impfung keine sterile Immunität (obere Atemwege) erreicht wird, entspricht es auch einer gewissen Logik und Länder mit hoher Impfquote und Inzidenz bis 3000 zeigen dies umso mehr.
Tut mir leid, ich lese so gut wie keinen Focus. Da beschäftige ich mich doch lieber mit medizinischen Fachzeitschriften und internationalen Studien zu diesem Thema.
Die Viruslast ist durch den ct-Wert der PCR-Tests erkennbar. Er zeigt an, ab wann man nicht mehr infektiös ist. Nach zwei Jahren Kritik, dass er zu hoch (45) angesetzt wurde und zu viele symptomlose Menschen in Quarantäne geschickt hat und somit Inzidenzen nach oben treibt, soll er just in diesen Tagen auf einen viel niedrigeren Wert (30) festgelegt werden. (Streeck bei Lanz) Eigentlich richtig, aber auch klar, dass man somit die Geboosterten und Geimpften vor positiven Tests und und zu langer Quarantäne bewahren kann und damit auch die Inzidenzen unten hält. Symptomlose Ungeimpfte erhalten dadurch eher seltener einen positiven PCR-Test und Genesenenstatus.
P.Tostorf