der himmel ist ja da. der himmel fängt hier unten an - Anhaltisches Theater Dessau
Im Glanz der Pailletten
12. Januar 2022. Ronald M. Schernikau ist eine der großen schillernden Gestalten der ostdeutschen Künstlerszene der 1980er Jahre. Schriftsteller, Wahl-Kommunist, Schwuler. Mit "der himmel ist ja da. der himmel fängt hier unten an." widmet Christian Franke ihm eine Werk- und Lebensschau. Ein Tanz der Fragmente mit Puppen- und Paillettenspiel.
Von Tobias Prüwer
12. Januar 2022. Eine Paillette ist laut Wörterbuch ein kleines glänzendes Teilchen für Stoff-Applikationen. Zu genau so einem Teilchen wird Ronald M. Schernikau in Dessau. Oder besser: Teilchen seines unzeitgemäßen Lebens und Schaffens verwendet Regisseur Christian Franke als Applikationen für den Abend "der himmel ist ja da. der himmel fängt hier unten an". Schernikau schillert und changiert innerhalb der Trias von Künstler, Kommunist und Schwuler.
Pailletten bestimmen die Optik. Die drei dominierenden Spieler – ein vierter wirkt vor allem als Musiker und Bühnenaufräumer am Rand – tragen hautenge Farbwechsel-Paillettenanzüge. Farblich lässt sich auch der Bühnenhintergrund verändern, der mit ebensolchem Stoff aus Wendepailletten bespannt ist. Je nachdem, in welche Richtung die Spielenden die Pailletten streichen, wird die Stelle schwarz oder golden. Das macht tolle Effekte möglich, wenn sie etwa die Silhouette eines Männerkopfes auf die Wand malen oder mit Symbolen ihren Vortrag unterstreichen. Und es passt schließlich gut zu Schernikaus Leben.
Ein unzeitgemäßes Leben
Denn dessen Biografie sieht wie gegen den Strich gebürstet aus. Geboren 1960 in Magdeburg/DDR, wächst er in Lehrte bei Hannover/BRD auf. Er studiert ab 1986 am Leipziger Literaturinstitut und nimmt 1989 die DDR-Staatsbürgerschaft an. Zwei Monate vor Mauerfall siedelt er nach Ost-Berlin über. Er stirbt 1991 an AIDS und hinterlässt ein Mammutwerk. Aus diesem und Schernikaus Leben hat sich Regisseur Franke Fragmente herausgepickt und zum konzentrierten Abend verdichtet.
Anfangs dominiert ein Sockel mit einem übergroßen Pappmachékopf des Schriftstellers die Bühne. Seine Lebensdaten sind darauf verzeichnet. Bald wird der Kopf vom Sockel geholt – eine Spielerin setzt ihn sich auf. Zwei ebenso gigantische Hände werden von den anderen animiert. In diesen Objekttheaterszenen werden Denkerposen imitiert, gelangt Schernikau durch das Betasten seines Gesichts zu so etwas wie Selbsterkenntnis. Das ist der rote Faden dieses im Grunde genommen szenischen Sammelsuriums: Es geht ums Sich-selbst-und-zurecht-Finden in einer ihm fremden Welt und um den Versuch, anders zu leben. Schernikau musste sich permanent positionieren, so wie der Puppenkopf über den Abend immer woanders auf der Bühne platziert wird.
Heiner Müller und die Backroboter
Der ganze Raum wird bespielt und somit zur Versuchsanordnung, die auch ein Gedankenstrom in Schernikaus Kopf sein könnte. Aus dem Podest entsteht mal ein Fahrzeug, mal ist es eine Brötchenstraße in einer Backfabrik, um unterschiedliche Produktionsweisen in Sozialismus und Kapitalismus zu verdeutlichen. Inhaltlich geht es um das Scheitern der sozialistisch-utopischen Idee, an die Schernikau fest glaubte, um den Unterschied von Heiner Müller und Marilyn Monroe, die Flucht über die DDR-Grenze, unerfüllte Liebe und den Auftritt auf dem letzten Kongress des Schriftstellerverbandes der DDR. Und einiges mehr. Die Spielenden – Bianka Drozdik, Niklas Herzberg, Nicole Widera – geben wechselweise mal Schernikau selbst, erzählen, moderieren oder agieren als Backroboter. Es gelingt ihnen auf charmante Weise, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
"Was soll das alles?", fragt man sich dann allerdings in der zwanzigminütigen Pause, die die Eineinhalb-Stunden-Inszenierung schroff zerteilt. Schernikau-Stoffbeutel werden neben Getränken marktschreierisch feilgeboten. Klar ist das ein Hinweis auf den Ausverkauf der Kunst an sich und den kleinen Boom, den der wiederentdeckte Schernikau aktuell erlebt. Aber ironische Distanz zu sich selbst gewinnt die Produktion damit nicht, weil sie diese Welle ja selbst mit bedient.
Festgepinnt
Nach der Pause ist die Konzentration des Abends weg. Die Paillettenwand funktioniert weiterhin als ästhetischer Hingucker. Aber die Wahllosigkeit der Szenen wird offensichtlich, die Dramaturgie oder: die Poesie ist zerstört. Man erfährt weitere Episoden, mehr Textfragmente werden vorgetragen und weiterhin szenisch gut illustriert.
Die nun entstandene Distanziertheit will nicht schwinden, den sehnsüchtigen Schernikau bekommt die Inszenierung nicht zu fassen. Auch weil sie es nicht wagt, sich von ihm mehr zu lösen, freier und assoziativer zu sein. So wie es zuletzt das Puppentheater Magdeburg mit "Das schönste Land der Welt" vormachte, wo die Zuschauenden in einem Schiffscontainer auf sich selbst, ihre Vorstellungen von gutem Leben, von Ost und West etc. geworfen wurden. Der Abend bleibt ein episodenhaftes Aufzählen, das Auflesen von Teilchen eines suchenden Lebens und ihr Festpinnen, damit ein Ganzes entsteht. Selbst wenn man die Pailletten dafür in eine Richtung bürsten muss.
der himmel ist ja da. der himmel fängt hier unten an.
Ein Ronald M. Schernikau-Abend - Schauspiel mit Puppe
von Christian Franke nach Ronald M. Schernikau
Fassung von Christian Franke unter Verwendung von "Legende" und "Königin im Dreck: Texte zur Zeit" von Ronald M. Schernikau
Regie: Christian Franke, Ausstattung: Sabine Mäder, Musik: Timothy Roth, Puppenbau: Magdalena Roth, Dramaturgie: Kornelius Luther.
Mit: Bianka Drozdik, Niklas Herzberg, Nicole Widera.
Premiere am 11. Januar 2022
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten, eine Pause
www.anhaltisches-theater.de
Kritikenrundschau
Ein "schon fast etwas lehrstückhaft-dialektisches" Theater, bei dem man "auch die Argumente anhören kann, die nicht dem eignen Denken entsprechen", hat Wolfgang Schilling für MDR Kultur (12.1.2022) in Dessau gesehen. "Wir erleben ein spielfreudiges Ensemble, bei dem selbst der Inspizient zum Mitspieler und Tänzer avanciert. Das Team um den Regisseur Christian Franke geht die großen gesellschaftlichen Glaubensfragen mit Lockerheit an. Alle sind so jung, dass sie den realexistierenden Sozialismus zumindest kaum bei politischen Bewusstsein erlebt haben können. Aber hellen Kopfes genug, auch unsere real existierende kapitalistische Gegenwart hinterfragen zu wollen."
Von einem "spannenden Abend" mit "faszinierende(r) Ausstattung" berichtet Andreas Mondtag in der Mitteldeutschen Zeitung (13.1.2022). "Was für den Theaterabend einnimmt, ist dass er seinen Helden ernst nimmt, auch wenn man manchmal lachen muss über dessen Naivität."
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