Willkommen in Wien!

13. Januar 2022. Ob Souvenir-Tasse oder Flohmarkts-DVD, allerorten grüßt in Wien Elisabeth von Österreich-Ungarn alias Sissi alias Sisi alias die, die Romy Schneider gespielt hat, die Besucher. Auch Rainald Grebe, der Ethnograph unter den Theatermachern, ließ sich anlächeln und schenkte der Kaiserin am Volkstheater seine Revue in neunundneunzig Szenen: "Ach, Sisi".

Von Gabi Hift

"Ach, Sisi. Neunundneunzig Szenen" von Rainald Grebe am Volkstheater Wien mit Anna Rieser © Marcel Urlaub

13. Januar 2022. Ja!! Ja ja ja ! Ein schöner, lustiger, charmanter Abend ist das geworden. Dabei musste man bei der Ankündigung, es werde um "Sisi" gehen, Schlimmes befürchten: dass sie hier am Volkstheater aus reinem Trotz mit dem Holzhammer auf das eindreschen würden, was den Wiener:innen in ihrer Kitschseele zum Liebsten gehört – unsere Romy-Schneider-Sissi. An den meisten Orten gibt es Dinge, von denen die Einheimischen meinen, dass "Zua'greiste" sie niemals verstehen werden. Von diesen Dingen werden dann Postkarten und T-Shirts gedruckt und an die depperten Touristen als Souvenirs verkauft. Sowas ist in Wien die Sissi. Und weil die neue Truppe am Volkstheater aus allen durch Corona geleerten Gassen ein Raunen zu hören geglaubt hat: "Ihr Piefkes werdet uns nie verstehen, deswegen habt Ihr an unserem Volkstheater nichts zu suchen", würden sie uns jetzt mit zynischem Gelächter die Klischees wie einen nassen Fetzen ins Gesicht hauen und sich dabei fortschrittlich vorkommen. So die Befürchtung.

Spezialist für seltsame Gebräuche

Dabei konnte man Rainald Grebe schon was Anderes zutrauen. Er ist Spezialist dafür, an ihm fremde Orte zu gehen und dort den Sehnsuchtskern von seltsamen Gebräuchen in Theaterrevuen zu erforschen. Er ist eine Art Kinderfaschingsethnologe. In Leipzig hat er einmal eine Show über die Liebe der Leipziger zu Karl May und über das Phänomen der DDR-Indianer gemacht – und alle waren begeistert. Dabei sind Ossis normalerweise "not amused", wenn ihnen ein Wessi ihr eigenes Wesen erklären will; genauso wenig wie die Wiener, wenn ein Piefke sowas versucht.

Sisi2 Marcel Urlaub uIn der Moderatoren-Loge: Anna Rieser und Christoph Schüchner © Marcel Urlaub

Und tatsächlich ist es Grebe gelungen: 99 hingetupfte Szenen über Sisi, ihr Leben, und vor allem darüber, was über sie geredet wird, viele davon sehr lustig, manche magisch surreal, manche auch fad, aber das geht auch in Ordnung, weil man das Ganze so gern mag (mit 2 Stunden 20 Minunten, man kann's nicht ganz unterschlagen, ist der Abend zu lang; ein halbes Stündchen weniger würde ihm doch einen ganz andern Schwung verpassen).

Der Haushofmeister bittet zum Musical

In einer Loge sitzt ein Moderatorenduo – Anna Rieser und Christoph Schüchner –, das für das Rockradio Österreich-Ungarn die lange Sisi-Nacht moderiert. Auf der Bühne steht eine weiße Holzwand mit meterhoher Schönbrunner Tür und vielen surrealen Fensterklappen, aus denen Figuren die Köpfe rausstecken können oder unten herauskriechen wie durch eine Katzenklappe. Hinter der Wand spielt "Sissi das Musical" – alle sind völlig abgewrackt, schon seit Jahren auf Tournee. Die Auftritte steuert Uwe Schmieder als Inspizient und kaiserlicher Haushofmeister am Rande des Nervenzusammenbruchs, mit wirren Locken und zackigem Hüftschwung, wenn er seine Krinoline hochklappt und sich auf sein Stühlchen fallen lässt.

Die verschiedensten Miniszenen von ein, zwei Minuten werden präsentiert. Aus den Mündern von Andreas Beck und Anke Zillich kommen die Stimmen von Karlheinz Böhm und Romy Schneider, die erste Begegnung von Sisi und Franz ist bei den beiden fast noch rührender als im Film; ein Wiener Psychiater erklärt, Sisi sei aller Wahrscheinlichkeit nach gewesen, was man heute bipolar nennt. Ein Mann schimpft, das sei Blödsinn. Alle kommen auf ihren Steckenpferden zum Morgentraining der Spanischen Hofreitschule. Zwei Gestalten mit knöchellangem, wallendem Haar, hinter dem ihr Gesicht verschwindet, tanzen Walzer. Wiener Damen schimpfen, weil Sisi sich nicht so benimmt, wie es sich für eine Kaiserin gehört. Man streitet, ob der Reitlehrer ihr Liebhaber war oder sie vielleicht gar nicht an Sex interessiert gewesen sei. Man sieht die Ermordung durch den Anarchisten.

Eine coole Bitch, irgendwie

Dazwischen werden Gedichte, die die Kaiserin selbst geschrieben hat, als Songs aufgeführt. Jens-Karsten Stoll hat sie vertont, mal rockig, mal Klezmer, mal Österreichische Volksmusik. Ein Trio spielt Klarinette, Geige und Ziehharmonika. Das Ensemble singt – und es gelingt das Kunststück, dass man sich nicht über die ambitionierten Texte von Sisi lustig macht (was leicht möglich wäre), die Fehler aber auch nicht ausbügelt. Stattdessen werden die Lieder, dem Geist der Autorin nachspürend, ernst genommen, und sind in ihrer ungelenken Art gut anzuhören und gehen sogar zu Herzen.

Die Kaiserin hat die Veröffentlichung erst 60 Jahre nach ihrem Tod genehmigt und verfügt, dass die Tantiemen "dem Wohle der politisch Verurteilten und ihrer bedürftigen Verwandten" zugutekommen sollte. Und das passiert seitdem tatsächlich, sie werden vom UN Flüchtlingskommissariat verteilt. Dazu sagt der Radiomoderator in der Loge: "Sie war schon eine coole Bitch, irgendwie."

Theater, das niemandem weh tut

Dazu kommen Schnipsel, in denen es um das Verständnis des Wienerischen Wesens geht. Andreas Beck erklärt den Wiener:innen während er sein Wurstbrot isst, wie sie sich die Nummerierung der Bezirke merken können – mit Hilfe abstruser Theorien. Er ist milde besserwisserisch, genau wie die Piefkes das halt so machen, die den Wienern ihre eigene Stadt erklären wollen. Eine Freud' für uns, wie gut er begriffen hat, wie seinesgleichen sich oft benimmt und sich so fein drüber lustig machen kann, da möchte man gleich ganz gerührt auf die Bühne springen und ihm die Hand hinstrecken und sagen: Willkommen in Wien!

Sisi1 Marcel Urlaub uMajestätisch: Andreas Beck erklärt den Wienern ihre Eigenheiten © Marcel Urlaub

Und dann gibt es noch zwei wunderbare Expert:innen des Alltags. Balázs Várnai, ein ungarischer Schauspieler, der in Wien als Krankenhausclown arbeitet, bringt den arroganten Wienern Ungarisch bei, ein wütendes kleines Czardasmädl in rotbestickter Tracht. Und Susanna Peterka, früher Ministerialbeamtin, jetzt in der Pension Hobbyschauspielerin (und was für eine gute!) erzählt wie sie, wie alle Mädchen, in Karlheinz Böhm verliebt war und sich auch einen so anständigen und feschen Mann gewünscht hat, und wie sie dann der erste betrogen hat, der zweite, der dann schon ausgesehen hat wie ein Beatle, auch, und mit dem Dritten war sie dann 48 Jahre verheiratet. Diese ganz unaufgeregte Erzählung bringt die ambivalente Sehnsucht, die durch die Sissi-Filme ausgelöst wurde – nach Schönheit und Glanz aber gleichzeitig nach dem Ausbruch, dem Abenteuer und dahinter nach einem tiefen Zusammengehören – wunderbar auf den Punkt, ohne etwas davon auszusprechen.

All diese Schnipsel wirbeln durcheinander wie Flocken in einer Schneekugel, ganz ohne Absicht, eine Wahrheit herauszufinden. Verschiedene verschrobene Figuren und merkwürdige Denkweisen nähern sich vorsichtig aneinander an und tanzen wieder auseinander. Hier wird niemandem weh getan – und auf einmal kommt es mir merkwürdig vor, dass "Theater, das niemandem weh tut" meist als Beschimpfung gemeint ist. Hier ist es eine Qualität. Die Schneekugel könnte das kollektive Wiener Hirn sein, und wie das um Sisi herumwirbelt, dem wird hier auf menschenfreundliche und liebevolle Art nachgespürt.

 

Ach, Sisi. 99 Szenen
Eine Staatsaktion, ein Nichts, ein Volkstheater
von Rainald Grebe & Ensemble
Regie: Rainald Grebe, Bühne: Jürgen Lier, Kostüm: Kristina Böcher, Komposition und Musikalische Leitung: Jens-Karsten Stoll, Tanz-Workshop: Pia Brocza, Video Art: Max Hammel, Lightdesign: Julian Paget, Sounddesign: Stefan Feheregyhazy, Dramaturgie: Ulf Frötzschner.
Mit : Andreas Beck, Tilla Kratochwil, Anna Rieser, Uwe Schmieder, Christoph Schüchner, Anke Zillich, sowie Susanna Peterka, Balázs Várnai, Musiker : Simon Frick, Christopher Haritzer, Jens-Karsten Stoll.
Premiere am 12. Januar 2022
Dauer: 2 Stunden 20 Minuten, keine Pause

www.volkstheater.at

 

Kritikenrundschau

"Neben dem humorvollen Ansatz ist auch erkennbar, dass das Ensemble und Rainald Grebe wirklich auch mit Expert:innen gesprochen und sich dieser ambivalenten historischen Figur gewidmet haben", sagt Martin Thomas Pesl im Kolleg:innengespräch der Sendung "Fazit" auf Deutschlandfunk Kultur (12.1.2022). Zur Tatsache, dass ein deutscher Künstler sich in Wien einer österreichischen Biografie annimmt, bekräftigt Pesl: "Das hätte auf großen Widerstand stoßen können (...). Denn in Wien liebt man das gar nicht, wenn die Deutschen kommen und uns erklären, wie wir so sind. Aber: Das weiß Grebe ganz genau, und er geht mit einer sehr charmanten Selbstironie an das Ganze ran." Die Inszenierung könnte sogar "der erste richtige Publikumsrenner im Volkstheater der Direktion Kay Voges werden", wenn der Abend etwas kürzer wäre.

"Was der Abend wirklich will oder soll, weiß man am Volkstheater selbst nicht und macht aus der Not eine Tugend. Alles geht," schreibt Cathrin Kahlweit in der SZ (13.01.2022). Trotzdem sei dem "Wiener Volkstheater, das sich hier in der Zuschreibung des Stücks zugleich zum Theater für das Volk deklariert, ist ein wunderbarer Abend gelungen. Komisch, grotesk, schräg, laut, wirr, klug, politisch, dämlich." Die Inszenierung dürfte ein Renner werden, was vor allem dem großartigen Ensemble zu verdanken sei.

Das Grundkonzept der Inszenierung sei simpel, schreibt Margarete Affenzeller im Standard (13.01.2022): "Während auf einer großen Bühne eine kitschige "Sissi"-Tournee-Show abläuft, blickt das Volkstheater-Publikum auf deren Rückseite und nimmt backstage (…) die kritische Perspektive ein." Trotz seiner Durchhänger werde "dieser besonders im ersten Teil pfiffige Abend eine Stütze im Programm des Volkstheaters werden."

"Wie war's? Durchwachsen," schreibt Norbert Mayer und Die Presse (€ | 13.01.2022). "Ein Kaiserschmarrn mit Roter Grütze der anfangs als Schmierenkomödie langweilt, ehe einige Darsteller in Hochform kommen."

Kommentare  
Sissi in Wien: Ohne Ende, mit Musik
Zu einem bunten Strauß aus 99 Szenen haben Rainald Grebe und sein Ensemble ihre Kabarett-Nummern, Anekdoten und Songs zusammengebunden. Bemerkenswert sind dabei vor allem die Songs, die Jens-Karsten Stoll aus oft ungelenken Lyrik-Versuchen der unglücklichen Kaiserin komponierte, die sie zu ihren Lebzeiten nie veröffentlichte. Dank dieser Musical-Nummern, bei denen das Ensemble singt und live von Stoll und seinen Band-Kollegen Simon Frick und Christopher Haritzer, bekommt der Abend phasenweise fast ein wenig Struktur.

Aber sobald ein roter Faden durchschimmert, bricht sich der Nummern-Revue-Charakter Bahn. Hübsche kleine Ideen lösen sich mit Durchhängern ab, der Abend flattert mal hier hin und dorthin. Er hätte das „Kill your darlings“-Prinzip beherzigen und aus der Fülle des Materials eine stringentere Auswahl treffen sollen: Anna Rieser und Christoph Schüchner kündigen in ihrem Intro aus der Balkon-Loge eine siebeneinhalbstündige „Lange Sisi-Nacht“ im Stil einer Radio-Show an. Mehr als einmal an diesem Abend schleicht sich das Gefühl ein, dass die Revue so gar kein Ende zu nehmen scheint, weil nach einer gefühlten Ewigkeit noch nicht mal die Hälfte der vom Inspizienten (Uwe Schmieder, wie Andreas Beck ein langjähriger Weggefährte von Voges aus Dortmunder Tagen) per Einblendung penibel mitgezählten, versprochenen 99 Szenen absolviert sind. In der Kürze läge die Würze dieser kabarettistischen Sisi-Revue.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2022/03/26/ach-sisi-99-szenen-volkstheater-wien-kritik/
Kommentar schreiben