Mit Abgrund

16. Januar 2022. Mit diversen Texten von Ernst Jandl schlägt Claudia Bauer erstmals in Wien, am Volkstheater, auf. "mein sprach sein ein loben", heißt's, und auf geht's in ein rasantes, bildgewaltiges Musiktheater.

Von Theresa Luise Gindlstrasser

Verwilderte Sprechoper: "humanistää!" nach Texten von Ernst Jandl in der Regie von Claudia Bauer am Volkstheater Wien © Nikolaus Ostermann

16. Januar 2022. Die Hände über dem übergroß ausstaffierten Bauch verschränkt, die Stirn in aller denkfaltigste Denkfalten gelegt, demonstriert die Schauspielerin Julia Franz Richter unzweifelhaft: "immer wenn sprechen ich loben den sprach / mein sprach sein ein loben". Ja! Nämlich einen Abend mit diversen Texten von Ernst Jandl hat Claudia Bauer (Erstes Mal Regie in Wien? Erstes Mal Regie in Wien!) da am Volkstheater inszeniert.

Famoser Quatsch

Und Richter gibt, wenn sie "mein schön deutsch sprach" lobpreist, den Universitätsprofessor aus "die Humanisten", einem 1976 entstandenen Einakter. Den Konversationspartner, einen Künstler, spielt Elias Eilinghoff und schüttelt das Perückenhaar ausgesucht nebenher aus dem Gesicht. Was die Zwei da miteinander aufführen – sich eitel streiten, sich jovial versöhnen, sich geschäftig für Vaterland und Muttersprach verbrüdern – ist famoser Quatsch. Anders als im Original stellt Bauer den beiden Kapazundern keine schwangere Frau mit Schwangerschaftsabbruchsgesuch gegenüber, sondern lässt Hasti Molavian ungerührt eine Arie verbreiten. So oder so sind Professor und Künstler am Ende hin und unterscheiden sich nicht von dem sich von ihnen unterscheiden wollenden Nazi.

humanistää2 Bettina Lieder Samouil Stoyanov Nikolaus Ostermann uAustauschbare Jandls und Mayröckers: Bettina Lieder und Samouil Stoyanov in Kostümen von Andreas Auerbach © Nikolaus Ostermann

Mit "humanistää!", dem Schlachtruf der "Humanisten" betitelt, ist's jedoch ein anderer Text, der den Theaterabend strukturiert: In "Aus der Fremde", 1978 entstanden, 1980 mit dem Mülheimer Dramatikpreis ausgezeichnet, schreibt ein Schriftsteller-Er (autofiktional Jandl) seinen komplizierten Schreibprozess und seine komplizierte Beziehung zu einem Schriftstellerinnen-Sie (Friederike Mayröcker) auf. Aber nicht einfach so – betont auch der Text selbst – sondern dreifach gekünstelt in der Form, nämlich in Strophen organisiert, durchgängig im Konjunktiv verfasst und mit Figuren, die von sich selbst in der dritten Person sprechen. Und vielfach gekünstelt funktioniert auch Bauers Inszenierung.

Bildgewaltiges Musiktheater

Patricia Talackos Matrjoschka-Bühne wiederholt im großen Raum was zunächst als Zimmerchen an der Rampe eine Holzvertäfelung und zwei Seitentüren umfasst. Andreas Auerbachs Kostüme unterteilen das achtköpfige Ensemble in austauschbare Jandls und Mayröckers. Die zudem Masken tragen und einander im Spiel abwechseln. Wobei sich zum Beispiel ein Pärchen in überspannten (in der musikalischen Komposition von Peer Baierlein noch überzeichneten) Bewegungen beim Abendessen ergeht, während ein anderes von der Seite den Text ins Mikrophon intoniert. Und unterbrochen wird, von der Nummerierung der Strophen. Der Rhythmus der Sätze (Jera H. Petriček dirigiert die zwei Musiker und das chorische Sprechen) drängt gleichauf mit dem Inhalt ans Ohr – Sprache als Klang-Ding.

humanistää3 Nick Romeo Reimann Uwe Rohbeck Nikolaus Ostermann uKomisch, brutal und voll ist's auf der von Patricia Talacko gestalteten Bühne im Volkstheater Wien © Nikolaus Ostermann

Vom selbstreflexiven "Aus der Fremde" unternimmt der Abend Ausflüge zu anderen Texten. Ist zwischen Schriftsteller-Er und Schriftstellerinnen-Sie vom Reisen die Rede, dann wird zum Beispiel lauschig "Calypso" getanzt und gesungen: "ich was not yet / in brasilien / nach brasilien / wulld ich laik du go". Ihre Bedürfnisse nach Nähe, Distanz und je eigenem Schreiben zu organisieren, mühen sich die Pärchen, schrauben sich auf der Bühne in komische Brutalität, mitunter in schrille Unterwürfigkeit hinein. Wer ist wem Muse? Wer ist produktiver? Die Sehnsucht nach Unsterblichkeit – "auch dass sie hundertfünfzig jahre zu leben die absicht habe" sagt eine Mayröcker, in Echt verstorben 2021 – zumindest in den eigenen Werken, zumindest in der Arbeit an der Sprache, lauert als existenzieller Abgrund mitten in der Figurenpsychologie-Verweigerung.

Beeindruckend beklemmend

Und wird umso abgründiger, wenn Samouil Stoyanov ausgiebig aus "Deutsches Gedicht" rezitiert. 1958 entstanden, changiert der Text von Kinderblick auf Nationalsozialismus zu einem Erwachsenenblick auf kaputte Sprache und von Täterperspektive zu Opferperspektive. Stoyanov steht allein in einem Lichtkorridor und spielt sich selbst mit zig Stimmlagen und Stimmungsbrüchen an die Wand. So very beeindruckend beklemmend. Von wegen "mein schön deutsch sprach". Von wegen Unsterblichkeit der Werke: "unsere taten mögen vergessen sein". Jandls Arbeit an der Sprache als ein "Nie wieder" ernst und als einen unmöglichen Neuanfang komisch zu nehmen – das gelingt diesem Theaterabend und das ist ganz schön schön.

 

humanistää! eine abschaffung der sparten
nach Ernst Jandl
Regie: Claudia Bauer, Bühne: Patricia Talacko, Kostüm: Andreas Auerbach, Komposition und musikalische Leitung: Peer Baierlein, Lightdesign: Paul Grilj, Sounddesign: Sebastian Hartl, Dramaturgie: Matthias Seier, Übertitel: Johanna Metz, Musiker: Igor Gross, Lukas Lauermann, Dirigentin: Jera H. Petriček, Live Kamera: Thomas Barcal.
Mit: Elias Eilinghoff, Evi Kehrstephan, Bettina Lieder, Hasti Molavian, Nick Romeo Reimann, Julia Franz Richter, Uwe Rohbeck, Samouil Stoyanov.
Premiere am 15. Januar 2022
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.volkstheater.at

 

Kritikenrundschau

"Elias Eilinghoff, erst in diesem Herbst vom Münchner Residenztheater nach Wien übersiedelt, brilliert im Einakter (...) neben Julia Franz Richter in der Rolle des gleichermaßen ausgezeichneten Historikers", schreibt Margarete Affenzeller im Standard (16.01.2022). Wie sehr Sprache und Sprechen auch Körpergeburten seien, zeige Claudia Bauer in ihrer Volkstheater-Inszenierung, die eingeschworene Jandl-Fans mit Komödienfreunden im Allgemeinen vereinen könnte.

"Claudia Bauer und Bühnenbildnerin Patricia Talacki gelang eine hinreißende, exakte Umsetzung", schreibt Thomas Trenkler im Kurier (17.01.2022). Aus dem hochmotivierten Ensemble steche Samouil Stoyanov heraus. Er zeige: "Es braucht eigentlich gat kein Klimbim."

"Theater, das derart elektrisiert und zu so langem Jubel hinreißt, ist rar", schreibt Ute Baumhackl in der Kleine Zeitung (17.01.2022). Claudia Bauer packe in ihrer ersten Wiener Arbeit eine barocke Fülle an Regieeinfällen, die man für effekthascherisch halten könnte, "die aber den Blick auf Jandls Text keine Sekunde verstellen." 

Anlässlich des Gastspiels beim Berliner Theatertreffen im Mai 2022 schreibt Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (13.5.2022): "Das Ensemble nimmt die Nummern sportlich und spielt sie mit Lust und Freude aus, manchmal allzu gründlich, allerdings wiederum nicht so gründlich wie bei Herbert Fritsch, dessen Sinnlosigkeitsakrobaten Pate stehen, aber nicht erreicht werden. Dennoch ein befreiender Abend, der einen in einer für das Theater schweren Zeit an dessen unverbrauchte Gründe erinnert."

 

 

Kommentare  
humanistää!, Wien: Wundervolle Sprache
Toller Abend raucht durch mit wundervoller sprache.
Mehr gibt es nicht zu sagen
humanistää!, Wien: Zauberwerk
Die sowohl körperliche wie sprachliche Entfremdung von Jandls Texten sind großartig gezeichnet und von den DarstellerInnen fabelhaft und sehr poetisch umgesetzt worden.
Schlicht und ergreifend ein Zauberwerk.
humanistää!, Wien: wunderschöner Abend
Das stimme ich zu: wünderschöner Abend
humanistää!, Wien: Präzision
Besonders schön ist der „Calypso“-Tanz zum Refrain: „ich was not yet / in brasilien / nach brasilien / wulld ich laik du go“. In dieser Zeile wird deutlich, was Claudia Bauer und ihr Ensemble an diesem Abend bieten: höheren, sprachverliebten Blödsinn mit wunderbar choreographierten Verrenkungen.

Zu loben ist vor allem die Präzision mit der dieses hervorragende Ensemble unterhält, das sich vor allem aus Spieler*innen zusammensetzt, die mit Kay Voges aus Dortmund kamen oder von den drei wichtigsten Münchner Theater nach Österreich zogen bzw. zurückkehrten. Ein kleiner Wermutstropfen an diesem vom Wiener Publikum bejubelten und ansonsten so gut getimten Abend ist nur, dass er eine halbe Stunde zu lang ist.

Hier unterschied sich Claudia Bauers „humanistää!“ auch von ihrem ästhetischen Vorbild: in ihrer Lust an Körperkomik und Sprachakrobatik tritt diese Inszenierung deutlich in die Fußstapfen von Herbert Fritsch, der mit seinen Volksbühnen-Dada-Experimenten „murmel murmel murmel“, „der die mann“ oder „Pfusch“ jahrelang ein Theatertreffen-Abo hatte, dem turbulenten Wahnsinn stets nach 90, maximal 100 Minuten ein Ende setzte, nun aber etwas aus der Mode gekommen ist. In diese Lücke springt Bauer beherzt hinein, auch sie fast schon ein Stammgast des Theatertreffens. Die feinziselierte Sprachakrobatik und Körperkomik kannte man bisher von ihr nicht, ihre Arbeiten waren meist aus deutlich gröberem Holz geschnitzt, allen voran ihre platte Tartüffe-Verulkung aus Basel im 2019er Jahrgang des Theatertreffens.

Bemerkenswert an diesem Abend ist also nicht, dass er dem Theaterpublikum neue Ästhetiken und Perspektiven bieten würde. Vielmehr handelt es sich um eine bewährte Ästhetik, die hier virtuos auf die österreichischen Sprachspieler*innen Jandl/Mayröcker adaptiert wurde. Ebenfalls handelt es sich um einen bereits etablierten Slot im tt-Tableau, den statt Altmeister Fritsch diesmal eine bekannte, nur auf dieser, „seiner“ Stamm-Position ungewohnten Regisseurin besetzt. Auch in Berlin beim Theatertreffen wird dieser handwerklich sehr gut gemachte „famose Quatsch“ (wie Theresa Luise Grindlstraßer so treffend schrieb) seine Fans finden.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2022/03/27/humanistaa-volkstheater-wien-kritik/
Humanistää!, Wien: Waghalsiger Totentanz
Es ist ein absurder, waghalsiger Totentanz, der sich hier entspinnt, ein privater wie politischer, ein individueller wie universeller, wahnwitzig und entsetzlich, hochkomisch und den Atem raubend. Die Sprache entkommt der Ordnung, flimmert über die Bühne, teilt sich auf in Geschriebenes und gesprochenes, in Text und Metatext, in weitermachen und Scheitern. Und ist in ihrem Versagen ganz Form, wie es auch der Abend in seiner Auflösungsästhetik bleibt. Wie Bauer Kolleg*innen zitiert, tut Jandls Text mit dem Bekannten, dem Alltäglichen wie dem Literarischen, sichtlich und hörbar anders, aber wiedererkennbar in seinem Bankrott. Schön ist an dieser deutsch sprach“ nichts – und alles. Eine Schönheit der Erkenntnis um die Perversität einer den Abgrund verbergen wollenden Schönheit. Die show geht weiter, aber sie dreht sich um ihre eigene Monstrosität. Und vermutet deren Überwindbarkeit im Lachen, in der Lächerlichmachung, im Wissen um die eigene Ironie. Ein Lachen, das Erkenntnis bringt und Befreiung erhoffen lässt. Ein Abend über die Ausweglosigkeit, der Optimismus atmet. Vollkommen unmöglich und doch für fesselnde mehr als zwei Stunden unwiderlegbar real.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/?p=12006&preview=true
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