Volksfeind - Schauspiel Hannover
Buckeln und treten
22. Januar 2022. Bei Stephan Kimmig steht eine Frau im Zentrum von Henrik Ibsens "Volksfeind". Anja Herden bekämpft als Dr. Betty Stockmann eine von Lügen zerrüttete Gesellschaft.
Von Frank G. Kurzhals
22. Januar 2022. Aufatmen in Hannover. Warum? Alles drohte mal wieder verqueer zu werden, in den Üblichkeiten und Konventionen des engagierten Theaterbetriebs mehrwertlos zu versinken. Ein lustiger Rollentausch war wieder zu befürchten, weil bei Regisseur Stephan Kimmig, spätestens seit dessen Inszenierung Platonowa, der Tausch der Geschlechterrollen eben erwartbar ist. Und so war es denn auch bei seinem "Volksfeind".
Aus dem Badearzt Dr. Thomas Stockmann wurde in Hannover Dr. Betty Stockmann, entsprechend verwandelte sich die Ehefrau Kathrine in Uwe. Deren Tochter Petra durfte weiterhin Petra bleiben, aber beide Söhne, Eilif und Morten, verschmolzen zu Paula. Auch der Bürgermeister blieb ein Mann, der als Bruder der Badeärztin natürlich nicht mehr für einen Brüderkonflikt taugte, wie bei Ibsen angelegt.
Nun ist es also ein Geschwisterkonflikt. Die erste Entscheidung zieht ihre Kreise und alle anderen Figuren in den Strudel des 'Bäumchen wechsel dich'-Spiels. Warum der Bürgermeister nicht mehr Peter heißt, sondern Tobias, nun ja. Und weil bei Kimmig also aus einem unerträglich etablierten Patriachat ein Matriachat wird, muss also auch aus dem schwer einflussreichen Unternehmer Morton Kiil eine Martha werden. Aslaksen, der Vorsitzende des Vereins der Hausbesitzer, mutiert ebenfalls vom Er zur Sie.
Hilft das dem Stück, der Geschichte? Die Probleme jedenfalls, die Intrigen, die Gemeinheiten und Grundkonflikte bleiben die gleichen. Nichts Neues unter der Sonne. Auch nicht bei Kimmig. Wären da nicht die Schauspielerinnen und Schauspieler eines Ensembles, das endlich zusammengefunden zu haben scheint. Sie machen aus dem Drama, aus den allgegenwärtigen und für jede Gesellschaft konstitutiven Konflikten zwischen Mehrheit und Minderheit, Wahrheit und Lüge, Freiheit, Recht und Macht ein Glanzstück. Das Aufatmen beginnt, die Geschichte funktioniert.
Katja Haß hat die Bühne zu einer wie Mühlenflügel ausgreifenden Kneippanlage umgestaltet, dekoriert mit Mustern und Farben der 1960er und 1970er Jahre. Gesundheitsförderndes Wassertreten wird hier zur Metapher. Es geht um das gesellschaftliche Treten von oben nach unten, um das Buckeln und um das dabei mühsame Laufen auf der Stelle.
Hier sorgt eine erschütternde Entdeckung für Unruhe. Vordergründig ist es Bettys Entdeckung, dass das Wasser des Kurortes durch die Abwasser der Firma ihrer Schwiegermutter (Irene Kugler) vergiftet wird, tatsächlich aber geht es um die vergiftete Gesellschaft. Vergiftet durch Unaufrichtigkeit, Intrigantentum und Bestechlichkeit. Betty wehrt sich. Jetzt gilt es, schnell zu handeln: Badeanlagen sperren, abreißen, neu bauen mit besseren Filteranlagen.
Anja Herden spielt die Ärztin überzeugend kämpferisch, voller Lust und List, Klarheit und Überzeugungskraft und dann wieder mit Verzweiflung und äußerster Wut. Ihr Kampf ist der einer immer stärker Verzweifelnden, ihr Motor ist die Hoffnung auf eine bessere Gesellschaft. Sie greift ihren Bruder, den von Torben Kessler mit federnder Präzision gespielten Bürgermeister, ganz wundervoll an, versucht das Theaterpublikum, wie von Ibsen vorgesehen, für sich zu gewinnen, indem sie alle auffordert aufzustehen und mit ihr Zorn und Empörung zu teilen. Was allerdings am nicht mitspielenden Publikum, wie üblich, scheitert. Aufgeben wird sie trotzdem nicht.
Kein schlechtes Gewissen
Der Bürgermeister etikettiert sie als Volksfeind und versucht sich damit politisch zu schützen. Unterstützt wird er von Bettys Schwiegermutter, der Fabrikbesitzerin. Sie hat kein schlechtes Gewissen, tritt mal lustvoll peitschenschwingend im ledernen Cowboykostüm auf, mal im eleganten Unternehmerinnen-Outfit und kommentiert das Geschehen in Richtung ihrer Schwiegertochter, wie Schwiegermütter das dem Klischee nach wohl so tun. Auch die Presse läßt sich schnell auf die Seite der Herrschenden ziehen, der Chefradakteur, robust von Kaspar Locher in Szene gesetzt, und sein Mitarbeiter Billing, von Hajo Tuschy meisterhaft wendig und verbogen maniriert dargestellt, sind kein Sand im Getriebe der machtverkrusteten Gesellschaft.
Die Kneipplandschaft gerät auf der Bühne immer wieder drehend in Bewegung, bleibt dabei aber auf dem Fleck und bietet lediglich immer andere und dann doch unveränderliche Perspektiven auf das Drama einer verlorenen Gesellschaft. Niemand kann den Gang der Dinge aufhalten, auch nicht Aslaksen (Amelle Schwerk), die mit ihrer wundervoll peinlichen Weltläufigkeit nichts anderes als ein aalglattes Schlitzohr ist. Unaufhörliches (Wasser-)Treten und gegen Mühlenflügel-Kämpfen. Das ist es, das Leben. Ein Perpetuum Mobile aus Volksfeinen und Volksrettern.
Humor lenkt ab
Wenn das Stück klamaukig wird, was oft passiert, verliert es an Kraft und gewinnt an unterhaltsamem Charme, dann wird der Dolch sehr stumpf, mit dem Ibsen eine verlogene Gesellschaft attackiert. Humor und Witz verkommen, sie sind nicht mehr Erkenntnismittel, sondern sedieren, lenken ab, beruhigen das Theater-Publikum, dem damit ein Ventil zur Entlastung aus der beklemmenden Situation des Kampfes für Gerechtigkeit geboten wird. Betty aber bleibt kämpferisch. Bis zum Schluss. Sie ist die Aufrichtige im Dauerlauf. Ohne zu wissen, wie viele Runden noch zu laufen sind. Aber auch sie läuft auf der Stelle, wie alle anderen. Dann geht das Licht auf der Bühne abrupt aus und das Perpetuum Mobile verschwindet wieder in die Unsichtbarkeit.
Volksfeind
nach Henrik Ibsen
Deutsch von Heiner Gimmler
In einer Fassung von Regie, Ensemble und Dramaturgie.
Regie: Stephan Kimmig; Bühne: Katja Haß, Kostüme: Anja Rabes, Musik: Michael Verhovec, Dramaturgie: Hannes Oppermann.
Mit: Anja Herden, Sebastian Nakajew, Şafak Şengül, Christine Grant, Torben Kessler, Irene Kugler, Kaspar Locher, Hajo Tuschy, Amelle Schwerk.
Dauer: 2 Stunden 30 Minuten, eine Pause
www.staatstheater-hannover.de
Beinahe lullt sie einen ein, diese tragische Gesellschaftskomödie zwischen gekonntem Klamauk und Kästner-Zitat“, schreibt Stefan Gohlisch in der Neuen Presse (24.1.2022). Doch dann komme Doktor Stockmanns großer Auftritt. "Anja Herdens Stimme bricht fast in gerechtem Zorn und Authentizität und nimmt das Publikum in die Pflicht. Umwerfend". Am Ende heftiger Applaus wie lange nicht im Schauspielhaus.
Immer wieder versuchen einige Personen, das Drehen der Räume zu beenden und stemmen sich gegen den (Rund)-Lauf der Welt, schreibt Ronald Meyer-Arlt in der Hannoverschen Allgemeinen (24.1.2022). "Eine verblüffende Bühne" habe Katja Haß für diesen "Volksfeind" gebaut. Anja Herden spiele die Kurärztin, die einen Umweltskandal aufdeckt. Die weibliche Besetzung sei keine große Sache. Aufregend sei die Aktualität des Stoffes. "Stephan Kimmig präpariert die Nähe des Stücks zur Gegenwart besonders heraus." Er "präsentiert eine quälende, groteske, immer leicht überzeichnete 'Don't look up'-Netflix-Welt". Ein Welt, die von Veränderung träume, sich aber nicht verändern kann, und es ist "bitter, aber auch höchst vergnüglich, dem wunderbaren Ensemble zuzusehen".
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"...Sie greift ihren Bruder, den von Torben Kessler mit federnder Präzision gespielten Bürgermeister, ganz wundervoll an, versucht das Theaterpublikum, wie von Ibsen vorgesehen, für sich zu gewinnen, indem sie alle auffordert aufzustehen und mit ihr Zorn und Empörung zu teilen. Was allerdings am nicht mitspielenden Publikum, wie üblich, scheitert..."
Tatsächlich hat es Anja Herden mit ihrer Überzeugungskraft sehr wohl vermocht, das Publikum zur Reaktion zu bewegen: Dreiviertel der Zuschauer standen auf.
Wie kann man das übersehen?
Wir, ich selber und die Mehrheit der Zuseher, sind einem unmittelbaren Impuls gefolgt. Betty Stockman's (Anja Herden's) Verzweiflung über die Zustände, hat die vierte Wand eingerissen und uns mitgerissen! Wir sollten eigentlich alle Wütend werden, natürlich! Dann setzen wir uns ebenso natürlich wieder hin, da wir selbstverständlich spüren, dass dieser Aufruf zur Wut ambivalent zu betrachten ist und wir im Theater sind.
Aber, dass wir uns mit der Verzweiflung einer Figur, einer Schauspielerin für einen Augenblick verbinden wollten(mit allem Wissen um das Stück behaftet), ist ausserordentlich selten und eine Beschwörung der Kraft des Theaters.
Diesen Vorgang, schon beinahe gehässig zu bagatellisieren, wie auch die ganze Kritik, aus meiner Sicht voller Ablehnung gegen den Regisseur strotzt, obschon sich der Kritiker der Qualität der Aufführung nicht ganz entziehen kann, bleibt äusserst befremdlich.
Und könnte man nicht endlich begreifen, dass es beim Gendern gar nicht nur um's Gendern geht, sondern schlicht auch darum, dass tolle Schauspielerinnen endlich auch tolle Rollen spielen sollen. Das also der dramatische Hauptkonflikt auch endlich Frauen gehört.
Nicht wegen politischer Korrektheit oder Gedöns, sondern einfach weil sie sehr gute Schauspielerinnen sind und uns aus den Sitzen reissen!
Eine sehr ungewöhnliche Aufführung, die von unser aller Rat und Mutlosigkeit handelt.
Von unserer eigenen Verzweiflung angesichts der Umstände.