Urfaust - Schleswig-Holsteinisches Landestheater Rendsburg
Faust und seine fiesen Freunde
30. Januar 2022. Erst vor kurzem gab es in Rendsburg schon einmal Goethes "Faust“ zu sehen, als postdramatische Dekonstruktion. Soll Milena Paulovics' "Urfaust"-Inszenierung den Stoff zurück in die Konvention holen? Nein, sie hat einen anderen Plan.
Von Falk Schreiber
30. Januar 2022. Ein alter Gelehrter, der sich auf der Suche nach Erkenntnis dem Teufel verschreibt, ist das schon mal nicht: Simon Keel gibt Goethes Faust am Schleswig-Holsteinischen Landestheater als Mann mittleren Alters, der beruflich irgendwie nicht weiterkommt. "Habe nun, ach, studiert" – dieser Faust steckt im akademischen Mittelbau fest, während immer mehr Kolleg*innen an ihm vorbeiziehen. Wohl hat er Schlag bei Frauen, mit seinem Dreitagebart und seiner wilden Lockenmähne. Aber er zeigt eben auch einen kleinen Bauchansatz, anscheinend lässt Faust sich gehen, hat sich fast aufgegeben. Und weil er dieses Aufgeben nicht endgültig machen möchte, lässt er sich mit ein paar Typen ein, die ihm nicht guttun. Kennt man. Faust, einer von uns.
In Rendsburg ist die Handlung nichts Neues: Erst vor dreieinhalb Jahren zeigte Anna-Elisabeth Frick den "Faust" in den örtlichen Kammerspielen, als postdramatisch durchwirkte Dekonstruktion. Dass sich das Haus jetzt mit "Urfaust" beschäftigt, erweckt den Eindruck, man wolle die Erinnerung an den eigenen Versuch mit experimentellen Formen durch eine möglichst konventionelle Inszenierung vergessen machen. Ist aber gar nicht so: Durch die gesamte Spielzeit des Landestheaters zieht sich eine Goethe-Spur, da passt der "Urfaust" einfach gut rein, und Regisseurin Milena Paulovics versucht auch gar nicht, allzu viel Konvention durchzudrücken. Hatte Frick den Stoff allerdings gnadenlos abstrakt als reine Literatur gelesen, fasst Paulovics ihn ganz konkret: Als Erzählung von zeitgenössischen Figuren, die sich in fatale Abhängigkeiten verstricken.
Gefährliche Clowns
Felix Ströbel und Dennis Habermehl doppeln Mephistopheles, groß und schlaksig der eine, klein und pummelig der andere, ein Clownsduo, aber ein gefährliches: Diese Typen sind nicht dämonisch, sie sind derb und brutal, wenn es drauf ankommt, und dass Faust mit denen rumzieht, zeigt schon, wohin die Reise geht. "Highway to Hell" grölen die drei in einer (eher unnötigen) Gesangseinlage, damit auch klar ist, mit wem man es zu tun hat, aber, klar, das sind eben auch tendenziell unsympathische Machotypen, die lallend durch die Nacht wanken. Auch Margarete ist nicht unbedingt das bei Goethe angelegte Frauenideal absoluter Reinheit, sondern ein vielleicht ein wenig unbedarftes Mädchen, das freilich durchaus spitzzüngig reagieren kann. Die übrigen Rollen werden von Beatrice Boca und Gregor Imkamp im fliegenden Wechsel gespielt, ohne die Möglichkeit, hier große Charakterstudien zu zeigen, wenn auch mit kleinen humoristischen Schlenkern. Diese Geschichte ist also eigentlich ein Drei-bis-Vier-Personen-Drama: Was passiert da, zwischen Margarete, Faust und seinen fiesen Freunden?
Wirklich viel Zeit nimmt sich Paulovics nicht, um dieses Drama auszubuchstabieren. Als Margarete und Faust miteinander schlafen, passiert das im Gegenlicht, im Hintergrund schwelgt sanfter Indiepop, und vom Bühnenrand stöhnt das Mephistopheles-Doppel höhnisch herüber: die Arschlochfreunde, die einem total auf den Geist gehen, von denen man aber einfach nicht loskommt. Ansonsten nimmt sie den rudimentären "Urfaust" und füllt die hier noch vorhandenen Lücken mit Passagen aus dem später entstandenen "Faust I" auf, hat allerdings dennoch nur gut eineinhalb Stunden für das gesamte Stück, was den Abend ein wenig gehetzt wirken lässt – das ist das Manko des ansonsten stimmigen Zugriffs.
Ein Faust wie du und ich
Als Kontrapunkt zur konkreten Figurenzeichnung fungiert Pascale Arndtz' Bühne, die im weitesten Sinne aus einem mannshohen "RAUSCH"-Schriftzug besteht. Tatsächlich rauschhaft ist die Inszenierung zwar gar nicht, aber die Buchstaben lassen sich beklettern, ermöglichen stimmige Auf- und Abgänge, außerdem lässt sich hinter ihnen ordentlich Budenzauber veranstalten, wenn es nötig ist. Dieser "Urfaust" ist nämlich auch durchaus Augenfutter, der bei allem Realismus klarmacht, dass hier nicht alles mit rechten Dingen zugeht.
Im Grunde ist das, was Faust und Margarete verbindet, durchaus handfest: Einmal masturbiert er ins Strumpfband der Angebeteten, dann steht sie halbnackt im Scheinwerferkegel – einen Originalitätspreis bekommt Paulovics nicht für diese Deutung, aber sie liest auch nichts in Goethe hinein, was da nicht steht. Tatsächlich nimmt sie Goethe ernst, indem sie zumindest die Hauptfiguren ins Heute holt: Menschen, die unzufrieden mit ihren Umständen sind, Menschen, die sich gegenseitig nicht guttun, Menschen, wie du und ich. Diese Inszenierung hebt Fricks 2018er-"Faust" nicht auf, sie will nur etwas ganz anderes. Sie ist: eher eine Inszenierung, bei der eine Schulklasse erkennt, wie Goethe Figuren aus der Gegenwart beschrieben hat. Keine schlechte Leistung.
Urfaust
von Johann Wolfgang Goethe, ergänzt um Passagen aus "Faust I"
Regie: Milena Paulovics, Bühne und Kostüme: Pascale Arndtz, Musikalische Einstudierung: Fridtjof Bundel, Dramaturgie: Finja Jens.
Mit: Simon Keel, Felix Ströbel, Dennis Habermehl, Lucie Gieseler, Beatrice Boca, Gregor Imkamp.
Premiere am 29. Januar 2022
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause
www.sh-landestheater.de
Kritikenrundschau
"Diese Inszenierung des 'Urfaust' legt die Latte fürs neue Jahr jedenfalls hoch, sehr hoch", berichtet Frank Hajasch im NDR (30.1.2022). Die "Faust"-Geschichte lasse sich "emotional, spannend und zeitgemäß inszenieren", zeige das Landestheater Rendsburg.
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