New Yorker Nächstenliebe

31. Januar 2022. Der Dramatiker Matthew Lopez hat mit "Das Vermächtnis" (The Inheritance) so ziemlich alles an Preisen abgeräumt, was das US-amerikanische Theater hergibt. Jetzt hat Regisseur Philipp Stölzl das Stück über das Leben einer Gruppe schwuler Männer inszeniert: großformatig mit fast sieben Stunden, Gefühle hochfahrend, im Netflix-Stil mit allen Stärken und Schwächen. 

Von Maximilian Sippenauer

Herbstlaub, New-York-Duseligkeit: "Das Vermächtnis" von Philipp Stölzl inszeniert am Residenztheater München © Sandra Then

31. Januar 2022. Diese Kritik könnte genauso gut mit Blumen beginnen. Mit einer Handvoll schlichter weißer Orchideen vor einer New Yorker Skyline, mit dem kitschigen Blumengesteck eines Traubogens, mit dem präsidial herbstroten Blätterwerk eines jahrhundertealten Ahorns oder natürlich mit dem frugalen Strauß gepflückter Wildblumen, der semantischen Essenz allen Blühens: Leben, das Vergehen heißt. Das ist die Flora im Bühnenbild von "Das Vermächtnis". Und damit weiß man eigentlich schon alles. Es wird schön werden und traurig, lustig und ernst, und mitunter blümerant.

"Das Vermächtnis" beginnt mitten im Leben einer Gruppe schwuler Männer in New York im Jahr 2016. Im Zentrum das Paar Eric Glass und Toby Darling. Beide Anfang 30, kunstaffin (Toby schreibt seinen ersten Roman) und irgendwie Mittelstand (Eric lebt zu 570 Dollar (!) Miete in einer Mehrzimmer-Wohnung in Manhattan). Wir schreiben die Obama-Jahre und Schwulsein scheint in New York so selbstverständlich wie ein Hot-Dog-Stand. Entsprechend lauten die Themen im schwulen Freundeskreis: Karriere, Heirat, Kinder und, wir befinden uns schließlich immer noch in New York: Sex and the City.

Woody-Allen-Zufälle

Eines Tages platzt – durch einen Zufall wie es ihn nur in New York geben kann, einen Woody-Allen-Zufall nämlich: vertauschte Tüten in einem Buchladen – Adam in das Leben dieser Runde. Adam ist jung, schön, ambitioniert und stinkreich: Alle sind begeistert. Eric übernimmt dessen geistiges Mentorat, führt Adam ins MoMA und ins Filmforum. Toby überlässt ihm kurzerhand die Hauptrolle für die Bühnenversion seines Debütromans. Und genauso schnell wie Adam ins Leben von Eric und Toby tritt, wird er zur latenten Gefahr für deren bisher so stabile Beziehung.

Dass die wunderbare Selbstverständlichkeit, mit der diese kleine Liebesgeschichte als Liebesgeschichte und eben nicht als homosexuelle Liebesgeschichte erzählt werden kann, einen Preis hat, zeigt das ältere schwule Pärchen der Geschichte: Henry und Walter. Walter ist ein Freund von Eric und erzählt diesem vom New York der späten Achtziger, als damals die Seuche grassierte und unzählige schwule Männer dem Aids-Virus erlagen. Und er erzählt von einer Gesellschaft, die nicht die Krankheit, sondern die Kranken stigmatisierte. Von Krankenversicherungen etwa, die keine schwulen Männer mehr aufnahmen und natürlich von anti-schwuler Gewalt in all ihren verstörenden Schattierungen.

Walter selbst führte zu dieser Zeit ein Haus außerhalb der City, darin er todkranken, schwulen Männer einen Ort zum würdevollen Sterben bot. Ein Akt der Nächstenliebe, der seine eigene Beziehung jedoch für immer beschädigen sollte. Seine Geschichte erinnert daran, wie jung die Möglichkeit eines selbstbestimmten Lebens für Homosexuelle noch ist und welches Leid dafür überwunden werden musste und sie mahnt, wie zerbrechlich das alles ist. Zur Mitte des Stückes gewinnt zur Überraschung aller Trump die Wahl und wie aus dem Nichts droht ein Rückfall in dunkle Zeiten.

Zwischen Nächsten- und Eigenliebe

Soweit grob Ausgangslage und Personal des auf zwei Theaterabende angelegten Stücks "Das Vermächtnis (The Inheritance)". Geschrieben hat es Matthew Lopez, der damit in den letzten Jahren so ziemlich alles an Preisen abräumte, was es im US-amerikanischen Theater zu gewinnen gibt.

Philipp Stölzl inszeniert das Stück in München dezidiert als New York-Stück. Das zeigt schon die in schwarzen Klinker gefasste Bühne auf der Bühne. Der Klinkerstein ist ja die Chiffre schlechthin für New-York-Arthouse. In diesem Bühnenrahmen also drehen sich die New Yorker Wohnungen und Schauplätze, an denen das Stück spielt.

Das Bühnenbild ist ein Mix aus archetypischer Symbolik (unterschiedliche Sofa-, Liege und Sitzlandschaften oder Blumengestecke spiegeln dabei den jeweiligen sozialen Status wider) und Naturalismus (Der Weißwein schimmert, die Kartoffelsuppe ist angedickt). Ansonsten konzentriert sich alles auf das Spiel des Ensembles, was vor allem den ersten Teil des Abends wie im Flug vergehen lässt.

Vermaechtnis3 805 Sandra Then uWo immer frische Blumen stehen: Thiemo Strutzenberger als Eric, Moritz von Treuenfels als Toby © Sandra Then

Gerade zu Beginn bannen die präzise getimten Dialoge wie die einer Netflix-Serie. Sie beschwören die Magie, dieses US-amerikanische Verständnis vom Erkenntnistreiber Broadway-Theater – seit Jahren gefeiert in Filmen wie "Birdman" oder zuletzt "Marriage Story" – also eines Theaters, das hemmungslos emotionalisiert, indem es den Darstellern erlaubt, sich zu bedeutungsschwangeren Texten die Seele aus dem Leib zu spielen. Boah, wie geht das runter. Ganz anders als in der anstrengenden Welt des good old postdramatic Germany.

Präzise Dialoge, hemmungslos gefühlig

Wenn man schon diese Broadway-Welt betritt, dann muss man hier auch – ganz dem Klischee einer dieser adjektivreichen Broadway-Kritiken entsprechend – den Stab über das Ensemble brechen. Und das agiert wirklich fabelhaft: Thiemo Strutzenberger macht aus der Figur des sanften "Eric Glass" eine charakterliche Panzerglassscheibe. Nur scheinbar fragil, tatsächlich transparent in seinen Anliegen, moralisch kugelsicher. Dessen (Ex-)Lover "Toby Darling" pendelt in Gestalt des Moritz von Treuenfels spektakulär nuanciert zwischen hedonistisch-selbstsüchtigem Arschloch und mitleiderregendem Trauerkloß. Er ist das Kraftwerk des Stücks, der Dieselgenerator, der Krach schlägt in der Disco.

Mit dem jungen Vincent zur Linden (Adam), der mit diesem Stück sein Debüt als festes Ensemblemitglied feiert, hat man sich nicht nur optisch einen eigenen Timothée Chalamet ans Haus geholt – er spielt auch mit demselben Selbstbewusstsein. Genauso wenig fallen Michael Goldberg und Oliver Stokowski ab, das romantische Seniorat des Stückes und gleichzeitig die Verkörperung des älteren Amerika in seinem ewigen Gravitationsfeld zwischen Nächsten- und Eigenliebe. So wie eigentlich niemand abfällt von diesen neun Männern und einer Frau.

Kehrseite des Netflix-Theaters

Zur Illustration dieser Leistung ließe sich noch ein ganzes Fass bunter Adjektive vergießen und da wird wohl, zurecht, noch einige Abende lang stehend applaudiert werden. Ganz wie am Broadway. Womit wir bei der großen Schwäche des Stückes wären, beziehungsweise auch des Abends. Ende des ersten Teiles zeigt sich dessen Malaise zum ersten Mal. Eric betritt da Walters altes Landhaus, das einstige Todesexil für so viele schwule Männer, und zum ersten Mal wird Eric die ganze Tragweite bewusst, welche die Aids-Pandemie für seine Vorläufer-Generation gespielt hat. Er spürt das Joch des Vermächtnisses.

Der Schlüsselmoment, daran wird kein Zweifel gelassen. Eric erfährt ihn als Traumsequenz: Reihenweiße junge Männer in 80er-Jahre Klamotten erscheinen und umarmen ihn, all die Namenlosen nennen ihm ihre Namen. Das ist schon hart an der Grenze zum Kitsch, doch als wäre das allein noch nicht gefühlig genug, trieft ein tränendrüßiger Soundtrack aus dem Off und plötzlich wirkt alles, was da auf der Bühne passiert wie eine große, pathetische Show.

Vermaechtnis2 805 Sandra Then uWohnung oder Hotelzimmer? Philipp Stölzl hat auch hier das Bühnenbild wieder selber entworfen © Sandra Then

Es zeigt sich die klebrige Kehrseite des Netflix-Theaters: das Schmonzettige. Und mehr und mehr bekommt das Stück Züge einer Telenovela. Das ist sehr schade, vor allem, weil Lopez die Fragen, die er im ersten Teil zum Schwul- und Queer-Sein heute aufmacht – etwa, was die Causa Trump nun bedeutet, oder wo eine weiter gefasste LGBTQ+-Community heute steht – weitestgehend unter den Tisch fallen lässt.

Stattdessen lässt er sein Stück in ein Melodram mutieren, auch weil er sich in seinem literarischen Referenzrahmen verirrt. Was bei E. M. Forster, dessen "Howards End" das erzählerische Fundament des Stückes bildet, noch charmant und clever ist – der Autor Forster selbst tritt auf und eruiert mit dem Ensemble die Notwendigkeit des fortwährenden Erzählens für eine Community – wird mehr und mehr zur Farce.

Hollywood-Romcom-Spaß

Das Stück verkitscht zusehends zwischen den Erzählklischees britischer Romantik, Paul-Auster-haften New-York-Platitüden und Hollywood-Romcoms. Natürlich kommt es zum öffentlichen Skandal bei Erics Hochzeit (Der besoffene Toby mahnt seinen Ex, er heirate den Falschen), natürlich widerfährt Toby eine künstlerische Katharsis im Karrierehöhepunkt der Broadway-Premiere ("Kein einziger Satz, den ich geschrieben habe, ist wahr", Schluchz!), natürlich holt alle die tiefe seelische Einsamkeit an Weihnachten ein. Man wünscht sich eine Brechung dieser Tropen, wenn auch nur eine ironische, aber je länger das Stück dauert, umso mehr merkt man: Lopez meint das alles ernst.

Und Regisseur Stölzl? Der scheut zu lange, dieser inhärenten Triefigkeit vor allem im zweiten Teil entgegenzuwirken. Erst im Epilog dann, wenn die Nachgeschichte aller Teilnehmer verhandelt und davon erzählt wird, wie Eric 97-jährig beim Lesen friedlich ins Jenseits entschläft, 14 Kinder ("Wenn schon, denn schon!") und einen Ort der Heilung hinterlassend, hyperaffimiert er den Kitsch und für einen kurzen Moment dekonstruiert sich das Klischee selbst als Klischee und zeigt die dahinter wabernde Angst der Gay-Community vor der Wiederkehr einer neuen Zeit homophober Ächtung. Das wäre ein gutes Ende gewesen. Doch stattdessen folgen zwei weitere, idyllisch inszenierte Versöhnungsszenen unter dem roten Herbstlaub des Ahorns. So entlässt uns Stölzl mit einem schwülstigen Streichquartett für die Augen. Schade.

Trotzdem, der Abend ist, vor allem im ersten Teil, sehr witzig, sehr kurzweilig und wirklich fulminant gespielt. Er ist auch klug und zeigt, warum naturalistisches Theater sehr viel Spaß machen kann. Nur die ganz große menschliche Tiefe und Weisheit, die das Stück so dringlich zu schürfen versucht, die findet es nicht. Am Ende gilt für "Das Vermächtnis" dasselbe wie für die darin omnipräsenten Blumen: Sie sind da nichts wert, wo sie aus Plastik sind.

Das Vermächtnis (The Inheritance)
Teil 1 und Teil 2
von Matthew Lopez
Inszenierung und Bühne: Philipp Stölzl, Kostüme: Kathi Maurer, Komposition: Ingo Ludwig Frenzel, Licht: Gerrit Jurda, Mitarbeit Bühne: Franziska Harm, Dramaturgie: Ewald Palmetshofer.
Mit: Simon Zagermann, Nicola Mastroberadino, Thiemo Strutzenberger, Moritz von Treuenfels, Michael Goldberg, Oliver Stokowski, Vincent zur Linden, Florian Jahr, Vincent Glander, Noah Saavedra, Patrick Bimazubute, Nicole Heesters
Premiere am 30. Januar 2022
Dauer: Teil 1 ca. 3 Stunden, eine Pause // Teil 2 ca. 3 Stunden 30 Minuten, eine Pause

www.residenztheater.de

 

Kritikenrundschau

"Es ist ein so satter Abend, präzise, ausbalanciert, von großer Wahrhaftigkeit, auch mit dem Mut, dick aufzutragen. Und es ist ein Abend der Schauspieler, die das Publikum mit Leichtigkeit durch die zwei Teile tragen oder eher: mitreißen", schreibt Yvonne Poppek von der Süddeutschen Zeitung (Online: 31.1.2022). "Jede Figur strahlt etwas Wahrhaftes aus.“ Man sehe ihnen allen mit Gebanntheit zu, "gefesselt wie beim Serienmarathon, lässt sich von ihren Schicksalen berühren, will wissen wie es weitergeht, ganze sechs Stunden lang".

Lopez liefere ein großes und vor allem auch großartiges Gefühlstheater, so Sven Ricklefs von Bayern 2 (31.1.2022). Philipp Stölz wisse, wie man mit epischem Atem von großen Gefühlen erzähle, ohne je kitschig zu sein, wie man Szenen rhythmisiere und Bilder schaffe. Hochkomisch, tieftraurig und hochgradig politisch, fand der Kritiker den Abend.

Die Premiere brauche reichlich Anlauf, um zum Wesentlichen vorzudringen, schreibt Michael Schleicher vom Münchner Merkur (1.2.2022). "Das aber ist weder Stölzl und schon gar nicht seinem hoch engagierten, punktgenau spielenden Ensemble vorzuwerfen, sondern einzig Lopez." Sein Stück sei sehr amerikanisch gebaut, die Dramaturgie orientierten sich an den Serien der Streamingdienste. "Dialoge, Auftritte, Verweise – alles greift mühelos ineinander. Verloren geht dabei – gerade im ersten Teil – das Eckige, Kantige, denn schon spinnt sich rastlos der Erzählfaden weiter. Die Figuren in ihrer Tiefe auszuloten, kann da kaum gelingen, weil der nächste Witz und noch ein lässiger Spruch bereits warten." Immerhin: In den letzten Stunden entwickle das Drama seine Wucht.

Das sei Theater, das zum Mitleiden und und Mitfühlen einlade, eine Einübung in Empathie, so Christoph Leibold von Deutschlandfunk Kultur (30.1.2022). Es gehe dem Stück und der Inszenierung um die Einfühlung in die Figuren. Der Kritiker sah einen tollen Schauspielerabend, lobt insbesondere Thiemo Strutzenberger und Moritz von Treuenfels.

Mathias Hejny von der Abendzeitung (1.2.2022) bestaunt die Ausstattung. "So viel Naturalismus ist für viele Dramaturgen und Theaterwissenschaftler in deutschen und angrenzenden Landen ein Graus, macht hier aber richtig Spaß." Sensationell gut spiele auch das Ensemble. "Jede Gestalt wird auf ihre ganz eigene Individualität plastisch und trotz der häufigen Mehrfachbesetzungen immer erkennbar."

"Matthew Lopez trägt dick auf – und doch ist 'Das Vermächtnis' ein genialer Broadway-Coup, der eine ernsthafte gesellschaftliche Problematik in ein tragikomisches Well-made Play verwandelt", schreibt Teresa Grenzmann in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (2.2.2022). Dennoch gingen die "komplizierten Themen des Stückes weit über die Geschichten und Fragen homosexueller Identität hinaus". Stölzls deutschsprachige Erstaufführung sei "virtuos" und vermittele in ihren Bildern zwischen "Spiel im Spiel und Realismus". Das ergebe ein "schillernde(s) Angesicht von Spiellust und Pointenfülle", so die Kritikerin.

Kommentare  
Das Vermächtnis, München: sensibler Einblick
Ein überraschend unterhaltsamer Abend, bei 7 Stunden Dauer - mit drei Pausen - Dank des wandelbaren und optisch ansprechenden Bühnenbildes und vor allem Dank der schauspielerischen Leistung des Ensembles. Hier wird ein Einblick in die Gefühlswelt und Seelenlage von Menschen gewährt, die sich in der Realität unter Trump und unter der Bedrohung durch HIV zurechtfinden müssen. Sensibel wird ein weites Feld von Beziehungsversuchen unter den gesellschaftlichen Bedingungen aufgezeigt. Es gibt den reichen Milliardär aber auch den obdachlosen verzweifelten jungen Mann. Republikaner und Liberale. Liebe, Leidenschaft aber auch sexuellen Missbrauch, Gewalt, Drogensucht und materielle Abhängigkeit. Wie im richtigen Leben halt- leider. Sehr sehenswert!
Vermächtnis, München: Poesie, Handwerk, Herzblut
Ein großer, langer und guter Theaterabend. Selten ein so gut aufeinander eingespieltes Ensemble gesehen. Viel gewagt und fast alles gewonnen. Das Stück entwickelt einen Sog, eine Kraft, welche man heute im Theater kaum mehr findet. Keine schnellen Antworten und Schuldzuweisungen. Dafür: Poesie, Sprache, Handwerk, Herzblut. Und ein tolles Publikum. Was für ein Erlebnis! Standing ovations. Hingehen!
Vermächtnis, München: Zutreffende Kritik
Selten eine Kritik gelesen, die so zutreffend ist! Wow!
Vermächtnis, München: Satz für Satz
Ja, sehenswert. Vor allem Eric (Thiemo Strutzenberger) Toby (Moritz Treuenfels) und Leo/Adam (Vincent zur Linden) werden wirklich klasse gespielt! Schon die Textvorlage von Matthew Lopez ist gut gemacht. Man beobachtet, wie sich das Stück quasi durch Gespräche einer Gruppe junge Männer überhaupt entwickelt und andererseits sieht man das Stück ja sofort. Die Inszenierung hält sich dabei im Grunde gut zurück! Nichts wird überinterpretiert oder überdrallert. Ich habe es auf meinem Blog etwas genauer besprochen. www.qooz.de
Vermächtnis, München: Nah am Kitsch
In seinen besten Momenten macht dieser lange Theaterabend sehr anschaulich deutlich, was für eine Katastrophe die AIDS-Krise der 1980er und frühen 1990er Jahre war: fast eine ganze Generation junger Homosexueller starb viel zu früh, ganze Freundeskreise wurden ausgelöscht, Nachgeborene müssen auf Vorbilder und Mentoren verzichten. Plastisch wird auch das New Yorker liberale Establishment gezeichnet, das auf Hillary Clinton setzte und vom Wahlsieg von Donald Trump kalt erwischt wurde. Der schnöselige „Toby Darling“ (Moritz von Treuenfels) ist ein besonders unsympathisches Exemplar dieser Spezies. Seine Beziehung zu Eric (Thiemo Strutzenberger) und seinen Toy-Boys (Vincent zur Linden bei seinem eindrucksvollen Debüt im Resi-Ensemble in einer Doppelrolle als Schauspiel-Jungstar-Beau Adam und depressiver Sexworker Leo) ist ein roter Faden dieser Saga.

In seinen schwächeren Momenten hängt der Abend durch oder balanciert gefährlich nah am Kitsch. Dank des bis in die Nebenrollen mit Vincent Glander, Michael Goldberg, Oliver Stokowski oder Noah Saavedra glänzend besetzten Ensembles stürzt der Abend nie ab. Auch Nicole Heesters, einzige Frau im Männer-Ensemble, sorgt mit ihrem Gastauftritt dafür, dass das Finale zwar in gewohnter West End- oder Broadway-Dramaturgie tränenreich und kathartisch ist, aber vor Indian Summer-Laub und naturalistischer Klinkerbaukulisse auf Kathi Maurers Bühne nicht in einer billigen Schmonzette versinkt.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2022/04/24/das-vermachtnis-residenztheater-munchen/
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