Mord im Konfettiregen

6. Februar 2022. Heinrich Böll schrieb "Die verlorene Ehre der Katharina Blum" angesichts eigener Verleumdungs-Erfahrungen durch die Boulevard-Presse. Regisseurin Yvonne Kespohl nutzt am Pfalztheater viele Video-Großaufnahmen und Party-Stimmung, um den Stoff zu aktualisieren.

Von Katharina Kovalkov

In kippender Karnevals-Stimmung: Jelena Kunz als Katharina Blum, Oliver Burkia als Boulevard-Journalist © Thomas Brenner

Kaiserslautern, 6. Februar 2022. Stellen Sie sich vor, Sie blättern am frühen Morgen durch die Zeitung und finden völlig unerwartet ein Bild von sich darin – mit der Unterschrift "Terroristen-Flittchen". Wie fühlen Sie sich in diesem Moment? Was geht Ihnen durch den Kopf? Was bedeutet das für Ihre Arbeit, Ihre Familie, Ihr Leben? Der 1985 verstorbene Kölner Autor und Literatur-Nobelpreisträger Heinrich Böll bekam es am eigenen Leib zu spüren: Seine Kritik an der damals reißerischen Berichterstattung des Springer-Verlags zum RAF-Terror warf ihn 1972 in die Schlingen der Justiz und Boulevardpresse.

In seiner daraufhin entstandenen Erzählung wird die junge Katharina Blum durch einen One-Night-Stand mit einem mutmaßlichen Straftäter zur unschuldigen Zielscheibe einer sensationsgierigen Presse – allen voran des skrupellosen Journalisten Werner Tötges und seinem Blatt "Die ZEITUNG". Die Parallelen zu der Arbeitsweise eines realen deutschen Boulevard-Blattes, das die Basis für Bölls fiktives Druckerzeugnis "bildete", sind nicht zufällig, "sondern unvermeidlich". In seinem Vorwort nennt der Autor die vier Buchstaben sogar direkt beim Namen.

Schutzlos gegens Viralgehen

Auch Katharina Blum kann ihren Namen nicht schützen – weder vor der journalistischen Verleumdung noch vor der ihrer Mitmenschen. Sie wird als "Mörderbraut" beschimpft und sexuell belästigt. Ihre kranke Mutter kann die Negativschlagzeilen nicht verkraften und stirbt. In ihrer Verzweiflung rächt Blum ihren Rufmord mit der Ermordung des verantwortlichen Journalisten Tötges.

Was Heinrich Böll damals schrieb, tut heute noch weh. Denn obwohl die Geschichte in den 1970ern spielt, wirkt sie gerade jetzt brisanter als je zuvor. Nie war es so einfach, mit Spekulationen und Lügen als Tatsachen und Wahrheiten viral zu gehen, wie heute – Facebook und Co. sei Dank. Und dass sich die Mechanismen für einen solchen medialen Shitstorm in fünfzig Jahren nicht verändert haben, zeigt Bölls "erzählerisch verkleidetes Pamphlet".

Aus Zudringlichkeit wird Zärtlichkeit

Wenn aus "kühl und klug" am Ende "kalt und berechnend" wird, aus "Zudringlichkeit" eine "Zärtlichkeit" und aus einer herkömmlichen Wohnung ein "Konspirationszentrum", dann bekommt man die Bedeutung des Wortes "Lügenpresse" so anschaulich und wuchtig vorgeführt, dass es erschüttert.

VerloreneEhre 3 PfalztheaterThomasBrenner uNachts im Büro: Oliver Burkia in "Die verlorene Ehre der Katharina Blum" © Thomas Brenner

Der Dramatiker John von Düffel bohrt mit seiner Bühnenfassung zur Böll-Vorlage den Finger schon sehr tief in die klaffende Wunde einer von Medien und Meinungsmache überforderten Gesellschaft. Die Inszenierung von Yvonne Kespohl setzt dem Ganzen buchstäblich das Karnevalskrönchen auf und besprenkelt es mit Disco-Lichtern und Konfettiregen. So begegnen einem schon die Charaktere im Prolog – darunter der Staatsanwalt Hach (Martin Schultz-Coulon) und der gewieft-rüpelhafte Hauptkommissar Beizmenne (Robert Flanze) – in heiteren Karnevalskostümen, als sie von der schwierigen Kindheit Blums erzählen, ihrer "schuldigen Scheidung" und ihren "Herrenbesuchen".

In Großaufnahmen

Zwischen bunten Konfetti-Schauern und 70's-Hits wie "Tired of Being Alone" von Al Green, wechselt die lustige Szenerie fließend zu kargen weißen und beklemmenden Verhör-Räumen. Und immer wieder filmen sich die Charaktere gegenseitig mit einer Handkamera, die ihre Gesichter zeitgleich zum Spiel groß auf die Kulissenwände projiziert. Das zielt nah hinein in die Beziehung zwischen Mensch und Medium – und ermöglicht, die Leistung der Akteure in Großaufnahme zu bewundern.

Jelena Kunz in der Rolle der Katharina Blum ist so zurückhaltend wie herausragend, so zerbrechlich wie dominierend und so impulsiv wie kontrolliert. Sie appelliert an das Gewissen der Charaktere – und des Publikums – und stößt doch immer wieder an die Grenzen der Menschlichkeit. Oliver Burkia spielt widerum den Sensationsjournalisten Tötges so beispielhaft gelackt und gewissenlos, dass er wirklich Wut in einem aufkeimen lässt.

VerloreneEhre 2 PfalztheaterThomasBrenner uVom Kaneval in den Verhörraum: Jelena Kunz © Thomas Brenner

Seine Ermordung am Ende sieht man nicht. Man hört sie auch nicht. Sie wird lediglich beschrieben, mit weißen Buchstaben auf einer schwarzen Wand, vor der Katharina Blum noch kurz zuvor die ganze Wahrheit über diesen einen verhängnisvollen Karnevalsabend ausschüttete. Das sorgte für Stille im Saal – mit laut pochenden Fragen: War Tötges Hinrichtung blinde Rache oder Gerechtigkeit? Hat er nicht selbst mit seinem Artikel den Tod von Katharinas Mutter herbeigerufen? Ist er damit nicht auch ein Mörder?

Denn wie sagte Böll selbst in einem Interview von 1974: "Die Gewalt von Worten kann manchmal schlimmer sein als die von Ohrfeigen und Pistolen." Das Ensemble um Yvonne Kespohl wagt sich mutig an Heinrich Bölls zeitloses Stück Zeitgeschichte heran – mit bunten Farben, schrillen Kostümen, aber auch immer mit Hingabe und Respekt für Böll und ein Thema, das weiterhin eines bleiben wird. Aber auch hier gilt: Bilden Sie sich doch einfach Ihre eigene Meinung!

Die verlorene Ehre der Katharina Blum oder Wie Gewalt entsteht und wohin sie führen kann
von Heinrich Böll, Bühnenfassung von John von Düffel
Inszenierung: Yvonne Kespohl, Bühne und Kostüme: Mariam Haas, Lydia Huller, Dramaturgie: Melanie Pollmann Musik: Lukas Brehm, Jonas Pentzek.
Mit: Jelena Kunz, Robert Flanze, Martin Schultz-Coulon, Oliver Burkia, Rainer Furch, Stefan Kiefer, Meike Anna Stock.
Premiere am 5. Februar 2022
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.pfalztheater.de

 

Kritikenrundschau

In ihrem "hektisch-atemlosen Report im Stil des 'Reality TV'", überließen es Regisseurin Yvonne Kespohl und Autor John von Düffel "weitgehend dem Zuschauer, einen Gegenwarts-Bezug herzustellen", schreibt Rainer Dick in der Rheinpfalz (7.2.2022). Das Premierenpublikum verlasse das Theater "im beruhigenden Bewusstsein, weder auf publizistische Stimmungsmache hereinzufallen noch im Umgang mit Medieneine eingleisige Scheuklappen-Wahrnehmung zu kultuvieren". Dick lobt die Schauspieler:innen dafür, wie sie Bölls polemisch karikiertes "Typenkabinett" geben. Und er erwähnt, neben längeren medientheoretischen Ausführungen, das Bühnenbild, das mehrfach effektvoll umgebaut werde, sowie das Kostümbild und dessen "putzige 70er-Jahre-Anleihen wie speckige Lederjacken und ein Oberlippenbart".

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