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Regisseur Hans Neuenfels verstorben

7. Februar 2022. Am gestrigen Sonntagabend ist der Regisseur und Autor Hans Neuenfels verstorben. Das melden Die Zeit und die Süddeutsche Zeitung.

1941 geboren, studierte Neuenfels in Wien und der Folkwang Hochschule in Essen Schauspiel und arbeitete anschließend in Paris ein Jahr lang als Sekretär des surrealistischen Malers Max Ernst. Ab 1964 inszenierte er in Wien am Theater am Naschmarkt, 1965 ging er als Oberspielleiter und Chefdramaturg nach Trier.

"Enfant terrible" des Regietheaters



In Trier und später in Krefeld und Heidelberg sei Neuenfels bald zum "enfant terrible der Regietheaterkunst" geworden, das sich "als Avantgardist gegen die überkommene Klassizität der Dichter" stemmte, so die SZ. Seine "verwundbare Emotionalität und Lust auf Durchdringung seelischer Befunde" seien "oft als Provokation empfunden" worden.

Hans Neuenfels im Jahr 2006 © Oliver Mark (Creative Commons Attribution ShareAlike 4.0 International)1972 ging Hans Neuenfels nach Frankfurt am Main und prägte dort unter der Intendanz von Peter Palitzsch im Mitbestimmungsmodell das Schauspiel mit. 1974 begann er seine Karriere als Opernregisseur mit Verdis "Troubadour" in Nürnberg. Bekannt wurde er in den 70er Jahren durch seine Zusammenarbeit mit dem Musikdirektor und Dirigenten Michael Gielen und dem Dramaturgen Klaus Zehelein am Frankfurter Opernhaus.

Opernskandal des Jahrzehnts

Neuenfels' Inszenierung von Giuseppe Verdis "Aida" 1981 sei "der Opernskandal des Jahrzehnts" gewesen, "bahnbrechend für ein Musiktheater, das die Brisanz der großen Werke freilegte", wie die SZ einen Artikel aus der Wochenzeitung Die Zeit 2013 zitiert. In ihrer eigenen Gratulation anlässlich von Neuenfels’ 80. Geburtstag 2021 schrieb sie: "Die ägyptische Luxusgesellschaft der Siegermacht entpuppt sich, in einer Art fiktiver Spiegelung, als Double des Opernpublikums auf der Bühne. Es war eine latente Publikumsbeschimpfung." Im Tagesspiegel lobte Peter von Becker diese "geniale 'Aida', die wie noch nie zuvor die kolonialistische Gewalt als Widerspruch der kolonialen, Afrika und Europa versöhnen wollenden Feier am Nil zum Vorschein brachte" und die "eine Revolution der Verdi-Interpretation" markiert habe.

Nach einer Warnung des Landeskriminalamts vor islamistisch motivierten Anfeindungen nicht mehr wiederaufgenommen wurde sein 2003 erstmals gezeigter "Idomeneo" an der Deutschen Oper Berlin: In Neuenfels’ Inszenierung krönte König Idomeneo seine Abdankung "rabiat mit den abgeschlagenen Köpfen der großen Religionsgründer – auf vier Stühlen die blutigen Häupter von Poseidon, Jesus, Buddha, Mohammed“, so die SZ.

Erinnerungen im "Bastardbuch"

Von 1986 bis 1990 war Hans Neuenfels Intendant am Theater der Freien Volksbühne in West-Berlin. Er inszenierte bei der Ruhrtriennale, den Salzburger Festspielen und zeigte 2010 Richard Wagners "Lohengrin" bei den Bayreuther Festspielen.

Hans Neuenfels war auch als Schriftsteller und Filmautor tätig. Eigene Libretti entstanden für "Die Schnecke" und eine "Oper mit Klavier". Er schrieb für u.a. Theater heute und Die Zeit. Im Jahr 2011 erschienen seine Memoiren, unter dem Titel "Das Bastardbuch". Mit seiner Frau, der Schauspielerin Elisabeth Trissenaar, hat Hans Neuenfels einen Sohn, den Kameramann Benedict Neuenfels.

(Süddeutsche Zeitung / Die Zeit / Tagesspiegel / nachtkritik.de / eph)

 

Korrektur (7.2.2022, 15:40 Uhr): In der ersten Fassung der Meldung stand, dass Neuenfels' "Idomeneo" nach Drohbriefen und Warnungen des Landeskriminalamtes "vom Spielplan entfernt" worden sei. Richtig ist, dass die Opernintendantin Kirsten Harms nach den LKA-Warnungen 2010 eine zuvor geplante Wiederaufnahme der Inszenierung absagte.

 

Pressestimmen

"Früh bekam er das Etikett 'Enfant terrible' angeklebt, weil er in seinen Inszenierungen die Worte und Töne nicht illustrierte, sondern auf bis dahin nie gesehene Weise den Subtext der Werke mitreflektierte und als 'Archäologie des Unbewussten' auf die Bühne brachte. Was zwischen den Zeilen steht, war für seine metaphorisch verrätselten, tiefenpsychologisch durchdrungenen Interpretationen genauso wichtig wie das, was explizit auf dem Papier zu lesen ist", schreibt Irene Bazinger in der FAZ (8.2.2022). Sie erklärt auch, warum Neuenfels zuletzt vor allem für die Oper arbeitete und nicht mehr als Schauspielregisseur: "(D)er intellektuell beschlagene wie ästhetisch radikale Neuenfels, der sich konsequent allen Moden und Nivellierungstendenzen verweigerte, erschien den meisten Theaterintendanten in seiner schillernden Unzeitgemäßheit als zu fordernd, verwegen und gebildet."

Wolfgang Höbel vom Spiegel (7.2.2022) schreibt: "Höchstwahrscheinlich gibt es so gut wie keinen Bühnenkünstler, der ähnlich innig und ähnlich oft ausgebuht worden ist wie der Regisseur Neuenfels. Immer wieder fanden Kritikerinnen und Kritiker und einzelne Menschen aus dem Publikum seine Inszenierungen skandalös. Die ihm von vielen Medien angedichtete Berufsbezeichnung 'Regie-Provokateur' trug er mit Stolz."
Neuenfels sei jedoch nicht nur "umstritten" genannt worden, er habe selbst gerne, klug und leidenschaftlich gestritten. "Über die Lehren von Sigmund Freud zum Beispiel, über die Bücher von Robert Musil, über die Malerei der Surrealisten."

"Neuenfels’ radikal anmutende Bildsprache entsprang durchaus einer intellektuellen Lust an der Provokation. Doch Selbstzweck, wie bei einigen weniger tiefgründigen Vertretern des 'Regietheaters', war sie für ihn nie", schreibt Christian Wildhagen in der NZZ (7.2.2022). "Er verband in der zugespitzten Ikonografie seiner Inszenierungen vielmehr scharfsinnige Textanalysen mit psychoanalytischem Denken – und mit visuellen Prägungen, die er während der frühen 1960er Jahre als Assistent des Surrealisten Max Ernst empfangen hatte. Eine gewisse Offenheit und poetische Vieldeutigkeit der Interpretation – und damit eben auch die Möglichkeit krasser Fehldeutungen – waren immer Teil des Konzepts."

Wolfgang Schreiber erinnert in der SZ (8.2.2022) an den Skandal um die Berliner Idomeneo-Inszenierung aus dem Jahr 2003: "Neuenfels überhöhte und vertiefte damals die von Mozart heraufbeschworene elegische Quintessenz der Oper, die finale Gott- und Götter-Ratlosigkeit des abdankenden antiken Königs Idomeneo, radikale Religionsskepsis, mit einem unerhörten Schlussbild: Vier erledigte Religionsgründer wurden gnadenlos, wenngleich in Gips, vorgeführt, neben dem Griechengott Poseidon also Jesus, Mohammed und Buddha mit abgeschlagenen Köpfen. Politische Drohbriefe von sich betroffen fühlenden Religionsgemeinschaften mündeten in erregte Debatten plus endlich das Verschwinden der Oper vom Spielplan."

Als "der bekennende Suchtmensch und Triebtäter der Kunst", der "immer auf der Suche nach "bewusstseinserweiternden" Maßnahmen war", tritt Neuenfels im Nachruf von Christine Lemke-Matwey in der Zeit (€ | 9.2.2022) auf. "Ein Skandalon, gibt Neuenfels 2018 zu Protokoll, sollte 'etwas Reinigendes' haben. Ansonsten verzichte er lieber darauf. Dahinter steht auch: dass es Kraft kostet, solchen Reaktionen standzuhalten, sie auszuhalten, ohne zu verbittern oder zum Zyniker zu werden", schreibt Lemke-Matwey. "Neuenfels wollte immer Kunst machen und hat immer Kunst gemacht, bis an den Rand einer gewissen Überästhetisierung." Und zur Person: "Im Umgang war Hans Neuenfels ein Herr, charmant, witzig, ungemein höflich."

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Hans Neuenfels: inspirierte das Regietheater
Eine der ersten Theateraufführungen, die ich nach meiner Übersiedlung nach Deutschland gesehen habe, war Neuenfels' "Marat/Sade" mit Gottfried John und Ulrich Wildgruber als Gastspiel aus Heidelberg im Württembergischen Kunstverein mit dem goldenen Hirsch auf dem Kuppeldach. Sie hat sich unauslöschlich in meinem Gedächtnis eingeprägt. Hans Neuenfels ist einer der bedeutendsten Inspiratoren dessen, was man später für Regietheater hielt, und er hat alle seine Nachkommen beschämt. So gescheit, so konsequent hat keine*r mehr über ein Stück nachgedacht und es szenisch umgesetzt. Das deutschsprachige Theater ist ärmer geworden. Die wenigen Überlebenden verschwinden in der Provinz oder in der Versenkung und überlassen die Bühne den Blendern. Die Maßstäbe, die ein Neuenfels an vorderster Stelle mitgeprägt hat, geraten in Vergessenheit. Ach ist das alles traurig.
Hans Neuenfels: Erinnerung
Der Tod eines Menschen, der mir als Weggenosse erschien, macht mich zunächst immer sprachlos. Ich versuche mit Schreiben dagegen anzugehen, denn die im Schreiben entstehende Erinnerung an Gemeinsames, hier eben die – ganz zwanglose intellektuelle, künstlerische, theatralische - Weggenossenschaft, richtet mich auf und tröstet.
Hans Neuenfels und ich haben gemeinsam einen ersten, großen, professionellen Erfolg gefeiert, mit der DE des englischen Stücks "Zicke Zacke" von Peter Terson 1969 an den Städtischen Bühnen Heidelberg, er als Regisseur, ich als Bühnenverlegerin. Die etwas Skandal umwehte Inszenierung passte genau zu seiner aufrührerischen, irgendwie überschwenglichen Haltung. Und als nach der Premiere im fast leeren Theaterraum ein netter älterer Herr im dunkelblauen Anzug die Hände über dem Kopf zusammenschlug und mit echt entsetzter Stimme klagend rief „Fußball im Theater!“, überfiel auch mich die Überschwenglichkeit, vor Freude, da ich dachte, hab ichs doch richtig gemacht mit dem Stück. Es war das erste, das ich im Verlag Kiepenheuer& Witsch eingebracht hatte. Andere Bühnenverlage hatten es abgelehnt. (Mit Fußball hatte ich übrigens gar nichts im Sinn).
Wir haben uns oft gesehen und gemeinsam gelacht über die seinerzeit hyperautoritären Gepflogenheiten von Intendanten, die, wie er sehr komisch nachmachte, erwarteten, dass man die Mütze abzieht, wenn man sie im Theater grüßt. In Berlin, auf der vornehmen Treppe zu seiner und Elisabeth Trissenaars Wohnung, lange nach Heidelberg, hob er mal ein kleines Stück Papier vom Teppich. Hätte ich früher nicht gemacht, sagte er, aber da war er selbst seit einiger Zeit Intendant. An der Freien Volksbühne, wo viele Stücke aus unserem Programm auf dem Spielplan erschienen. Einmal hat er unseren Übersetzer Frank Günther beauftragt, nein, nahezu flehend und überzeugend gebeten, für ihn Shakespeares selten gespieltes Stück "Antonius und Cleopatra", sofort, zu übersetzen.Der Termin setzte Frank Günther unter wahnsinnigen Zeitdruck, aber er schaffte es. Und das hat mich wieder gerührt: Neuenfels schickte ihm postwendend einen riesigen Blumenstrauß. Er hatte auch etwas besonders Großzügiges und im besten Sinne Manieren, antiautoritäre. Es gäbe noch viel zu erzählen über unsere Weggenossenschaft, die etwas anderes ist als Freundschaft, die mich dennoch unvergesslich verbindet mit Hans Neuenfels.
Ute Nyssen / Theaterverlag Nyssen & Bansemer Köln
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