Die Greifbarkeit von Mensch und Ding

von Esther Boldt

Frankfurt am Main, 20. November 2008. Schon der Titel ist ein starkes Stück und eine Verheißung: "I don't believe in outer space". Wer ist das Ich, das da spricht? Und dann auch noch vom Glauben? Oder besser: Vom Unglauben ans Weltall? Natürlich, es steht ein Teilchenbeschleuniger in Genf, der im September alle Welt in freudige Erregung oder Schrecken versetzte und auf den Titelseiten schwarze Löcher auftauchen ließ, Materiefresser erster Güte. Bevor die Monstermaschine also Ernst macht, widmet sich Forsythe in seiner neuen Arbeit der Materie, der Stofflichkeit.

Es beginnt vor dem Einlass, da steht eine Kulissenwand im Bockenheimer Depot. Mit eingebohrten Löchern, durch die man linsen kann – eine wunderliche Peep-Show, die den Blick in einen Raum voller Pappkameraden öffnet. Pappfiguren der Tänzer, mit clownesk verzogenen Gesichtern, als zerre der Teilchenbeschleuniger an ihnen. Die Bühne liegt dahinter, eine breite Fläche, überall liegen katzenkopfgroße Kugeln aus schwarzem Gaffa-Klebeband. Einmal mehr hat Forsythe mit dem Komponisten Thom Willems zusammengearbeitet, dessen Musik einen Klangkörper ausbildet, der das weite Bockenheimer Depot füllt, ihm tönendes Fleisch auf die hölzernen Rippen gibt.

Es wird viel geredet an diesem Abend. Die wunderbare Performerin Dana Caspersen etwa, die ein geradezu grotesk bewegliches Gesicht hat und der die Worte in die Mimik zu wachsen scheinen, spricht von Materialisierungen und Dematerialisierungen, von Anziehungen und Abstoßungen sowie der stets andauernden Bewegung, die die Dinge eint, ohne sie miteinander zu verbinden.

Hochkomische Urknallserenade

Und der Chor der Tänzer spricht Playback mit, denn Caspersens Stimme kommt vom Band – auch dies ein Materieklau, der dieser Stimme gleichzeitig viele Gesichter verleiht. So werden Seinszustände körperlich durchdekliniert, Kausalitäten aufgehoben, die 16 Tänzer bilden flüchtige Allianzen, feiern auch mal eine kleine Party, und dazu sagt jemand vom Bühnenrand: "Life is just a party, and partys weren't meant to last." Überall blitzen Endlichkeit und Kreatürlichkeit durch, und am besten lässt sich von diesem Abend in Momenten sprechen.

Da spielt David Kern den Urknall, nein, viele Urknälle, indem er die Gaffa-Kugeln durch den Raum feuert, beim Aufprall ertönt ein lauter Schlag: BOOOM! Und Kern gewinnt Lust am Knall, ein verrückter, schlaksiger Schöpfergott, der über die Bühne tänzelt und mit seinen Zeitbomben wirft – oder sich gleich auf sie herabplumsen lässt. RUMMS! Eine hochkomische kleine Urknallserenade.

Ohnehin sind Komik und Schmerz hier eng verwandt, macht der zärtliche Blick auf die Dingwelt Liebe und Materie zu einem untrennbaren Paar: Immer wieder taucht der Songtext von Gloria Gaynors "I will survive" auf – zu Beginn spricht ihn Tilman O'Donnell in eine lange Pappröhre herein, einen Verzerrer und Verstärker: "At first, I was afraid, I was petrified…" In diesem schnarrend-verfremdeten Sprechen der eigentlich so ausgelutschten Liedzeilen entdeckt man die Brutalität des Verlassenwerdens wieder, den ganzen großen Trotz der Behauptung: "I will survive!"

Ein Stück Unfassbarkeit und Überwältigung

Ein anderer Liedtext, den Caspersen spricht, raunt, faucht und schreit, ist Screamin Jay Hawkins' "I put a spell on you". Die schaurig-böse Markierung eines anderen Menschen als Geliebten wider Willen. Und dann wirft sich Cyril Baldy mit tierischem und doch allzu menschlichem Atmen, Wimmern, Glücksglucksen auf Christopher Roman, schnüffelt an seinen Beinen entlang, und beide beginnen einen Zwiegesang des Begehrens, bei dem Baldy – Nase voran! – der Anstürmende, Bedrängende bleibt. Eine schnüffelnde Entdeckung des anderen Körpers, eine mutwillige Be- und Versteigung.

Wenig später schiebt und hebt sich Yasutake Shimaji über den Boden, als rollte sanft eine Bleikugel durch seinen Leib und verlagere seinen Schwerpunkt mal in den linken Zeigefinger, dann ins rechte Schulterblatt, ins Knie. Wie das gesamte Stück voll ist von berückenden, bedrückenden Kippfiguren, leichtfertig und bedrohlich.

"I don't believe in outer space" ist ein Titel wie ein Bekenntnis, das man umgehend Forsythe selbst zuschreiben möchte – hochgradig persönlich wirkt das Stück allemal. Es kriecht in die Knochen und jagt Schauer über den Rücken, es macht sehr glücklich und ebenso elend, ein Stück Unfassbarkeit und Überwältigung. Eine Verführung, die den Blick aufs Diesseits lenkt und das Naheliegende ins Visier nimmt, die Greifbarkeit von Mensch, Ding und Welt. Und die die verstörende Schönheit, Stärke und Fragilität der Materie in der Einmaligkeit entdeckt, in ihrem Sein zum Tode.


I don't believe in outer space
von William Forsythe
Choreografie und Bühne: William Forsythe. Musik: Thom Willems. Sounddesign: Niels Lanz. Mit: Yoko Ando, Cyril Baldy, Sether Balfe, Dana Caspersen, Amancio Gonzalez, David Kern, Fabrice Mazliah, Roberta Mosca, Tilman O'Donnell, Nicole Peisl, Christopher Roman, Jone San Martin, Parvaneh Scharafali, Yasutake Shimaji, Elisabeth Waterhouse, Ander Zabala.

www.theforsythecompany.de

 

Mehr lesen über die Forsythe Company? Wir besprachen Angoloscuro/Camerascura aus Frankfurt und ihre Züricher Produktion The Defenders.

 

Kritikenrundschau

"So viel Vielfalt war schon lang nicht mehr bei William Forsythe", begeistert sich Ruth Fühner im Deutschlandfunk (21.11.). "Und so viel Farben: hell und düster, grell und pastell, komisch und abgrundtief melancholisch." Es sei genial, wie Forsythe unterschiedlichste Atmosphären und Diskurse in ihre Bestandteile zerlege, winzige wieder erkennbare Partikel isolieren und mit seiner originären Tanzsprache kombinieren würde. Für Fühner entsteht auf diesem Weg ein Kosmos, "der immer unverkennbar Forsythe ist, der Horizonte aufreißt, in denen jeder allein ist mit seinen Assoziationen und die trotzdem ihren jeweils eigenen rätselhaften Duft haben." Der Abend hat sie einmal mehr in den Kern von William Forsythes Ästhetik geführt: "die Dezentrierung des Körpers und des Blicks". Konsequenz sei jedoch auch eine "fast achtlose Großzügigkeit", mit der Forsythe seine Einfälle an diesem Abend herschenken würde. "Und immer erhascht man als Zuschauer nur einen Bruchteil des gleichzeitig Geschehenden."

Besonders der "fulminante Auftritt" von Dana Caspersen hat es Dagmar Klein angetan, die für die Gießener Allgemeine (22.11.) schreibt. Caspersen sei mit ihrer klaren Diktion des Englischen schon immer eine wunderbare Geschichtenerzählerin gewesen, steigere sich jetzt aber "in schier unglaubliche Exaltationen".

Als "Figuren im digitalen Auflösungszustand, lächerlich und gruselig zugleich" hat Wiebke Hüster in der Frankfurter Allgemeine Zeitung (22.11.) William Forsythes Tänzer wahrgenommen, die der Choreograf auch diesmal wieder zu einer "Figurenparade jenseits von Gut und Böse", zum "häufig komischen Bühnenschreckensbild der Gegenwart" gruppieren würde. Doch nicht alles an diesem Abend erscheint ihr triftig. Mitunter wirken die Teile so disparat auf sie, dass das Lachen der Zuschauer für sie oft ihre einzige Verbindung zwischen ihnen bleibt. Es ist, lesen wir, die "eines Balanchines würdige Szene wie aus einem so noch nicht gewagten Sommernachtstraum" darunter. Manchmal aber möchte Wiebke Hüster angesichts all der Zitate aus Musik, Film- und Literatur, die ihr um die Ohren fliegen, auch ein "Achtung, Kultursteinschlag!"-Schild aufstellen. Die sich durch die "durchweinten Nächte der verlassenen Cher" "grimassierde" Dana Caspersen kommt bei ihr nicht gut an. Der Rest sei Verwirrung.

Als leichte und bühnenfreundliche "Abfolge von Nummern für ein, zwei oder viele Darsteller" hat Peter Michalzik in der Frankfurter Rundschau (22.11.) den Abend durchaus genossen, der ihm in manchen Momenten jedoch wie eine Revue erschien, "deren Prinzip ja nun mal darin liegt, dass sich die Nummern überbieten". Diese Nummern sehen für Michalzik dann im Verlauf des Abends mehr und mehr "wie Zitate aus, die man nicht entschlüsseln kann", weshalb der Abend dann aus seiner Sicht zunehmend auf eine parodistische Ebene rutscht, ohne dass jedoch das Parodierte klar werden würde. Manchmal findet Michalzik das lustig, gelegentlich sogar heiter. "Etwa zur Hälfte beginnt die eineinhalbstündige Aufführung trotzdem etwas zu schwimmen, als habe sie zwischen Bewegung und Parodie ihre Linie noch nicht ganz gefunden. Ein Tribut, den der Zuschauer aber gern Forsythes schwebender Arbeitsweise zollt." Doch das Ende fügt sich dann wieder für ihn.

"Keine choreographische Supernova" aber "allemal ein entwicklungsfähiges Stück Tanztheater" hat Dorion Weickmann gesehen, der für die Süddeutsche Zeitung (22.11.) im Bockenheimer Depot gewesen ist. Forsythe habe gemeinsam mit seiner Kompanie "ein absurdes Weltraumlabor zusammengerümpelt". Allerdings würde er dort weniger den "interplanetarischen 'outer space'" als "vertraute innerweltliche bis intime Konstellationen" untersuchen. Dabei sieht Weickmann manchen Darsteller schwächeln, manchen gar daran scheitern, "eigene Impulse zu akzentuieren und sich in ein expressives Moment hineinzuschrauben, das die bloße Theaterhuberei hinter sich ließe". Doch grundsätzlich ist "das kinetische Energiefeld der Expedition", wie er findet, "durchaus positiv geladen". Gleich im zweiten Bild sieht er sich das Ensemble in ein fesselndes Fußballspiel wider Willen verheddern und dabei kreisrunde Plastikobjekte kreischend durch den Raum katalputieren. "Ein jeder kämpft hier seinen eigenen Kampf, mit sich selbst wie mit den Dingen. Heiterer und selbstironischer lässt sich weder Forsythes persönliches Steckenpferd, die Bewegungsforschung, noch die Eigenart menschlichen Verhaltens abbilden."

Für Jochen Schmidt, der den Abend für Die Welt (22.11.) bespricht, oszilliert der Abend zwischen Genie und Wahnsinn, Lachen, Weinen und Zähneknirschen, kommt aber nicht wirklich auf den Punkt. Zwar zeige William Forsythe "den Wahnsinn unserer kaputten Zivilisation" und spiele "Pingpong mit dem Chaos". In einer der zentralen Szenen des Stücks beschwöre das Ensemble, vorwiegend verbal "eine große Kreisbewegung, die alles Leben zermahlt und verschwinden lässt". Doch spätestens im Finale sieht Schmidt das Stück im Dunkel versickern. Thom Willems' Musik untermale all das "mit eher sanften, psychedelischen, mit ab und an einen harten Akzent setzenden Klängen, ganz so, als wolle er den Wahnsinn der Szene eher bremsen als anstacheln."

 

Kommentare  
Forsythe Company: bloße Beschreibung der Vorgänge
Tut mir leid, aber diese Kritik erinnert an einen Schüleraufsatz: Zuerst passiert das. Und dann das. Und dann auch noch das... Aber worum geht es eigentlich? Was ist das Thema des Stücks, was sind seine ästhetischen Setzungen? Wie verhält sich der Klang zum Raum und beides zum Körper? (Das sind doch die eigentlichen Grundfragen im Tanz). Welche Stellung nimmt das Stück im Werk Forsythes ein und welche im Gegenwartstanz ganz allgemein? Der letzte Absatz sagt dann noch: "Eine Verführung, die den Blick aufs Diesseits lenkt und die Nahsicht einrückt, die Greifbarkeit von Mensch, Ding und Welt." Aber mit welchen (ästhetischen Mitteln) geschieht denn das? Von einer Kritik erwarte ich mir doch eine Abstrahierung, eine Bündelung vieler Einzelmomente, eine Kontextualisierung. Eine bloße Beschreibung einzelner Vorgänge auf der Bühne kann jeder liefern ...
Forsythe Company: Beschreibung ist gerade die Qualität
Liebe(r) J.B.,
Wie lesen Sie denn? Viel von dem, was sie vermissen, steht doch drin in dem Text, der mich in keiner Weise an einen Schüleraufsatz erinnert (noch nicht mal das von Ihnen angeprangerte chronologische Entlanghangeln - übrigens nicht per se verwerflich - kann ich erkennen.).
Worum es geht? Die Kritik macht da mehrere (tastende) Angebote (wiewohl mehr als Tasten hier vielleicht gar nicht möglich ist), eins davon zitieren Sie selbst.
Die ästhetischen Mittel des Tanzes zu beschreiben, ist extrem schwer (was jeder weiß, der mal versucht hat, jemandem im Gespräch einen Tanzabend zu erzählen, den dieser nicht gesehen hat...). Eine eigentlich körperliche Sprache in Worte fassen. Ich finde die Kritik in dieser Hinsicht gelungen, weil sie einem präzise Bilder vieler Einzelmomente vor die Augen setzt.
Man liest da von gewissen bekannten Forsythe-Elementen (verzerrte Gesichter, Schwerpunkt-Verlagerungen, Umgang mit Sprache/menschlichen Lauten) und gewinnt gleichzeitig den Eindruck, er arbeite viel konkreter, weniger Ballett-abstrakt, zu einem Thema (schwarze Löcher, Urknall, Materie, Sinnlichkeit/Begehren/Liebe) als früher. Insofern kann man es für sich schon ungefähr einordnen, oder?
Und zum Glück wirft dieser Text nicht wie viel zu viele Tanzkritiken bloß mit abstrakten Einordnungen um sich.
Schönen Gruß, Robert
Forsythe Company – Antwort der Kritikerin
Vielen Dank, liebe/r J.B., denn mit Ihrem Kommentar stehen wir mitten in der Debatte, was Kritik ist, was sie leisten soll und kann. Seien Sie versichert, dass es eine Entscheidung war, die journalistischen Leistungen, die Sie von einer Kritik fordern – Kontextualisierung etc. – nicht zu bringen. „Die Beziehung zwischen Körper und Raum ist in Forsythes Arbeiten spätestens seit ‚Impressing the Czar’, das 1988 in Frankfurt uraufgeführt und jüngst vom Königlichen Ballett Flandern wieder einstudiert wurde, auch in seinen zahlreichen Installationen BLABLABLA“.
Metaebenen machen sich mitunter ziemlich lächerlich neben dem Gewaltakt, den Kunst darstellen, ja der sie sein kann – und es in diesem Fall definitiv ist. Ich habe entschieden, gar nicht erst zu behaupten, ich könnte mich dessen, was in diesen anderthalb Stunden (auch mit mir) geschah, sprachlich bemächtigen. Die Vertextung und Überschreibung vierdimensionaler Ereignisse, die doch live, bunt, körperlich, hier und jetzt passierten, ist eine Unmöglichkeit, mit der die Theaterkritik täglich neue Umgangsweisen einübt und die sie zu ihrem Ausgangspunkt, der Inszenierung, in ein reizvolles Spannungsverhältnis setzt. Ich habe entschieden, mich affirmativ dazu zu verhalten, die allzu große Nähe, die das Stück herstellt, auch in meiner Kritik zuzulassen, mich nicht primär auf den sicheren Boden des Urteilens, historischen Einordnens etc. zu flüchten, was mir – wie gesagt – hier einigermaßen albern vorgekommen wäre. Denn es wäre eine infame Behauptung, zu tun, als könnte ich mich dem Übergriff entziehen, der Überwältigung Herr werden, die „I don’t believe in outer space“ darstellt, da es brutal, zärtlich und ziemlich präzise vom Sein zum Tode handelt und Urängste wie die Sterblichkeit, den Verlust und das Verlassenwerden anspielt. Dieser Schrecken und diese Verzauberung sind nicht abstrahierbar, sie kühl analysieren würde auch den Leser an der Nase herumführen. Kritik ist notwendig immer ein Übersetzungsprozess, ein Medienwechsel, der es umgehend mit dem Problem zu tun bekommt, die Welt der inneren Erfahrung sprachlich zu fassen. Ästhetische Erfahrungen ermöglichen – wie kaum ein anderes gesellschaftliches Feld – Grenzerfahrungen, die nicht kontrollierbar sind, zufällig und deshalb stets auch gewaltsam und gefährlich. Dieser Zweigesichtigkeit der Kunst als Schöne und Schreckliche ist doch der Grund, ins Theater zu gehen! Dass ich mit meiner Kritik vielleicht zur Überläuferin geworden bin, will ich gar nicht bestreiten: „Die Ambivalenz der Subjektkonstitution zeigt sich an solchen Fällen deutlich: Überläufer verfügen nicht mehr über eine mit Macht, Willenskraft und Urteilsvermögen ausgestattete Subjektivität, und die einseitigen, von einer streng rationalen Logik geprägten Strategen, werden zu Deserteuren…“ (Gesa Ziemer).

Es grüßt: esther boldt
Forsythe Company – Kritik soll auch Metaebenen liefern
Liebe Esther Boldt,
vielen Dank für die ausführliche Antwort, die den Ansatz Ihrer Kritik auch besser verstehbar macht. In vielen Punkten bin ich durchaus Ihrer Meinung. Nur gibt es da auch ein großes "Aber" von meiner Seite ...
Natürlich machen sich Metaebenen manchmal peinlich neben dem Erlebnis der Kunst. Aber meine Schlussfolgerung war eine andere: Die tatsächlichen Akte, Erlebnisse und Empfindungen beim Sehen eines Theater- oder Tanzabends lassen sich ohnehin nur schwer mit Worten vermitteln. Insofern stehe ich den Beschreibungen Ihrer Kritik frontal gegenüber, da ich die zu Grunde liegende Aufführung nicht kenne. Es sind dann eben Versuche, Tanz in Beschreibung mittels Worten zu verwandeln, die für mich selbst manchmal peinlich wird (Beschreibung von Tanz ist eben kaum möglich). Die tatsächliche Szene kann ich mir danach trotzdem schwer vorstellen (und wenn, kenne ich den Kontext des Stückes nicht), geschweige denn Ihre Empfindungen beim Sehen der Szene.
Aber mein Zweifel an dieser Form der Kritik geht tiefer: Vielleicht sind wir wirklich unterschiedlicher Meinung, was Kritik soll. Ich habe bei vielen Kritiken den Eindruck, das beschriebene Stück und vor allem die Inszenierung entstehe im luftfreien Raum. Aber es gibt eben Bezugssysteme: Andere KünstlerInnen, frühere Inszenierungen, kunstgeschichtliche Entwicklungen usw... Man muss ja bei der Beschreibung dieser Kontexte nicht in einen so trockenen, zugegebenermaßen etwas peinlichen Tonfall verfallen, wie Sie ihn oben ironisieren. Ich bin der Meinung, das kann auch lustvoll und leserfreundlich geschehen.
Ich glaube nur, man verliert sehr viel, wenn man diese Ebene bewusst außen vor lässt.
Sie schreiben: "Metaebenen machen sich mitunter ziemlich lächerlich neben dem Gewaltakt, den Kunst darstellen, ja der sie sein kann(...)". Nur vermengen Sie da zwei Ebenen, die meiner Meinung nach nichts miteinander zu tun haben. Der "Gewaltakt" kann ohnehin nicht durch die Kritik ersetzt werden - sondern nur in der Kunst erlebt.
Aber was soll nun Kritik: Die Metaebene zu diesem "Gewaltakt" liefern (und diese Metaebene gibt es immer), oder versuchen, den "Gewaltakt" durch Szenenbeschreibung fassbar zu machen. Ich votiere hier für Ersteres ...
Liebe Grüße
Jürgen Bauer
Forsythe Company: Nachtkritiken müssen manchmal ...
Lieber Jürgen Bauer,

einerseits: Natürlich Ersteres, natürlich kommt Kritik als eine Form des Journalismus nicht ohne Metaebenen aus (von denen ist meine Kritik m.E. auch nicht frei). Andererseits gibt es kein universal anwendbares Erfolgsrezept, das für verschiedene Stücke Gültigkeit hätte. Gerade in der Nachtkritik, wo sehr wenig Zeit ist, einen Abstand zu den Inszenierungen zu bekommen (was dieses Format ja auch so interessant macht), ist Opportunismus manchmal angesagt und kann, wie ich finde, schon sehr viel über einen Abend erzählen.

viele grüße: esther boldt
Forsythe Company: Ist der Rest Schweigen?
Der Rest ist Schweigen, oder was?
William Forsythe: issues and obstacles
esther, I think you did a great job with a difficult task.
I thought your response to the commentary was particularly interesting as it addressed and illuminated some of the most fundamental issues and obstacles that critics face. Nice work..!
William Forsythe
Kommentar schreiben