Momo trifft Metaverse

12. Februar 2022. Der Anspruch, Michael Endes Erwachsenen-Märchen "Momo" auf der Bühne nachzuerzählen, liegt Alexander Giesche fern. Sein "Visual Poem" ist eine Reflexion über die Zeit – mit dramaturgischer Effizienzverweigerung, bemerkenswerten Gadgets und ausdrücklich ergebnisoffenem Spiel.

Von Mirja Gabathuler

"Momo" in der Regie von Alexander Giesche im Schiffbau des Schauspielhauses Zürich © Eike Walkenhorst

12. Februar 2022. Es kündigt sich in feinen Zwischentönen an: Das Ende, mit dem etwas Neues beginnen soll. Nur langsam sickern die Störgeräusche ins Bewusstsein, ein technisches Fiepen, Flimmern und Knirschen, schließlich ein gut hörbarer Klingelton, der das Konzentrationsspiel auf der Bühne unterbricht.

"1…, 2…, 3…" – bei jeder doppelt genannten Zahl muss das Durchzählen von vorne beginnen. Dreieinhalb Schauspieler:innen waren gerade noch in dieses Spiel vertieft. Dreieinhalb, denn da stehen Karin Pfammatter, Maximilian Reichert, Thomas Wodianka – und ein dreibeiniges Stativ, auf dem ein Tablet festgeschraubt ist. Auf dem Screen: das Gesicht von Thomas Hauser, der an diesem Abend konsequent aus der Ferne zugeschaltet ist. Körperlich abwesend, aber in Echtzeit präsent. Ein effektvoller Einfall, der auch gleich anzeigt, was diese Inszenierung ausloten will: inwiefern der Verlagerung unseres Alltags ins Digitale etwas Utopisches innewohnt – und wo die Dystopie beginnt.

Präzise dosierte Zuversicht

Im Schiffbau des Zürcher Schauspielhauses bringt Alexander Giesche "Momo" auf die Bühne, Michael Endes Kinderbuch für Erwachsene, in seinem Wachstums-Pessimismus daueraktuell. Diesem Märchen entleiht Giesche für sein "Visual Poem", wie er den Abend im Untertitel nennt, Figuren und Motive; ohne Anspruch, irgendetwas stringent zu erzählen. Nach Der Mensch erscheint im Holozän und Afterhour zeichnet der Regisseur erneut Endzeit-Bilder, durch die präzise dosiert die Zuversicht schimmert.

Das Bühnenbild bringt die zentralen Themen des Abends zusammen: Zeit (ein stetig sich drehender "Lauf-Ring" im Boden) und Technologie (ein übergroßer Vertical Screen). "Menschen sind überflüssig", sagen die grauen Männer, die den Menschen ihre Zeit rauben, und es ist unschwer, ihr Vorhaben als Parabel auf Technologieträume und emanzipatorische Versprechen des Silicon Valley zu verstehen. In diese Richtung deuten zahlreiche Elemente. Eine Akteurin trägt "Matrix"-Pulli, einer eine VR-Brille, keiner raucht, alle vapen. Das auffälligste Gadget ist allerdings nicht die E-Zigarette, sondern der Roboter-Hund Cassiopeia. Dieser trippelt ungelenk über die Bühne, navigiert aber virtuos durch fiktive Stadtbilder. Solche virtuellen Erlebniswelten, vernetzten und körperlosen Existenzen schlagen die Tech-Firmen als "besseres Ende" vor. Momo meets Metaverse.

Momo2 Eike Walkenhorst uMenschen sind überflüssig im Gummireifengebirge © Eike Walkenhorst

Das Ensemble verortet, ganz mit Momo, den Ausweg woanders: im freien und vertieften (Schau-)Spiel, im Ergebnisoffenen, im unbeschwerten Zusammensein. Trotz sich anbahnender Katastrophen – mal zieht etwa eine Klima-Demo über den Screen – dehnen sich im Stück von Zeitdruck befreite Szenen immer wieder aus: Das erwähnte Durchzähl-Spiel. Eine Runde Ping-Pong. Ein Brunch am selben, nun weiß gedeckten Tisch. Es riecht bis in den Zuschauerraum nach Pancakes und Speck, das Schauspiel-Quartett smalltalkt ohne Skript. Das ruft bei der Zuschauerin nicht nur ein leichtes Magenknurren hervor, sondern auch eine Sehnsucht nach selbstverständlicher Nähe, die man in den letzten Jahren manchmal vermisste. "Die Proben zu Momo waren auch ein Versuch, jetzt und hier eine gute Zeit miteinander zu haben", heißt es im Programmheft. Man glaubt es sofort – nicht nur, aber besonders in diesem wunderbaren Verschnauf-Moment.

Rauchringe aus der Nebelmaschine 

Im letzten Drittel tritt die Zeit noch einmal in den Ausstand. Bis hierher hat sich der Raum gefühlt mehr und mehr vergrößert: durch ein unglaublich präzises Sounddesign, über die Wände huschendes Scheinwerferlicht, eine von Verdunkelungsvorhängen befreite Fensterfront. Nun öffnet sich auch noch die Seitentür zur Straße. Während ein Song nach dem anderen aus den Lautsprechern bebt – Electro, Jazz, Nirvana –, tragen die Schauspieler Pneus herein und schichten sie in der Mitte der Bühne auf. Aus einer Nebelmaschine schießen derweil riesige Rauchringe ins Publikum. Eine gefühlte halbe Stunde wächst und wächst der Gummireifen-Turm – während die Zuschauerin sich in Geduld üben muss. Die repetitive Tätigkeit wirkt emsig, doch wenig passiert – die Szene erscheint wie eine dramaturgische Effizienzverweigerung. Will man uns eine Art von Entschleunigung aufzwingen? Kurz vor dem Trance-Zustand löst sie sich abrupt auf.

Ausbleibendes Happy End

Zeit fürs Happy End – doch das bleibt aus. Zwar erzählt das Schauspieler-Quartett vom Sieg über die Zeiträuber, doch abgewandt im Halbdunkeln, während der Robodog zwischen virtuellen Rauchsäulen umherirrt und der Pneu-Berg die Assoziation hervorruft, dass die Welt jederzeit zu brennen beginnt. Ein apokalyptisches Bild. "The end, where something new begins", steht darüber.

Noch einmal setzt Musik ein. Kitschiger Girlpop: "Through the eyes of a child". Es ist etwas zu dick aufgetragen als Abschluss einer Inszenierung, die gerade in ihren subtilen Einfällen und in ihrer atmosphärischen Dichte wunderschön war. Und einem dann doch einiges abverlangte. "100% Auslastung", warnte das Programm. Es sollte zu einem Teil recht behalten.

 

Momo
nach Michael Ende
Regie: Alexander Giesche, Bühne: Alexander Giesche und Anka Bernstetter, Kostüme: Felix Siwiński, Dramaturgie: Joshua Wicke, Komposition und Sounddesign: Ludwig Abraham, Licht: Christoph Kunz, Video: Luis August Krawen, Robotik: Max Kriegender.
Mit: Thomas Hauser, Karin Pfammatter, Maximilian Reichert, Thomas Wodianka.
Premiere: 11. Februar 2022
Dauer: 2 Stunden 40 Minuten, keine Pause

www.schauspielhaus.ch

  

Kritikenrundschau

Eine "poetische, berührende Verschnaufpause" schreibt Christiane Lutz in der SZ (13.02.2022). Giesche schaffe poetische Bilder für Texte, die sich betrachten lassen wie Kunstwerke. Er webe einen melancholischen Theaterabend, der sich durch mehrere Ausschweifungen auch gegen die Erwartungen an einen Theaterabend auflehne.  

Der "kluge Bilderdichter Alexander Giesche" habe sich den Roman völlig frei anverwandelt, schreibt Alexandra Kedves vom Tagesanzeiger (12.2.2022). "Giesches 'Momo' ist eine Verneigung vor dem grössten Talent des Mädchens, das in den Ruinen eines Amphitheaters daheim ist – dem teilnehmenden Zuhören. Die Inszenierung ist gelebter, gewagter Widerstand gegen optimierte Zeitnutzung: ist ein blauer, nicht begradigter Fluss aus Traumfragmenten, Texteinsprengseln, theatralen Torheiten." Manchmal fühle sich das geradezu schmerzhaft langweilig an. "Manchmal aber reisst er uns mit."

Die Inszenierung sei eine Performance von selbsttätigen Hightech-Tools und von dem, was das Ritual Theater seit Anbeginn sakral mache: "die Ansprache unserer Sinne. Schmecken, tasten, riechen", so Daniele Muscionico in der NZZ (13.2.2022). "Selten war interaktives Theater so nahe wie hier und so sinnig bei seinen Kundinnen und Kunden. Man ist fasziniert und irritiert im selben."

Kommentare  
Momo, Zürich: Tief berührt
Ich bin immer noch tief berührt von dem was ich da erleben durfte. Und die 5 PerformerInnen waren Hammer. Was war das für eine atemberaubende Stimmung im Zuschauerraum? Never forget! Danke.
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