Man lacht und wundert sich

13. Februar 2022. Regisseur Ersan Mondtag inszeniert auch Opern – Carl Maria von Webers "Der Freischütz" am Staatstheater Kassel ist bereits seine vierte. Mit deren Rezeptionsgeschichte als deutscher Nationaloper allerdings rechnet Mondtag gründlich ab: Bei ihm treffen Kriegsversehrte auf Alptraumbilder.

Von Gerhard Preußer

Ersan Mondtag inszeniert Carl Maria von Webers Oper "Der Freischütz" © Birgit Hupfeld

13. Februar 2022. Zersägt wird der deutsche Wald, zerlegt wird die romantische Oper. Ein Höllenlärm dröhnt in der Wolfsschlucht. Es ist kein Orchester, es sind drei Kettensägen und ein Häcksler, die die Ohren betäuben. Riesige echte Fichtenstämme werden da traktiert. Ersan Mondtags Kasseler Inszenierung von Carl Maria von Webers "Freischütz" will nichts wissen von folkloristischem Patriotismus. Sie erzählt vom Krieg, von der Nachkriegszeit und vom Krieg der Menschen gegen die Natur.

In früheren Inszenierungen des "Freischütz" war der Krieg nur geahnter oder angedeuteter Untergrund. Entstanden ist die Oper etwa 1820, nach den Napoleonischen Kriegen, ihre Handlung vom Probeschuss mit den Freikugeln des Teufels wird in die Zeit kurz nach dem Dreißigjährigen Krieg datiert. Also haben alle Figuren die Kriegserfahrung in den Knochen.

In Mondtags Inszenierung ist nicht nur der Bösewicht Kaspar (Flippo Bettoschi) ein verrohter Ex-Soldat, sondern auch der Jägerbursche Max (Mirko Roschkowski) ein Kriegsopfer: ein drogensüchtiger von seinen Kriegserlebnissen traumatisierter Soldat in einem psychiatrischen Krankenhaus, überwacht von Ärzten und Pflegern. Auf der Bühne steht eine Art Jagdhaus mit der Aufschrift "outpost". Dahinter dräut hoch und dunkel der deutsche Wald (Bühne: Nina Peller) als gemalter Prospekt. Das Haus wird jedoch immer wieder gedreht und zeigt dann auf der Rückseite riesige halluzinogene Pilze und den nüchternen Raum eines Spitals.

Bizarre Phantasmen eines berauschten Gehirns

Noch bevor er einen Ton singt, stöhnt Max: "Ist denn schon wieder Krieg?", dann fällt ein Heer von Zombies (eigentlich die Bauern des Schützenvereins) über ihn her. Die Setzung der Regie, das ganze Geschehen als Projektion, als Rauscherlebnis in der Psychiatrie zu verstehen, stülpt die ganze Oper um.

Freischuetz 01 Birgit Hupfeld u Alles nur ein Fiebertraum? Filippo Bettoschi (Kaspar) und Mirko Roschkowski (Max) mit Statisterie (links) © Birgit Hupfeld

Samiel (Jonathan Stolze) ist kein Teufel mehr, sondern ein Arzt und Kommentator, der den Sänger:innen die gesprochenen Texte abnimmt und eifrig aus Lautréamonts "Gesängen des Maldoror" zitiert oder von den Gräueln der Verwüstung Magdeburgs 1631 berichtet. Librettotext und Bühnenhandlung laufen dabei parallel nebeneinanderher und berühren sich nur punktuell. Patient Max, im Psychatriekittel oder auf das Stationsbett festgeschnallt, singt "Mich umgarnen finstere Mächte". Man sieht sie auf der Bühne, die bunten bizarren Phantasmen eines berauschten Gehirns. Kostümbildnerin Teresa Vergho hat sich viel einfallen lassen für den Opernchor.

Samiel steigt mit Krallenfüßen aus der Versenkung hervor

Oder es wird gewitzelt. In Kaspars Trinklied singt er nicht "Ohne dies Trifolium gibt es kein Gaudium, sondern "ohne Laudanum" (die Droge). Wenn Agathe (Margarethe Fredheim) zuversichtlich singt "Das Auge ewig rein und klar, nimmt aller Wesen liebend wahr", glüht hinter ihr ein brennend roter Wolkenhimmel ohne Sonne und ein riesiges Auge sinkt herab. Annchen (Emma McNairy) singt von "verschämter Mädchen Art" und schlägt dabei drei lustvoll stöhnende Männer mit der Domina-Peitsche.

Freischuetz 02 Birgit Hupfeld u In den anregenden Pilzen: Jonathan Stolze (Samiel), Mirko Roschkowski (Max) und Filippo Bettoschi (Samiel) © Birgit Hupfeld

In diesem Halluzinationsszenarium fällt die Wolfsschluchtszene gar nicht mehr auf. Die Musik tobt mit Erinnerungsmotiven und Schreckensvariationen, Samiel steigt mit Krallenfüßen aus der Versenkung hervor, Max windet sich in einem bad trip auf dem Krankenbett.

Der Schluss kann nur eine Täuschung sein

Aber alle Figuren sind vorher schon verzerrt. Urvater Kuno ist nur "der alte Nazi", Fürst Ottokar ist "Reichsjägermeister" Göring und der Jägerchor hebt den Arm zu einer Art Hitlergruß. Mit der Rezeptionsgeschichte der Oper als deutscher Nationaloper rechnet Mondtag gründlich ab. Adornos Diktum, der "Freischütz" sei eine "Höllenvision aus Biedermeierminiaturen", wird gesteigert: eine Gegenwartsvision als Monumentalgemälde. Man lacht und wundert sich.

Aber eine Szene sticht heraus: Agathes Arie und Gebet "Leise, leise, fromme Weise". Da ist es völlig gleich, dass sie in einem absurden roten Kostüm steckt. Der Ton schwingt, die Begleitung trägt ihn weiter. Nichts als Musik und die Emotion der Erwartung. Da hat uns die Romantik wieder.

Freischuetz 05 Birgit Hupfeld u Mirko Rosckkowski (Mitte: Max), Jonathan Stolze (rechts: Samiel) und Mitglieder des Opernchors © Birgit Hupfeld

Musikalisch entscheidet sich der Abend schon daran, wie viel man beim ersten Crescendo der Ouvertüre wagt: Die Steigerung bleibt matt, den Akzenten fehlt die Schärfe, die die Doppelbödigkeit auch von Webers Musik deutlich machen würde. Nur Emma McNeil als Ännchen schert aus der Bravheit aus. Auch stimmlich ist sie kein Kammerzöfchen, sondern hat dramatische Wucht. Umso inniger kontrastiert sie mit dem immer sanft ansetzenden, dann aber weit ausklingenden Sopran Margarethe Fredheims.

In der Zwangsjacke

Der Schluss kann dann aber nur eine Täuschung sein. Das Happyend ist falsch. Max schießt mit einem Pistölchen in die Luft, Agathe und Kaspar fallen um. Aber da ist noch der Eremit, eine Art Eisbär, der alles regelt. Und dass er sich bei der Aufforderung zum Blick nach oben von H-dur mit einem Tritonus-Sprung nach C-Dur mogelt, fällt gar nicht weiter auf. Max kann da nur zusehen, er ist nun ganz in eine Zwangsjacke gefesselt. Die Bühne hebt sich und gibt den Blick frei auf eine altertümliche Irrenanstalt: Gefesselte Männer zucken mit irrem Blick und der Wärter holt den wirren Max dorthin zurück. Während oben der Jubel ausbricht, versinkt Max in der Versenkung. Im Irrenhaus endete schon eine der Vorgängerversionen von Weber/Kinds "Freischütz". Die romantische Nationaloper wird zurückgenommen zur Gegenwartsschauergeschichte.

 

Der Freischütz
Romantische Oper in drei Aufzügen von Carl Maria von Weber nach einem Libretto von Friedrich Kind
Musikalische Leitung: Mario Hartmuth, Regie: Ersan Mondtag, Bühne: Nina Peller, Kostüme: Teresa Vergho, Lichtdesign: Rainer Casper, Dramaturgie: Till Briegleb, Musikalische Assistenz und Nachdirigat: Peter Schedding, Chor: Marco Zeiser Celesti.
Mit: Mirko Roschkowski, Margarethe Fredheim, Filippo Bettoschi, Emma McNairy, Jonathan Stolze, Sam Taskinen, Ilyeol Park, Magnus Piontek; Staatsorchester Kassel, Opernchor des Staatstheaters Kassel.
Dauer: 3 Stunden 10 Minuten, eine Pause
Premiere am 12. Februar 2022

www.staatstheater-kassel.de

 

Kritikenrundschau

Ersan Mondtag ziehe den Holzhammer heraus, als müsse er endlich zeigen, was doch schon so oft zu sehen war, schreibt Judith von Sternburg in der Frankfurter Rundschau (12.2.2022). Dabei lasse sich der vom Sprechtheater kommende Mondtag nicht anmerken, dass er viel mit der Musik anfangen könne.

"So grell sich diese 'Freischütz'-Version gibt, so moralisch ist sie im Kern, was mit einer gewissen thematischen Überfrachtung einhergeht“, schreibt Georg Pepl von der Hessischen Niedersächsischen Allgemeinen (14.2.2022). Ebenso aufregend und vielschichtig sei Webers Musik. "Dirigent Mario Hartmuth und das Staatsorchester realisieren sie auf souveräne Weise." Die Solisten wie auch der Chor lebten das Regiekonzept mit tollem Einsatz aus.

Laut Michael Schäfer vom Göttinger Tageblatt (13.2.2022) geht Ersan Mondtag von einer falschen Voraussetzung aus. Nicht der Freischütz selbst sei, wie es im Programmheft heiße, "albern, unzeitgemäß und kitschig", sondern manche Inszenierung, die das allerorten düster hervorleuchtende Unheimliche dieses Stoffs verharmlose. "Wer aber das Unheimliche so ausufernd bebildert wie Mondtag läuft nicht selten Gefahr, ins unfreiwillig Komische abzurutschen. Die Wirkung von allgegenwärtigen Käuzchenrufen, dumpfem fernen Dröhnen und dem Schreien verängstigter Menschen nutzt sich rasch ab, das gemalte Flammeninferno, das den gesamten Hintergrund des Schlussbildes einnimmt, ist am Ende nur noch Farbe."

Stephan Mösch von der FAZ (15.2.2022) sah in Kassel "eine Mischung aus Otto Dix und der Rocky Horror Picture Show". Immer wieder blitzten Momente auf, in denen man merke, "wo der Abend hinwill, wo er auch hinkönnte, gestützt auf Adornos 'Freischütz'-Deutung in den 'Moments musicaux'“, schreibt der Kritiker. Das Hauptproblem sieht er allerdings darin, dass Mondtag sich zwar "mit den Ideen seines Teams füttern" lasse, diese aber als Regisseur nicht konsequent auswerte und verdichte. "So bleibt der schrillbunte Mix letztlich ganz brav und hermeneutisch bei der Sache – und bekommt sie doch nicht wirklich zu fassen." Aus dem Orchestergraben töne dabei "jene Biederkeit, die auf der Bühne unter allen Umständen vermieden werden soll".  

 

Kommentare  
Der Freischütz, Kassel: Hingehen!
Großartiger Abend. Hingehen!
(Nur schade, dass der Kritiker offensichtlich keine Meinung hat.)
Der Freischütz, Kassel: Meinung?
Ich vermisse auch eine Position des Kritikers
Der Freischütz, Kassel: Mutig, aber nachvollziehbar
Es gibt viele Details die in Kassel anregen und die Grundannahme, dass es sich um irre Träume handelt, überzeugt. Spanndes Musiktheater. Gleichzeitig ist mir beim Zusehen auch noch einmal deutlich geworden, wie kunstvoll und klug die "Musical"-Fassung "The Black Rider" ist. Beide Fassungen im Zusammenhang zu betrachten lohnt auch wieder einmal.
Freischütz, Kassel: Enttäuschend
Mondtag macht alle Fässer auf – Kriegstreiberei, Umweltzerstörung, Rassismus. Symbolisch dafür: Die Wolfsschlucht wird von Waldarbeitern gefällt und geschreddert, die apokalyptischen Reiter bringen den Plastikmüll auf die Bühne und versinken mit ihm, der Chor zeigt den Wolfsgruß der türkischen Rechtsextremisten. Leider stehen alle Themen nebeinander, es gelingt nicht, einen roten Faden zu erkennen. Das bloße dem Publikum/der Menschheit den Spiegel vorhalten durch den naseweisen Erzähler/Samiel/Therapeuten wirkt plump und greift zu kurz. Auch musikalisch leider nicht in Topform.

In Kassel sind es immer die Stücke mit der größten Vorfreude, die bei mir die größte Enttäuschung bringen.
Freischütz, Kassel: Niederknien
Jonathan Stolze ist zum Niederknien!
Der Freischütz, Kassel: Schrecklich
Ich finde die Neuinzenierungen schrecklich und auch die Bühnenbilder. Nicht zum anschauen
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