Neue Innerlichkeit

15. Februar 2022. Mit dem Tod des Regisseurs Hans Neuenfels ist auch das Verschwinden einer Spielhaltung sichtbar geworden. Auf die neuen Krisen und Fronten reagiert das Theater seither mit Abgesängen auf den großen Entfremdungszusammenhang. Führt von hier überhaupt noch ein Weg in die Zukunft?

Von Esther Slevogt

15. Februar 2022. Vor einer Woche starb der Regisseur Hans Neuenfels, auch so ein Held meiner Jugend. Ich mochte seine Inszenierungen vor allem der bildmächtigen Emotionalität wegen, mit der er sich Stoffe aneignete. Wilde Männerpoesie, dachte ich immer, manchmal nah am Kitsch und doch bewunderungswürdig in dem Mut, mit dem er diese Grenze immer wieder ignorierte. Wenn er beispielsweise Penthesilea aufbrausend einen Berg blutroter Rosen umarmen ließ. Autsch, dachte ich dann und war gleichzeitig beindruckt, dass ein Mann so ein Bild überhaupt wagte. Anfang der 1980er Jahre war das, im Berliner Schiller Theater, und Penthesilea wurde von Neuenfels' Frau Elisabeth Trissenaar gespielt, die in seinen Inszenierungen alle großen Frauenfiguren spielte: Iphigenie, Medea oder Regine aus Robert Musils "Die Schwärmer". Auch Neuenfels' andere Spieler:innen veräußerten auf virtuose Weise Innenwelten und rissen Seelenlandschaften auf: Hermann Treusch, Sabine Sinjen, Joachim Bliese, Elisabeth Schwarz oder Edgar M. Böhlke. Nur an der alten Schaubühne sind die Schauspieler:innen in jener Zeit noch tiefer (und, ja: wohl auch schamloser) in die Verästelungen der bürgerlichen Empfindsamkeit vorgedrungen. In den 1990er Jahren sind diese Spielweisen dann im Zeitraffer erodiert. 

Leere Landschaften

Wenn ich es heute bedenke, entsprachen diese Spielweisen der verschärften Innerlichkeit, die Neuenfels und seineNAC Illu Kolumne Slevogt 2x2 "Family" pflegten, den Verhältnissen im Kalten Krieg. Sie waren eigentlich der perfekte Abdruck dieser Verhältnisse in der westlichen Seele und Mentalität. Denn Neuenfels und seine Spieler:innen hatten sich in eine Richtung aufgemacht, in die (gefühlt) damals einzig Bewegung noch möglich war. Nach innen. Im Westen glaubte man ja in jenen Jahren tatsächlich, das Ende der Geschichte sei erreicht: Damals in den 1980er Jahren, als die beiden hochgerüsteten Systeme einander waffenstarrend gegenüber standen an der Grenze, die mitten durch Deutschland verlief. Und wie groß dann 1989 die Überraschung war, als sich die Geschichte mit Macht zurückmeldete! Da gerieten diese Spielweisen in die Krise. Denn plötzlich waren die von ihnen erzeugten Seelenlandschaften leer und ihre Träger:innen Hülsen einer untergegangenen Welt. Es ist sicher kein Zufall, dass Neuenfels sich in den 1990er Jahren immer stärker der Oper zugewandt hat.

Fallout des Kapitalismus

Rettung aus dem leerlaufenden Virtuosentum – das, wenn auch, quasi seitenverkehrt, auf veräußerlichende Weise ja auch im Osten (etwa am Deutschen Theater Berlin) gepflegt wurde, brachten damals die sich selbst kommentierenden Spieler:innen, wie sie Frank Castorf ins Rennen seiner Inszenierungen schickte: niemand hat hier je so getan, als würde er eine Figur verkörpern. Auch im Osten – wo man zwar immer an die Geschichte geglaubt hatte, die sich aber plötzlich nicht mehr an die Gesetze halten wollte, die der Marxismus einmal aufgestellt hatte – sind damals Spielweisen und Repräsenationsstile erodiert.

Noch weiter als Castorf ging dann René Pollesch mit seinen Diskursavataren, die nur noch vage Erinnerungen in sich zu tragen schienen, dass sie einmal Individuen gewesen waren oder aus so etwas wie Individuen hervorgegangen sein mussten. Darin konnte ich mich als Zuschauerin einmal gut wiederfinden und in der entäußerlichten Art, mit der ich auf die unauflösbaren Entfremdungszusammenhänge meiner Existenz zurückgeworfen wurde, so etwas wie temporäre Erlösung finden.

Aber auch das ist schon ziemlich lange her und inzwischen finde ich mich immer öfter mit dem Gedanken im Theater wieder: ok, ich mag vielleicht kein authentisches Individuum sein und alles, was meine Seele so an Emotionen produziert, ist nur ein Fallout des Kapitalismus, der mich formatierte. Bloß, was nützt mir das jetzt konkret? Ist das wirklich alles, das da in mir fühlt, denkt und zweifelt? Ist der Welt, wie sie inzwischen ist, mit diesen Fragestellungen überhaupt noch beizukommen? Wieder waffenstarrend und voller Kriegsgefahr, am Rand des Klimaabgrunds und mit immer fragiler werdende Demokratien überall. Ist dieses Theater, das immer weiter munter an Entfremdungszusammenhängen sich abarbeitet, statt Gestaltungsspielräume zu überprüfen, nicht inzwischen selbst auf eine Weise innerlich und irgendwie bürgerlich-eskapistisch geworden? Wenn es sich im Lamento verliert, statt der Zeit ins Steuer zu greifen.

 

Esther Slevogt ist Chefredakteurin und Mitgründerin von nachtkritik.de. In ihrer Kolumne Aus dem bürgerlichen Heldenleben untersucht sie: Was ist eigentlich mit der bürgerlichen Öffentlichkeit und ihren Repräsentationspraktiken passiert?

In ihrer letzten Kolumne beschäftigte sich Esther Slevogt mit Weihnachten als dem Fest der Norm.

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Kommentare  
Kolumne Slevogt: Psychokunsthistoriografie
Das ist natürlich eine sehr schöne, schonungslose und doch angenehm lässige Psychokunsthistoriografie anlässlich eines großen Toten. Frage mich einzig, wen Ms Slevogt konkret meint mit dem bürgerlichen Eskapismus, den sie in den zirkulären Selbstbefragungen zurecht und bestimmt dialektisch wiederkehren sieht. Redet Sie da einfach über die Volksbühne, die letztmals vor 10 oder 15 Jahren der Zeit ins Steuer griff, danach ja vorzugsweise sich selbst in den Schritt? Weil rundrum um die kulturpolitische Ruine sehe ich fast ausschließlich Theater, das irgendwem ins Steuer greifen will und darin seine Daseinsberechtigung sieht, das Kinn in der Luft dabei.
Kolumne Slevogt: lässig
Danke, dass Sie über Hans Neuenfels schreiben. Der war ganz schön groß. Und, wie ich immer fand, auch sehr lässig. So wie die Kolumne heute, die zwar sehr nachdenklich stimmt, aber cool und lässig bleibt. @Dark Vader, das Theater ist stark und aus den Ruinen werden Riesen wachsen, die sich aber nicht steuern lassen.
Kolumne Slevogt: Bastard-tauglich
Cool nachdenklich selbstkritisch und schön lässig intellektuell - gute Mischung, die Neuenfels vermutlich gefallen hätte, vermutlich Bastard-taugliche Eigenschaften nicht nur in Kunst. Scheiße nur, das sowas so selten (öffentlich sichtbar) ist...
Kolumne Slevogt: wichtiger Beitrag
liebe frau slevogt: ein sehr sehr wichtiger beitrag, finde ich!
genau diese frage ( bei Ihnen im letzten absatz ) stelle ich mir schon seit geraumer zeit.
Kolumne Slevogt: Polleschs neue Rolle
Polleschs Stücke bekommen vielleicht plötzlich eine andere Bedeutung, wenn sie vom Chef eines Theaters inszeniert werden und nicht mehr vom freien Künstler. Warum sollte man sich mit den Befindlichkeiten der Mächtigen auseinandersetzen oder gar identifizieren und ihnen die Verzweiflung darüber abnehmen, ausgeliefert zu sein? Wenn der Chef offensichtlich kein Interesse hat, an dem, was spätestens jetzt in seiner Macht läge, etwas zu ändern? Da wird das Schulterzucken, das vorher die allgemeine Ohnmacht und Ratlosigkeit gegenüber den Verhältnissen bedeutete, plötzlich zynisch… ein absichtliches Ignorieren der Gestaltungsspielräume.
Kolumne Slevogt: Zwischenwelt
"Aber auch das ist schon ziemlich lange her und inzwischen finde ich mich immer öfter mit dem Gedanken im Theater wieder: ok, ich mag vielleicht kein authentisches Individuum sein und alles, was meine Seele so an Emotionen produziert, ist nur ein Fallout des Kapitalismus, der mich formatierte. Bloß, was nützt mir das jetzt konkret? Ist das wirklich alles, das da in mir fühlt, denkt und zweifelt? Ist der Welt, wie sie inzwischen ist, mit diesen Fragestellungen überhaupt noch beizukommen? "
Frau Slevogt, haben Sie jemals ein Stück von Pollesch und Hinrichs gesehen? Da spürt jede/r fast ausschliesslich und mit selten geahnter Intensität genau die Bereiche, für die es keine Worte und schon gar keine Theorien gibt, eine ganz besondere eigentümliche Kraft. "Der Zeit ins Steuer zu greifen"- ist das nicht das, was Marx von der Kunst verlangte? Es klingt zunächst gut. Aber dann denkt man: ach, schon wieder in die Politikwelt abgetaucht, statt in die Zwischenwelt.
Kolumne Slevogt: authentisch
Aus meiner Sicht, werden in Pollesch's Arbeiten sehr wohl authentische Individuen vorgeführt.
Die der Schauspielerinnen! Das beinah immer gleiche Ensemble an wohl bekannten Stars der alten Volksbühne, die wir alle sehr gut kennen.
Mit ihren Marotten, Eigenheiten, den uns, wie bei einer Soap bekannten Charaktere.
Das sind, wie im Volkstheater, oder der Commedia dell Arte, uns vertrauten Figuren, die Wudkes, Angerers, Rois, deren Seelen auf der Bühne dann behaupten nur der 'Fallout des Kapitalismus würde sie formieren'.
Das ist 'intellektuellen stand up', der uns durch unsere Vertrautheit mit den Spielerinnen, am wohligen Feuer der 'Totalidentifikation' sitzen lässt. Sonst würde es doch niemanden Interessieren ..
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